Renate Reading aus Bern wurde geboren in eine schicksalsgeprüfte Familie, die nach eindrucksvoller Bekehrungsgeschichte bereits in der dritten Generation mit der Kirche verbunden war. So wuchs Renate als Mitglied der Kirche auf und wurde zu einer Mormonin, die sich mit ganzem Herzen einbrachte. Obwohl sie sich stets sehr bemühte, eine gute Heilige der Letzten Tage zu sein, hatte sie in ihren jungen Jahren noch mit diversen Schwierigkeiten und Widersprüchen zu kämpfen – jedoch immer, ohne den Glauben ihrer Kindheit grundsätzlich in Frage zu stellen. Ihre Vollzeitmission leistete sie in Irland ab und erlebte dort eine strukturelle Unterordnung den männlichen Kollegen gegenüber.
Später studierte sie an der BYU, heiratete dort ihren heutigen Mann Bill und gestaltete den Start ihrer beruflichen Karriere erfolgreich in den USA, bis sie und Bill dann in die Schweiz zurückkehrten, wo sich später ihre Sicht auf die Kirche grundlegend änderte. Die Geschichte von Renate ist an vielen Stellen schmerzhaft, aber spendet auch viel Hoffnung!
Danke, dass Du offen bist, um uns an Deiner Geschichte teilhaben zu lassen!
Du bist neben diesem Interview hier auch im Gespräch mit weiteren Medien, unter Anderem mit Mormon Stories und der Neuen Züricher Zeitung. Was hat Dich nach all den Jahren nun dazu bewegt, Deine Geschichte erzählen zu wollen?
Das ist eine gute Frage. Ich habe gemerkt, dass es mir hilft, wenn andere ihre Geschichte erzählen. Ich habe mir viele interessante und bewegende Geschichten angehört auf Mormon Stories und jede hat mir etwas anderes gegeben: manchmal Mut, manchmal Hoffnung, manchmal das Gefühl, nicht alleine zu sein, manchmal Trost. Irgendeinmal genügte es mir nicht mehr, einfach nur andern zuzuhören und von ihrem Mut und ihrer Offenheit zu profitieren. Ich wollte etwas zurückgeben! Besonders jetzt, wo es mir langsam besser geht, möchte ich andern Hoffnung machen, dass es Licht gibt am Ende des Tunnels. Wenn ich mich in die Arena stelle und meine Wahrheit sage, dann gibt das andern vielleicht den Mut dasselbe zu tun. Vor allem da ich eine ganz gewöhnliche Frau bin, einfach eine wie sie.
Du erzählst sehr offen Deine Geschichte und inkludierst auch Erlebnisse mit Deinem Ehemann Bill. Ist Bill damit einverstanden dass Du Deine Geschichte auf diese Weise darlegst?
Ich habe mit Bill darüber gesprochen, dass ich die Geschichte offen erzählen möchte und er ist damit einverstanden.
Wann bist Du Mitglied geworden? Ist Deine Familie schon länger dabei?
Ich bin ein Mitglied der dritten Generation. Meine Grossmutter hat als erste das
Evangelium angenommen. Nun, meine Grossmutter, Olga Laubscher, ist in einer Grossfamilie im Kanton Basel aufgewachsen. Es waren 9 Kinder und sie waren arm aber einigermassen glücklich. Doch in ihrem 11. Lebensjahr hat sich alles geändert: Ihre Mutter ist gestorben, ihr Vater hat sich kurz darauf das Leben genommen und alle Kinder wurden verteilt. Sie wurde ein „Verdingkind“. Dies war eine sehr harte Zeit und diese hat sie nur dank ihrem Glauben an einen liebenden Gott überstanden. Als sie endlich alleine lebte und eine Lehre anfing als Damenschneiderin, da hörte sie einmal zufällig, wie ihr Pfarrer einem andern sagte, er glaube all die Dinge, die er am Sonntag in der Kanzel erzähle, selbst nicht. Sie war am Boden zerstört. Sie betete verzweifelt und bat Gott, ihr den Weg zu zeigen. Kurze Zeit später klopften die Missionare an ihre Tür und sie sah dies als Antwort auf ihr Gebet.
So wurde meine Großmutter eines der ersten Mitglieder in der Basel Gemeinde (ca. im Jahr 1918). Ihr damaliger Freund liess sich auch taufen und die beiden heirateten und bekamen einen Sohn, meinen Vater Reinhold. Die Ehe hielt jedoch nicht und meine Oma war schon bald alleinerziehende Mutter. Sie wollte aus ihrem Reinhold einen perfekten Sohn machen, liess ihn Violine spielen und zeigte ihn überall als perfekten Sohn vor. Leider liess sie ihn dabei aber nicht sich selbst sein und unterstützte ihn nicht, als er in der Schule Schwierigkeiten bekam und eine Klasse hätte wiederholen müssen. Ausserdem hatte sie viele verschiedenen Beziehungen, da sie versuchte, wieder einen Mann zu finden. Sie war insgesamt viermal verheiratet. Mein Vater heiratete sehr jung eine Jüdin, die sich aber für ihn taufen liess. Sie hatten zwei Söhne, doch die Ehe scheiterte und mein Vater verliess Basel. In Zürich heiratete er ca. 10 Jahre später wieder und dieses Mal hatte er zwei Töchter. Ein junges Kindermädchen, Liselotte, begann für sie zu arbeiten und mein Vater verliebte sich in sie und die zwei hatten eine Affäre. Vorher liess sie sich aber von meinem Vater in die Kirche taufen. Diese zweite Ehe scheiterte auch und Liselotte und mein Vater heirateten und hatten bald darauf das erste von drei Kindern, mich. Mein Vater wurde aber aus der Kirche ausgeschlossen für Ehebruch.
