Glaubensstufen-Modell von James Fowler: Welchen Nutzen bietet es Kirchenmitgliedern?

Beitrag von Guido Müller

Hast Du den Eindruck, Deine Art und Weise zu glauben verändert sich und würdest das gerne näher verstehen? Wunderst Du Dich, warum so viele Deiner 20-40 jährigen Glaubensgefährten den Glauben ihrer Kindheit hinterfragen? Fühlt es sich für Dich seltsam an, Menschen wegen ihrer „Glaubenskrise“ ohne tieferes Hinterfragen das Label „Übertreter/Zweifler“ anzuheften?  Möchtest Du die Beziehung zu Familienangehörigen verbessern, die „anders“ glauben als Du? Möchtest Du ein Kind optimal im Glauben fördern und fragst Dich, was besonders wichtig dabei ist? Dann geht es Dir nicht anders als vielen anderen Gläubigen, denen das Modell von James Fowler bereits weitergeholfen hat.
So häufig wurde ich bereits von anderen Glaubensgeschwistern und Teilnehmern der openfaith-Facebookgruppe  über Details zum Glaubensstufen-Modell von James Fowler gefragt, dass ich mir dachte, ich müsste dazu mal einen Beitrag posten. Das Modell bietet die Chance, Glaubensentwicklung besser verstehen und fördern zu können. Es hilft Verständnis unter Individuen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen herzustellen und Andere (auch sich selbst) in einer Glaubenskrise nicht unnötig zu verurteilen. Vielmehr kann die Phase als Entwicklungsschritt verstanden und gestaltet werden. Zunächst sollen in diesem Artikel die Phasen der Glaubensentwicklung vorgestellt – danach das Modell diskutiert werden.

Erklärung

Vorstufe: Undifferenzierter Glaube
(im Säuglingsalter)
  • Auf dieser Stufe entwickeln Kleinkinder einfaches Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen zum engsten Kreis seiner Mitmenschen (Mutter, Vater, Geschwister, etc.)
  • Die Qualität und Tiefe auf dieser Stufe bilden die Basis für alle späteren Entwicklungen des Glaubens für die Person.