Meine Familie zog dann nach Winterthur, wo meine Mutter zur Kirche ging, mein Vater aber nicht. Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir nach Bern (in der Zwischenzeit hatte ich noch zwei Brüder). In Bern war die Gemeinde sehr offen und sie nahmen meine Eltern beide mit offenen Armen auf. Freundschaften wurden angeboten und mein Vater liess sich schliesslich wieder taufen und zwar rechtzeitig genug, dass er mich mit 8 Jahren taufen konnte. Als ich 10 Jahre alt war, liessen sich meine Eltern im Tempel siegeln und ich erinnere mich sehr gut daran. Ich konnte uns alle in den Spiegeln auf beiden Seiten sehen bis in die Unendlichkeit…!
Wie hast Du Deine weitere Jugend in der Kirche erlebt? An was
erinnerst Du Dich am meisten zurück. Was blieb positiv in Erinnerung und was weniger?
Ich war grundsätzlich gerne ein Mitglied der Kirche, ich kannte ja nichts anderes. Ich wurde gelehrt, dies sei die wahre wiederhergestellte Kirche von Jesus Christus und ich fühlte mich besonders, dass ich diese Wahrheit kannte.
Meine Familie war nicht sehr ideal, meine Eltern stritten viel, mein Vater war unbeständig, später sehr oft krank, manipulativ und volatil. Da boten mir die Kirche und die Menschen in unserer Gemeinde einen sicheren Hafen. Hier konnte ich sehen, wie gute, gesunde, stabile Familien aussahen! Ich sah Menschen, die erfolgreich waren, die ihr Leben im Griff hatten. Ich wollte sein wie sie!
Ich liebte die PV, vor allem meine PV Leiterin, die so liebevoll und herzlich war. Ich wäre gerne eine Ballerina geworden, aber da ich wählen musste zwischen Ballett oder PV am Mittwochnachmittag, da entschied ich mich für die PV (und hoffte, ich könnte dann mal im Leben danach Ballett lernen…). Ich ging gerne zur Kirche, betete immer, las schon sehr früh alle heiligen Schriften inklusive dem Alten Testament. Ich war eine brave Mormonin par excellence. Ich war auch die Hauptinitiatorin in unserer Familie was Familienabend, Familiengebet oder –studium betrifft. Ich wollte alles genau richtig machen!
Es macht den Eindruck, dass Du ein sehr strebsame und überzeugte Christin warst. Würdest Du sagen es fiel Dir leicht, ein Mitglied der Kirche zu sein?
In der Schule war es manchmal schwierig, weil ich „komisch“ war für andere besonders als Teenager. Ich trank nicht, ich rauchte nicht, ich ging jeden Sonntag zur Kirche, ich hörte mir keine unanständigen Witze an, etc. Ich durfte auch nicht mit ins Skilager, weil mein Vater den schlechten Einfluss fürchtete…
Man hielt mich für eine seltsame Frömmlerin, aber ich wurde auch respektiert dafür, dass ich meine Prinzipien hatte. Es wurden keine unanständigen Witze gemacht, wenn ich dabei war und man hatte bei Anlässen immer auch nicht- alkoholische Getränke für mich bereit. Ich schaffte es mit der Zeit, mir den Respekt bei andern zu verschaffen. Trotzdem fühlte ich mich immer als jemand, der einfach nicht dazugehört. In der Kirche gehörten wir eben auch nicht zu den Vorzeigefamilien: mein Vater war einmal ausgeschlossen gewesen, er war meistens krank – v.a. je älter ich wurde – und meine Mutter war sehr schüchtern und unsicher. Mein jüngster Bruder hatte auch Probleme, er nässte noch in den Teenagerjahren die Hosen und konnte nur eine Spezialschule besuchen.
All dies liess in mir den Wunsch aufkommen, allen zu beweisen, dass ich es trotz allem zu etwas bringen konnte. Ich wollte der bestmögliche Mensch sein, der ich nur sein konnte. Ich wollte Nephi sein, Joseph Smith, Moroni… nur eben, dies waren alles Männer… das beunruhigte mich. Wieso gab es keine starken Frauen, keine grossen gläubigen Frauen, keine Prophetinnen?
Welches Erlebnis aus Deiner Jugend hat Dich für Deinen späteren Werdegang noch besonders geprägt?
Mit 19 Jahren verliebte ich mich unsterblich in einen Schulkollegen aus meinem Gymnasium. Er zeigte Interesse an mir genauso wie ich war. Er kam mit zur Kirche, er stellte offene und interessierte Fragen. Er respektierte und schätzte mich, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Plötzlich schien ich doch jemand von Wert zu sein! Er war aus Spanien und nach der Matura sollte er zu seiner Familie nach Spanien zurückkehren – sie waren schon alle dahin gezogen, nur noch er schloss die Matura in der Schweiz ab. Ich wollte mit ihm gehen für ein paar Wochen, aber mein Bischof sagte mir, das sei gefährlich. Dies liess meinen Freund aufhorchen. Ist sie in den Fängen einer kontrollierenden Sekte? Ich
versuchte ihn davon zu überzeugen, dass dem nicht so war, aber die Fakten – dass ich nämlich nicht mitgehen durfte, obwohl ich schon 19 war – sprachen für sich.
Wir begannen, uns zu schreiben, lange Briefe über Gott, die Welt, Philosophie, Bücher, die wir lasen, Religion etc. Er las das Buch Mormon und schrieb sich 300 Fragen dazu heraus, darunter Fragen zu Stahl in Amerika zu der Zeit, Pferden, dem Rad… Ich las die Fragen gar nicht, war verletzt. Ich wollte, dass er betete und sich taufen liess.
Stattdessen beendete er unsere Beziehung, als er sah, wie stark ich in dieser Religion verwurzelt war, wie dogmatisch geprägt mein Denken war. Dies erschütterte mich zutiefst. Mein ganzes Fundament fiel zusammen. Aber ich hatte niemanden, der mir helfen konnte. Da war niemand, mit dem ich hätte über alles reden können. Ich litt also allein. Über ein Jahr lang litt ich, hinterfragte alles (sogar ob es einen Gott gibt), zweifelte wie nie zuvor in meinem Leben, aber ich hielt die Ungewissheit, die Leere, die Einsamkeit nicht aus und ich kehrte zurück zum einzigen was ich kannte: zurück in die Kirche. Ich entschied mich, auf Mission zu gehen.
Was kannst Du über Deine Mission berichten? Was hast Du dort Wichtiges für das Verständnis Deines späteren Weges erlebt?
Meine Mission war eine Flucht nach vorne. Ich stürzte mich mit voller Leidenschaft hinein. Ich wurde nach Irland berufen und dazu ging es zuerst ins MTC in London. Ich liebte meine Mission vom ersten Tag an. Ich hatte das Gefühl etwas immens Wichtiges zu tun: Menschen zu retten! Ich konnte die Diskussionen (wir hatten damals noch die 6 Diskussionen mit Flipcharts) schon vor dem MTC auswendig. Ich kannte die Schriften sehr gut, hatte sie so gut markiert, dass ich fast immer erste oder zweite wurde in „scripture chases“.
Ein Missionar verliebte sich in mich und verfolgte mich praktisch auf Schritt und Tritt (es gab nur 32 Missionare im MTC in London damals: 16 Sisters und 16 Elders). Es war mir ein Gräuel – warum konnte der mich nicht in Ruhe lassen? Die Frau des Missionspräsidenten nannte diese Gefühle des Elders für mich „fiery darts of the adversary“, schliesslich hatten wir versprochen „unser Herz zu verschliessen“. Trotzdem erlaubte ich dem Elder mir dann zu schreiben, obwohl ich seinen Heiratsantrag, den er mir am letzten Tag unserer Zeit im MTC im Schatten des London Tempels machte – und er verwies dabei auch auf eine Vision, die er von mir gehabt habe, bevor er überhaupt auf Mission gekommen sei und dass er genau wisse, dass Gott mich für ihn ausgewählt habe – abgewiesen hatte.
Ich liebte Irland, obwohl es schwierig war. Es gab nicht viele Taufen und meine erste Mitarbeiterin sagte mir, sie hätten überhaupt keine Untersucher und sie habe in ihren ganzen 9 Monaten noch keine einzige Taufe gehabt! Ich war von Anfang an fleissig und arbeitete hart, hielt mich an die Regeln so gut ich konnte (ich stellte immer den gesunden Menschenverstand und das höhere Gesetz über die Regeln) und innerhalb von zwei Wochen hatten wir 9 Untersucher! Wir hätten auch schon bald unsere erste Taufe gehabt, aber die Elders haben sie uns direkt vor der Nase weggeschnappt, weil sie meinten, dafür besser geeignet zu sein, immerhin waren sie ja die Zonenleiter… (es war die Ehefrau eines Mitglieds und von Anfang an klar, dass sie sich taufen lassen würde. Sie hatte uns für die Belehrung gefragt, aber die Elders luden sich ebenfalls ein und „übernahmen“ dann die Belehrung von da an.) Einer dieser Zonenleiter, Elder Nehas, sagte mir auch einmal, ich müsse unbedingt an die Vielehe, die Polygamie, glauben, als er von mir hörte, dass ich grosse Zweifel an diesem Prinzip hätte. Er gebot mir nach Hause zu gehen, Lehre und
Bündnisse 132 nochmals zu lesen, zu beten und ein Zeugnis von diesem heiligen Prinzip zu erhalten! Ich tat wie geheissen (mehr oder weniger): Ich las Lehre und Bündnisse 132 nochmals ganz genau und stellte fest, dass ich noch immer nicht an dieses Prinzip glaubte. Hier stand nur, dass EINIGE Männer mehrere Frauen hätten und nicht, dass ALLE Männer mehrere haben würden. Ausserdem, so argumentierte ich, als ich zu Elder Nehas zurückkehrte, hatte Gott ja nicht Adam und 20 Frauen geschaffen, sondern nur Adam und EVA, also nur eine Frau. Wenn es je eine Zeit gegeben hätte, wo er die Welt mit mehreren Frauen hätte bevölkern wollen, dann doch gleich am Anfang. Weiterhin habe es auch im Buch Mormon keine Polygamie gegeben und wenn es doch so ein ewiges Prinzip wäre, dann hätte es die dort bestimmt gegeben. Ergo: Polygamie war nur eine Ausnahmelösung für bestimmte Fälle und ganz bestimmt nicht ein ewiges Prinzip, das alle im Himmel befolgen müssten!