1. Intuitiv-projektierter Glaube
(typisch für 3 – 7 Jahre)
  • In dieser Zeit formt das Kind sein Vorstellungsvermögen.
  • Grundlagen für Glauben werden gelegt
  • die Wirklichkeit ist nicht gut von der Vorstellungskraft oder Phantasie differenziert.
  • Das Kind ahmt spielerisch den Glauben seiner Bezugspersonen nach mit viel Phantasie, die aber auch in dunkle oder strenge Vorstellungen münden kann.
  • Kindererziehung, die auf negative Aspekte von Religion konzentriert ist – Teufel, Abgrenzung von der Welt, Hölle und Sünde, können großen Schaden in dem Kind anrichten, z.B. die Basis für eine autoritäre, polarisierende oder emotional geschwächte Persönlichkeiten legen.
2. Mythisch-wörtlicher Glaube
(typisch im Schulalter)
  • Kinder (oder Erwachsene, der sich noch auf dieser Stufe befinden) sind bereits in der Lage die Wirklichkeit von der Phantasie abzugrenzen.
  • Es existiert die Fähigkeit Glaubensobjekte bildhaft zu beschreiben (z.B. Gott ist ‘da oben im Himmel’, oder ‘Gott hat einen langen Bart und sieht aus wie der Weihnachtsmann’ usw.)
  • Die Geschichte wird zum Mittel, um der Wirklichkeit einen Wert zu geben, jedoch werden die Symbole in solchen Geschichten noch eindimensional gesehen und für wirklich gehalten.
  • Glaubensprinzipien, moralische Werte und Haltungen werden noch für allgemeinverbindlich gehalten; z.B. der Himmel und die Hölle werden als wirkliche Orte verstanden.
  • Individuen sind in dieser Phase eher fähig, sich in die Lage eines anderen Menschen hinein zu versetzen, aber die eigene Sicht von Gegenseitigkeit ist sehr buchstäblich, z.B. “wenn ich alle Regeln halte, wird Gott mir ein gutes Leben schenken.” oder “wenn ich bete, wird Gott meine Wünsche erfüllen.”
3. Synthetisch-konventioneller Glaube
(typisch im Jugendalter)
  • die meisten Menschen kommen in ihrer Glaubensentwicklung niemals über diese Ebene hinaus
  • Auf dieser Stufe wird Autorität ausserhalb des Selbst – in den Kirchenführern, in der Regierung, im sozialen Umfeld gesucht.
  • Alternative religiöse Konzepte werden eher ‘stillschweigend akzeptiert’, wie Fowler meint; die Person ist sich noch nicht voll bewusst einen bestimmten Grundsatz eigenständig zu glauben. Somit ist dieser Glaube ‘synthetisch’
  • Versuche, mit einer Person in dieser Stufe über akzeptierte Grundsätze zu diskutieren oder Glauben zu demystifizieren können als Gefahr gewertet werden.
  • Der Begriff ‘konventionell’ meint, dass Personen auf dieser Stufe das Bedürfnis haben, sich mit dem Glauben der Bezugsgruppe identifizieren, Konventionen hohe Wichtigkeit beimessen und sich als Teil dieser Gruppe fühlen möchten. Aus diesem Grund befinden sich die meisten Angehörigen traditioneller Kirchen in dieser Stufe. Tatsächlich stellt Fowler aus diesem Grund heraus, dass traditionelle Kirchen “am besten funktionieren”, wenn die Mehrheit ihrer Mitglieder auf Stufe drei bleiben.
  • Wenn eine Person anfängt zu verstehen, dass es Widersprüche zwischen manchen Quellen der Authorität (Generalautoritäten, Kardinäle/Konzile, Religionsführer) und dem orthodoxen Glauben der eigenen Gruppe gibt und bereit ist, darüber zu reflektieren, beginnt die Person, sich in Richtung Fowlers Stufe vier zu entwickeln.
4. Individuierend-reflektierter Glaube
(häufig nach dem Verlassen des Elternhauses)
  • Definiertsein durch eine Gruppe(nzugehörigkeit) wird durch Individualität und Eigenverantwortung abgelöst
  • Mut zur Subjektivität und Selbstverwirklichung
  • Die Erkenntnis eines eigenen Blickwinkels führt zu einer eigenen Weltanschauung.
  • Wenn diese Stufe des Glaubens in den 30ern und 40ern erreicht wird, ist es viel schwerer für die Person, sich anzupassen
  • In individuierend-reflektierendem Glauben wird das, was einst stillschweigend geglaubt wurde nun offen angesprochen. Wo die Person bislang nicht vollständig beschreiben konnte, wie sie zu ihrem Glauben gekommen ist, füllt sie nun ihren Glauben zum Einen mit der Freiheit, dass sie nun ihren Glauben reflektieren kann(!) und zum Anderen, mit der Last, ihren Glauben nun reflektieren zu müssen(!).
  • Die Verantwortung dafür kann die Person erschüttern und religiöse Gruppen und Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Stufe 4 Glaubenden werden immer versuchen die Person daran zu hindern ihren Glauben zu hinterfragen.
  • fordert, dass die Person bereit ist, ihre Anlehnung an externe Autorität zu brechen und diese Autorität in sich selbst zu finden: Formung eines “ausführenden Ich” (‘executive Ego’) – die Person ist nun eher in der Lage, sich auf sich selbst zu verlassen und benötigt keine externen Regeln mehr, die ihr Leben von aussen bestimmen.
  • Bedeutungen von Mythen und Geschichten (Jesus wird von Johannes dem Täufer getauft) von den Symbolen selbst (Ich werde getauft) getrennt. So sind die Geschichten selbst entmythologisiert – vollständige De-mystifizierung der Symbole kann in dieser Stufe zu Agnostizismus führen.
  • Der Verlust oder die De-mystifizierung der Symbole kann in manchen Fällen zu Trauer und Verlustgefühlen oder Schuldgefühlen führen und dieser Prozess kann bis zu sieben Jahre andauern. Aber im Gegensatz zum wörtlichen (buchstäblichen) Symbol erhält die Person in dieser Stufe die Fähigkeit, Vergleiche anzustellen: die Deutungen und Glaubensgrundsätze, die die Person hier behält oder erlangt, werden explizit (und auch authentischer, da sie aus der Person selber kommen).
  • Stärke: Fähigkeit zu kritischer Reflexion und der geistigen Kraft, die sich in der Bereitschaft der Person zeigt, sich Wahrheiten zu stellen, die neu sind und die dazu führen, dass die Person sich von alten Gedankenmustern verabschiedet und Schmerzen bewusst in Kauf zu nehmen bereit ist.
  • Schwäche: ein aussergewöhnliches Vertrauen in das Rationale und Bewusste – dadurch werden unbewusste Mächte ignoriert, die in der nächsten Stufe wichtiger werden.