Elder Nehas war beeindruckt. Von da an hatten wir noch viele Diskussionen über die Schriften, selbst als er versetzt worden war, liess er mir immer wieder mal Fragen zu den Schriften zukommen, die wir dann diskutierten.
Es gibt sehr viele Erlebnisse von meiner Mission und es würde zu weit führen, sie alle hier aufzuzählen. An eines musste ich aber in den kommenden Jahren noch oft denken: Ein Mann sagte mir, er werde herausfinden, was mit dieser Kirche nicht stimme und er werde mir dann beweisen, dass sie nicht wahr sei. Ich sagte ihm voller Selbstvertrauen, er könne dies sehr wohl tun, denn er werde nichts finden! Die Kirche sei wahr, das Buch Mormon das Wort Gottes, Jesus das Oberhaupt der Kirche und wenn er je etwas finde, was das Gegenteil zeige, dann sei ich offen dafür und würde ich selbst die Kirche verlassen. Ich wolle in jedem Fall der Wahrheit folgen! So überzeugt war ich! So sicher war ich!
Wir haben so viele interessante Menschen belehrt, ich habe viele wunderbare Mitarbeiterinnen gehabt auf Mission, Freunde gewonnen, die ich bis heute noch habe.
Aber manchmal war es schwierig eine Schwester zu sein, das Gefühl zu bekommen, du seist eben nur zweitklassig. Ein Missionar sagte mir einmal, als ich bedauerte, dass ich nie unsere Untersucher taufen könne und dass ich nie auch Distriktleiter oder Zonenleiter sein könne, er würde sich bestimmt nichts sagen lassen von einer Schwester! Soweit komme es noch! Das war das Denken von vielen! Die Schwestern sind mehr zur Dekoration da,
während die Elders die wirkliche Arbeit leisten!
Wie äußerte sich das in Deiner Mission, dass die Schwestern – wie Du sagst – „Dekoration“ waren?
Es gab z.B. Schwestern, die kaum rausgingen, die Kleider nähten und gesellschaftliche Gespräche führten mit den Menschen. Ich sah mich aber auf genau der gleichen Stufe wie die Elders, was ich aber ständig unter Beweis stellen musste. Es gelang mir schliesslich den Ruf einer hartarbeitenden, fleissigen und erfolgreichen Missionarin zu erarbeiten.
Wenn ich heute zurückschaue, so kommt es mir vor, als wäre ich in einem Geschäft gewesen, in welchem ich noch so hart arbeiten konnte, eine Aufstiegschance hatte
ich nie. Und dabei wäre es doch eigentlich darum gegangen, Menschen zu Christus zu bringen? Aber es zählten die Zahlen, vor allem bei unserem zweiten Missionspräsidenten, der ein Geschäftsmann war: wie viele Diskussionen pro Woche, wie viele Untersucher, wie viele Taufen… und ich war eine derjenigen mit den besten Zahlen. Das sage ich heute nicht ohne ein gewisses Schamgefühl. Wieder versuchte ich mich zu beweisen, wieder würde es nicht reichen (konnte ja gar nicht reichen, denn ich war ja nur eine Schwester…).
Wie war es für Dich, in der Kirche zu „daten“ und wie hast Du dann Deinen Mann kennengelernt?