5. Verbindender Glaube
(meist nicht vor der Lebensmitte)
  • eigene Weltsicht wird dialektisch mit der anderer und eigener unbewusster Welten verbunden.
  • Aus einem rationalen System wird eine neue Naivität, die auch das Mythische und Symbolische einbezieht.
  • Gegensätze von Denken und Erfahrung werden vereinigt.
  • Wenn die Person (nach Fowler) bereit ist, sich ‘den anarchischen und verwirrenden inneren Stimmen’ des Unbewussten Geistes zu stellen, wird er bereit für Stufe 5.
  • Eine solche Person dehnt seine Welt jenseits des “entweder/oder” Standpunktes der vorangegangenen Stufe aus und nimmt vermehrt eine “sowohl als auch” Orientierung an, wo die Antworten (und die Macht des rationalen Geistes diese zu erfassen) nicht so klar sind.
  • Menschen in dieser Stufe interagieren mit Menschen anderer Glaubensrichtungen (auch innerhalb der eigenen Religion) integrativ.
  • Die Erfahrungen und Glaubensgrundsätze des Anderen werden nicht mehr inhaltlich in Frage gestellt, sondern von ihnen profitiert! Die Person ist bereit, sich in Dialog mit dem Anderen ungeachtet seines Glaubens zu begeben und von seinen Erfahrungen in seinem Glauben Nutzen für den eigenen Glauben zu ziehen.
  • Um an diesen Punkt zu gelangen ist es notwendig zuerst die Stufe 4 durchlebt zu haben, in der die Symbole des eigenen Glaubens entmythologisiert worden sind und die Person sich von der buchstäblichen Bedeutung emanzipiert hat.
  • Es ist unmöglich, direkt von Stufe 3 auf Stufe 5 zu gelangen. Die Person auf Stufe 5 hat bereits ihre Symbole durch vernünftige Hinterfragung zerbrochen und bringt sich bewusst an den Punkt einer umfassenderen (methaphorischeren) Interpretation des Symbols (z.B. das Buch Mormon ist zwar nicht buchstäblich historisch, enthält jedoch anwendbare und nützliche spirituelle Grundsätze usw.)
  • Fowler nutzt hier das Beispiel einer “Frau T.”, die von seinem Forscherteam interviewt wurde, die ein deutliches Beispiel für diese Glaubensstufe gelten könnte: “…es ist egal, wie du das nennst. Ob du es Gott oder Jesus oder einen kosmischen Fluss oder Wirklichkeit oder Liebe nennst, es ist egal. Es ist da! Und was du direkt aus dieser Quelle lernst, teilt dich nicht in Glaubensbekenntnisse auf, die dich von deinem Nächsten trennen.” (Seite 192 im Englischen Original).
  • Damit ist die Person auf Stufe fünf in Fowlers System dabei zu lernen, wie sie sich wieder einem Glauben, vielleicht auch wieder der Glaubensrichtung, der die Person auf Stufe drei angehangen hat, (neu) verbinden kann, selbst wenn diese Glaubensrichtung ausserhalb der eigenen rationalen Kontrolle liegt.
  • Die Person kann die Teilwahrheiten anderer Religionen anerkennen oder sogar annehmen, ohne die eigene unbedingt zu verlassen oder zu gefährden (wie das auf Stufe vier noch durchaus möglich ist).
  • Die Person wird den Wert von Symbolen die in den Religionen eine Rolle spielen schätzen, ohne sich an ihren buchstäblichen Bedeutungen fest zu halten und fühlt sich einer Form von Gerechtigkeit verpflichtet, die die Grenzen von Religion, intellektuellen Fähigkeiten oder Glaubensstufe, Stamm, Klasse oder Nation überwindet.
  • Diese Anschauung der Welt ist sehr integrativ. Personen in Stufe 5 sind in einer sehr guten Position wunderbare Beiträge zur Gesellschaft zu leisten, lassen sich aber leider zu häufig aus Bequemlichkeit oder aus Sorge um das eigene Wohlergehen zu Passivität hinreissen oder sind vielleicht gelähmt durch die Schlucht zwischen der Wirklichkeit und ihrer eigenen Sicht der Wirklichkeit.