Wie bereits erwähnt habe ich meinen Mann Bill an der BYU kennengelernt. Während ich noch in der Schweiz lebte, war es für mich sehr schwierig in der Kirche zu daten. Es gab nur eine handvoll junger Männer in unserem Pfahl und von denen war ich eigentlich an den wenigsten interessiert. Mein erster Freund war schliesslich kein Mitglied wie oben erzählt. Ich wollte dieses schmerzvolle Erlebnis nie wiederholen! Darum beschloss ich noch auf meiner Mission an die BYU zu gehen, wo ich junge Männer in der Kirche kennenlernen würde. Mein Bischof in Bern versuchte damals mich davon abzuhalten, an die BYU zu gehen. Er sagte mir, der Prophet hätte gesagt, wir sollten Zion da aufbauen, wo wir leben und nicht nach Amerika gehen. Aber ich fragte ihn, ob er mit mir ausgehen wolle! (Er war verheiratet und hatte fünf Kinder…). Ich wollte ihm klarmachen, dass ich nicht noch einmal versuchen würde, ein Nichtmitglied zu daten und dabei Gefahr laufen, wieder so verletzt zu werden. Ich traf Bill schon in der ersten Woche an der BYU. Eine ehemalige Mitarbeiterin von mir, mit welcher ich zusammenwohnen würde für ein Semester, hatte Bill kennengelernt bei ihrer Arbeit im Tempel im Taufraum (beide gingen da jede Woche hin und beteiligten sich an Taufen für Verstorbene). Sie war ein Mal mit Bill ausgegangen und hatte ihm auch Bilder von ihrer Mission gezeigt, wo er ein Bild von mir sah und Interesse an mir bekundete. Also lud sie ihn ein zu ihrer Geburtstagsparty (er und sie sind beides Zwillinge und sie haben beide auch am gleichen Tag Geburtstag, wie es der Zufall will!) und so traf ich Bill zum ersten Mal an seinem Geburtstag! Es war nicht Liebe auf den ersten Blick aber sicherlich Interesse. Wir redeten sehr lange zusammen und ich war beeindruckt davon, wie klug und gebildet und belesen er war. Ausserdem beeindruckte mich, dass er ausser Englisch noch Spanisch (er war in Kolumbien gewesen auf Mission) und Deutsch sprach (hatte es in der Highschool gelernt und war als Begleiter mit einer Highschool Gruppe in Hamburg gewesen). Er wusste mehr über europäische Geschichte und Geographie als ich, was mir besonders positiv auffiel an diesem Abend. Wir trafen uns wieder und ich lernte auch seinen subtilen Humor, seinen absolut aufrichtigen und ehrlichen Charakter und sein Mitgefühl kennen und so ist es kaum erstaunlich, dass ich mich schliesslich verliebte.
Wie hat rückblickend Deine Missionzeit Deinen späteren Umgang mit der Kirche beeinflusst?
Meine Mission war eine Art “Rückbekehrung” von mir, eine Wieder-Verpflichtung meinerseits, in welcher ich mir selber versprach, dass ich mein ganzes Leben ganz dem Evangelium, dem Herrn und der Kirche widmen wollte. Ich war 100% drin! Ich war überzeugt! Ich war begeistert! Ich wollte wie Alma die Wahrheit von den Dächern rufen und allen sagen, wie herrlich Gott ist!
Meine einzigen Wermutstropfen waren meine Gefühle der Zweitklassigkeit als Frau, meine Abkehr von der Polygamie. Aber ich hatte mir alles zurechtgerückt im Kopf, dass es passte. An die Polygamie glaubte ich einfach nicht mehr, was intellektuell nicht sauber ist, um es mal gelinde auszudrücken, aber emotional der einzige Weg war, wie ich damit umgehen konnte. Und meine Rolle als Frau…nun, da hatte ich Hoffnung, dass sich die Dinge verändern und verbessern würden mit der Zeit. Ich war bereit, dafür zu kämpfen.
Was war der letzte Auslöser dafür, dass Du Dich dann endgültig von der Kirche abgewandt hast?
Die Zweifel kamen eigentlich erst viel später. Wir zogen nach unseren Abschlüssen (beide mit Master) zurück in die Schweiz. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich eigentlich eingelebt in den USA und ich wollte nicht mehr zurück. Ich war in einer guten Situation, hatte dort mein Zuhause, meine zwei Kinder, meine Karriere, die ich langsam aufbaute. Wenn wir zurück in die Schweiz gingen, würde das alles über den Haufen geworfen. Ich war nie eine Erwachsene in der Schweiz gewesen, hatte dort nie einen eigenen Haushalt geführt. Der Gedanke machte mir Angst. Aber Bill bestand darauf und das war eines der wenigen Male, in welchen er seine patriarchale Stellung ausnützte. Ich hatte meinem Mann zu gehorchen, so glaubte ich, sei die Botschaft im Tempel. Aber ich hatte unglaublich Mühe damit. Zwei Jahre lang war ich deprimiert in der Schweiz und kämpfte dagegen an. Aber wir diskutierten nie ernsthaft, ob wir zurückgehen sollten. Nie. Das ist auch mein Fehler. Ich glaubte, ich müsste mich einfach unterordnen. Meine Karriere kam abrupt zu einem Stop. Mein Masters war ungültig in der Schweiz, ich musste in einer Privatschule Englisch unterrichten, ein Job, der mir keinen Spass machte und mich sowohl unterforderte (intellektuell) und überforderte (die Schüler hatten keine Disziplin und waren sehr schwer zu bändigen). Wir hatten zwei weitere Kinder, bauten ein grosses Haus mit Garten, ich wurde FHV-Präsidentin und meine Zeit war so stark ausgelastet, dass ich kaum mehr Zeit hatte zum Nachdenken. Wir waren im ewigen Hamsterrad! Bill wurde schliesslich noch zum Zweigpräsidenten in Thun berufen, obwohl er schon einen sehr anspruchsvollen IT-Job hatte, bei welchem er oft Nachtschichten und Überstunden einlegen musste. Wir kamen immer mehr an den Rand der Überforderung, während wir im täglichen Überlebenskampf waren. Die Kirche war immer mehr nicht etwas, was uns Halt, Trost und Kraft gab, sondern uns zusätzlich überlastete und überforderte. Ich bat Bill, der inzwischen ernsthafte Schlafprobleme entwickelt hatte und gefährlich nahe an einem Burnout war, gewisse Dinge zurückzuschrauben, hinterfragte den Sinn jeder Sitzung etc. und er hatte zunehmend das Gefühl, ich unterstütze ihn nicht, während ich doch vor allem um seine Gesundheit besorgt war (ich versuchte so schon zu Hause alles von ihm fernzuhalten, übernahm alle Pflichten mit den Kindern und dem Haus meinerseits, um ihm den Rücken freizuhalten und kam so natürlich selbst immer mehr in eine Überforderung hinein). Als ob das alles nicht genug gewesen wäre, nahmen wir eine Pflegetochter auf, die unglaublich anstrengend und feindselig war und die fast drei Jahre bei uns lebte, bevor ich endlich nicht mehr konnte. Ich tat all dies, weil ich glaubte, ich müsste all dies tun, um ein guter Mensch zu sein. Und trotzdem war da immer das Gefühl, ich sei nicht genug. Es war nie genug. Wir nahmen noch eine zweite Pflegetochter auf, obwohl ich mir geschworen hatte, dies nie mehr zu tun. Beide kamen zu uns durch andere Mitglieder, beide Male konnte ich nicht nein sagen, weil man doch als gute Christin aushelfen sollte, wenn man konnte. Auch sie blieb drei Jahre, auch dieses Erlebnis war extrem auslaugend, schwierig und erschöpfend. Wenigstens war sie am Schluss nicht feindselig gegen uns, sondern fühlt sich noch immer als Teil unserer Familie. Es war auch Gutes aus dieser Situation gekommen (nebst dem, dass wir natürlich auch alle sehr viel gelernt haben). All die Jahre hatte ich darunter gelitten, dass meine Ambitionen so abrupt frustriert worden waren und nun fand ich endlich (trotz Pflegetöchter, trotz Arbeit und Stress) eine Möglichkeit zurück zur Schule zu gehen und einen Abschluss zu machen, der in der Schweiz gültig war (mein Master war endlich anerkannt worden und ich konnte an die Uni, um ein Diplom als anerkannte Gymnasiallehrerin zu machen). Es war wieder eine sehr grosse Herausforderung, aber ich war so glücklich, dies endlich in Angriff nehmen zu können. Bill war inzwischen auch entlassen als Zweigpräsident und das hatte auch schon einiges verbessert. Kaum schien es uns allen etwas leichter zu gehen, wurde meine Mutter mit Parkinson diagnostiziert (sie wohnte bei uns und half mit den Kindern) und kurz darauf auch mit Parkinson Demenz. Es begannen wieder ein paar sehr schwierige Jahre, bis sie schliesslich im Jahr 2014 verstarb.
Während all dieser Zeit hatte ich immer mehr das Gefühl, die Kirche gebe mir viel weniger als sie koste. Am Sonntag langweilte ich mich meistens in der Kirche (ich lernte nichts Neues dazu wie es schien) und am Nachmittag fühlte ich mich ausgelaugt und erschöpft. All diese Zweifel schlichen sich ein. Noahs Geschichte machte überhaupt keinen Sinn, jedenfalls nicht, wenn man sie wörtlich nahm. Oder Jona und der Wal. 2012 las ich einen Artikel im “New Yorker”, in welchem die Mormonen beschrieben wurden. Der Autor versuchte fair und offen zu sein und doch standen da einige Dinge, die mir sehr zu schaffen machten: Joseph Smith hatte mehr als eine Frau gehabt (nie zuvor gehört!), Brigham Young war evtl. mitverantwortlich für etwas, was hier Mountain Meadows Massacre genannt wurde und die Kirche wurde als Multimillionen Cooperation bezeichnet. All dies machte mir Bauchschmerzen. Der Autor fand auch, man müsse schon ziemlich naiv sein, die Grundlagen dieser Kirche zu glauben. Das berührte etwas in mir. Naiv? War ich naiv? Mit meinem erneuten Studium an der Uni kam auch mehr Zeit zum Nachdenken, mein kritisches Denken setzte wieder ein. Ich bemerkte immer mehr Dinge, die mich nachdenklich stimmten, die mir zu schaffen machten. Aber ich versuchte meine Zweifel zu bezweifeln (wie Elder Uchtdorf uns angewiesen hatte) und hielt mich an jedem Strohhalm fest, den ich fand.