6. Universalisierender Glaube
(nur wenige, besonders religiöse Menschen)
  • Die Hingabe an universale Liebe und Gerechtigkeit mit einer friedvollen Vision von der Einheit der Welt erfüllt das ganze Leben. Freundschaft mit und Hingabe an Fremde und Fremdes (auch Religionen).
  • Die letzte Stufe in James Fowlers Stufen des menschlichen Glaubens ist die Stufe des universellen Glaubens, welche nur von sehr wenigen Menschen jemals erreicht wird. Diese Personen sind nicht einfach nur auf fanatisiert und auf der Stufe 2 oder 3 stecken geblieben. Sie haben die Symbole entmystifiziert und stützen sich moralisch und spirituell nicht auf externe Autorität.
  • Beispiele für Menschen, die diese Stufe erreicht haben sind Jesus, Paulus, Gandhi, Martin Luther King, Jr. und Mutter Theresa.
  • Personen auf dieser Stufe sind in der Lage das Aktivitäts/Inaktivitäts-Paradox der Stufe fünf zu überwinden und sind bereit, ihr eigenes Wohlergehen für diesen Zweck zu gefährden. Fowler verwendet den Begriff ‘subversiv’ für diese Gruppe von Menschen, weil ihr Beitrag sich so radikal von den Ansichten des Restes der Gesellschaft unterscheidet. Solche Menschen leben bereits so, als sei die Welt bereits so wie das Ideal (Himmelreich, usw.), das sie anstreben. Sie verpflichten sich einer Sache so vollständig und nachhaltig, dass sie ihre Sicherheit und Grundbedürfnisse dem Zweck nicht aus egoistischen Motiven, sondern aus reiner Identifikation mit der Sache opfern und weihen.

Nach James W. Fowler: Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn; Gütersloh 1991 (amerik. 1981).

Quellen: mormonstoriesgermany.org, freie-jahre.de

Diskussion von Fowlers Glaubensstufen-Modell

Zum besseren Verständnis
  1. Das Modell nimmt eine Vereinfachung komplexer Zusammenhänge vor. Somit kann es die komplexen Einzelheiten einer individuellen Glaubensentwicklung niemals vollständig abbilden.
  2. Fowlers Modell wertet nicht eine Stufe der Entwicklung über eine andere, sondern misst ihnen allen Wichtigkeit, Wert und Relevanz bei.
  3. Nach Fowler legt jede vorhergehende Stufe die Grundlage für die folgenden Stufen
  4. Fowlers Modell gilt für alle religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen, insbesondere jedoch ist es für das Verständnis religiöser Glaubensentwicklung kreiert worden
Chancen
  • Glaubenskrise kann als Teil eines natürlichen Kreislaufs spirituellen Wachstums begriffen werden, um Raum für neue Sichtweisen und einen erneuerten Glauben zu schaffen – das Modell verstärkt die Tendenz, alte Vorurteile gegenüber zweifelnden Mitgliedern abzulegen
  • Personen, die sich in Glaubensstufe drei befinden, müssen nicht mehr als „rückständig“ betrachtet werden, denn sie befinden sich laut Fowlers Modell in einer sehr wichtigen, relevanten Position.
  • Die wichtigen Zutaten in der Erziehung/Glaubenserziehung von Kindern und Jugendlichen können besser verstanden werden
Kritik
  • Niemand mag Schubladen, aber dadurch dass Fowler Entwicklungsstufen definiert, entsteht unvermeidlich die Gefahr eines Urteiles. Andere Menschen werden im schlimmsten Fall sofort in eine Stufe einsortiert und durch die Brille einer theoretischen Glaubensmodell-Stufe betrachtet. Die Gefahr, das Modell auf diese Art und Weise zu missbrauchen, existiert.
Fragen an Leser
  • Welche Erfahrungen hast Du mit dem Modell gehabt. Wobei konnte das Modell weiterhelfen?
  • Welche anderen Glaubensentwicklungsmodelle kennst Du und welche sind für Dich von Nutzen?
  • In welcher Glaubensentwicklungsstufe von Fowler würdest Du Dich selbst verorten?
  • Was kritisierst Du an dem Modell?
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Folkhard
Folkhard
6 Jahre her

Also, schöner Beitrag. Wie es scheint, ist die Glaubensentwicklung zum großen Teil altersabhängig. Man sagt auch, dass man mit dem Alter weiser wird ( hoffentlich). Die Prozesse, die ja è in den Menschen ablaufen zu Beschreiben, find ich klasse, zumal man dann nicht in die Selbstzweifel-Phase gerät und dann Asche auf sein Haupt schüttet, weil man gerade etwas in sich erlebt, dass einen aus der dritten Stufe herausholen will. > Die Dämonen verlieren ihre Macht, wenn man ihnen einen Namen gibt < , so oder ähnlich hab ich es mal gelesen.

Chris
Chris
5 Jahre her
Reply to  Folkhard

Das Alter ist nicht immer entscheident bei der Entwicklung. Es gibt Menschen, die bleiben in Stufe 2 oder 3, owbwohl sie schon über 20jahre sind. Das sind oft sehr einfache Menschen, die ein einfaches Weltbild brauchen, um sich nicht zu verlieren.

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