Trotzdem hatte ich immer mehr fundamentale Zweifel… der ganze Plan der Erlösung klang einfach zu gut um wahr zu sein, zu sehr wie eine schöne Kindergeschichte. Warum gab es nur so wenige Mitglieder in der ganzen Welt? Warum gab es so viele Menschen, die unter so schrecklichen Umständen leben musste und zu welchem Zweck? Was war mit Evolution? Mit dem Alter der Erde? Mit den Dinosauriern? Das alles passte nicht zur Bibel, zur einfachen (eben doch naiven?) Geschichte, die ich gelehrt worden war…
Eines Tages, im Januar 2014, sass mein lieber Freund Juha, den ich auf Mission in Irland kennengelernt hatte und mit dem unsere ganze Familie befreundet war, seit er in Frankfurt lebte und für die Kirche arbeitete, bei uns in der Bibliothek und erzählte Bill und mir von den Essays, die die Kirche herausgegeben hatte, um ihre Geschichte zu “korrigieren”, um gewisse Fakten, die all die Jahre versteckt worden waren, zuzugeben. Er erzählte von Joseph Smiths Seherstein und dem Hut, mit welchem er tatsächlich das Buch Mormon “übersetzt” hatte anstatt mit goldenen Platten und dem Urim und Thummim. Er erzählte von der Tatsache, dass Joseph Smith nicht nur ein paar zusätzliche Frauen gehabt hatte sondern über 30, einige davon Teenager, andere schon mit andern Männern verheiratet. Er erzählte von den verschiedenen Versionen der ersten Vision und dass die ersten 12 Jahre gar niemand je von der ersten Vision gehört hatte! Ich sass da und es war, als hätte ein Blitz eingeschlagen: Ich wusste es, dachte ich, es ist alles nicht wahr! Das waren die Worte, die durch meinen Kopf gingen, unaufhörlich. Es war wie eine Epiphanie. In diesem Moment war dies sonnenklar für mich. Es ist alles ein Betrug gewesen, eben zu gut, um wahr zu sein.
Von diesem Moment an habe ich natürlich noch sehr viel gelesen, studiert, geforscht, aber nichts hat diese Überzeugung, die ich dort in diesem Moment hatte, wieder über den Haufen geworfen.
Ich würde gerne nochmal Bezug nehmen auf die HLT-Männer (Zonenleiter, Fast-Verlobter, etc.) die du nennst. Es muss dich sehr beschäftigt haben. Worin siehst du die Ursache für dieses Verhalten mancher Männer in der Kirche?
Nun ich nehme an, es ist Teil einer patriarchalen Struktur, so wie ich das sehe. Der Mann ist innerhalb des Systems bevorzugt, privilegiert… die Männer haben das Sagen auf allen Ebenen (Bischof, Pfahlpräsident, Distriktleiter, Zonenleiter, Missionspräsident, Siebziger, Apostel, Propheten). Das gibt auf einer sehr tiefliegenden Ebene die Idee, dass Gott mit Männern mehr kommuniziert, sie seine Kinder “erster Klasse” sind. Auch das Konzept der Vielehe spielt hier eine starke Rolle. In Korinther steht, die beiden werden “eins” sein: Wenn aber ein Mann auf der einen Seite steht und 35 Frauen auf der andern, so wäre doch eine Frau 1/35 eines Mannes…!
All dies ist nicht offen angesprochen sondern tief im kulturellen Bewusstsein und führt eben genau zu all diesen subtilen “Abwertungen”!
Wie gestaltet sich heute der Umgang mit Deinen früheren Freuden und Bekannten innerhalb der Kirche? Was hättest Du Dir anders gewünscht?
Das alles war natürlich sehr schwierig für mich und meine Familie. Ich war überzeugt, dass Bill die Dinge genauso sehen würde wie ich (es schien mir so sonnenklar). Aber dem war nicht so. Bill sah das überhaupt gar nicht so wie ich. Dies strapazierte unsere Ehe bis fast zum Bruch. Bill war wütend auf mich, fühlte sich betrogen, verraten. Er hatte das Gefühl, ich hätte all unsere Bündnisse willkürlich über Bord geworfen. Er verstand nicht, dass ich einen kompletten Glaubensverlust erlitten hatte, dem gegenüber ich machtlos war. Ich versuchte ein ganzes Jahr, weiter in der Kirche zu bleiben…für Bill, für meine Kinder, für die erweiterte Familie, dem Frieden zu liebe. Es gelang mir nicht. Ich kam mir vor wie eine Heuchlerin, eine Lügnerin, ich litt unglaublich. Ich hatte das Gefühl, ich müsste entweder meine geistige Gesundheit wählen oder meine Familie. Es schien eine unmögliche Wahl. Wie ich es drehte und wendete, ich konnte nur verlieren. Dies war wohl eines der schlimmsten Jahre meines Lebens! Ich wollte viele Male einfach nur tot sein. Damit das Leid endlich aufhörte. Am schlimmsten waren für mich die Vorwürfe, die Bill mir machte. Er glaubte, ich sei nun wohl auch kein guter Mensch mehr, das tat am meisten weh. Ohne Kirche, so glaubte er, habe er keine Garantie, dass ich ein moralischer Mensch sei und nicht wie mein Vater, meine Grossmutter. Das traf mich mitten im wundesten Punkt. War ich nur durch die Kirche ein guter Mensch? Ich versuchte mir zu helfen, damit ich nicht völlig verzweifelte…ich las Bücher, die mir halfen, begann zu meditieren, suchte mir neue Freunde, die mich unterstützten (Juha war eine unglaubliche Stütze in dieser Zeit – ich weiss nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte!) vor allem auch ausserhalb der Kirche. Alles was mir gut tat, schien Bill abzulehnen. Mein eigenes Heim war ein Minenfeld geworden. Und dann waren da meine Kinder? Sie wussten noch nichts und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihnen alles sagen sollte. Meine zwei ältesten Kinder hatten eine Tempelsieglung in genau diesem Jahr und ich wollte noch dabei sein, mein Tempelschein war noch genau bis November gültig und ich bin so glücklich zu sagen, dass ich bei beiden noch dabei war. Danach sagte ich es jedem Kind einzeln und sie alle waren natürlich am Boden zerstört. Sie waren wütend, enttäuscht, verletzt…alles zusammen. Und mir brach es das Herz sie so leiden zu sehen.
Die Gemeinde reagierte fast überhaupt nicht. Jahrelang war ich eine Stütze der Gemeinde gewesen (tatsächlich war Bill wieder Bischof und zwar schon seit einem Jahr, als ich meinen Glaubenskrise hatte), ich war jahrelange PV-Leiterin und FHV-Leiterin, die Menschen hatten zu mir aufgeschaut und wie ich glaubte, mich geschätzt und geliebt. Als ich dann nicht mehr kam, wurde es einfach still. Niemand rief mich an und fragte nach. Nichts. Eine einzige ältere Schwester rief mich mal an und fragte nach und wir hatten ein gutes Gespräch. Mit dem Bischof hatte ich gesprochen (ein einziges Mal) und er kannte all diese Probleme in der Kirchengeschichte und war mit mir einverstanden, dass Joseph Smith Dinge getan hatte, die unverzeihlich waren (wie er es selbst sagte), aber, so meinte er, er wolle die ewige Ehe mit seiner Frau und so halte er weiter fest am Evangelium. Diese Logik leuchtete mir nicht ein. Aber für ihn war das Thema erledigt (weil er wohl sehr gut verstand, warum ich nicht mehr kam). Alle anderen wollten es lieber nicht wissen und sagten mir das auch. Auch meine Kinder wollten nicht genau wissen, warum ich nicht mehr glaubte. Selbst Bill wollte nicht darüber reden. Das verletzte mich am meisten. Das niemand mich ernst genug zu nehmen schien, um mit mir darüber zu reden. Dass niemand wissen wollte, was mich denn genau zu diesem drastischen Entscheid gebracht hatte. Ich hatte das Gefühl weder respektiert noch gesehen zu werden und zwar von den Menschen, die mir am meisten bedeuteten.
Es gab aber auch Freundinnen, die anders waren und die mir zuhörten. Zwei Freundinnen insbesondere, die nichts in ihrem Verhalten mir gegenüber verändert haben und denen ich das unglaublich hoch anrechne. Sie haben mir gezeigt, was wahre Freundschaft ist.
Wie gestaltet Ihr heute in Eurer Familie und Ehe das Zusammenleben mit den Glaubensdifferenzen? Was habt Ihr da für Euch gelernt?
Es war nicht einfach für uns, einen Weg zu finden, bei welchem wir einander gegenseitig respektieren und leben lassen. Ein Weg wäre sicher gewesen, dass ich einfach nichts sage und alle andern so tun, als wäre alles in Ordnung. Aber das stimmte für mich nie! Ich möchte mich selbst sein können und das vor allem in meiner Familie! Das war also keine Option für mich.
So habe ich mir vorgenommen, ehrlich und offen zu sein ohne andere vor den Kopf zu stossen. Das war am Anfang eine echte Gratwanderung und ist nicht immer geglückt. Aber wenn ich etwas gesagt habe, was andere verletzt hat, dann durften sie mir auch Pushback geben. Ich trinke heute meinen Kaffee zu Hause und meine Familie akzeptiert das ohne Probleme. Wenn ich etwas kritisch sehe, dann sage ich das auch offen, aber ohne ständig kritisch zu sein. Daraus haben sich schon einige gute Gespräche ergeben und ich habe gemerkt, dass auch meine Kinder alle offener, liberaler, toleranter geworden sind! Natasha sagte sogar in einer ihrer PV-Klassen, die Kirche sei eben nicht für alle, ihre eigene Mutter sei glücklicher ohne! Das zeigte mir, dass sie heute meine Entscheidung respektiert und versteht. Ich habe meinen Kindern gezeigt, dass man auch ausserhalb der Kirche ein glückliches, erfülltes und moralisches Leben führen kann und das hat sie zu besseren Menschen gemacht!
Mein Verhältnis mit Bill ist auch viel besser geworden! Hier brauchte es vor allem auch eine andere Einstellung von mir. Ich habe also versucht, ihn zu verstehen und seine Entscheidung, in der Kirche zu bleiben, zu respektieren. Ich weiss, es gelingt mir nicht immer (und auch ihm nicht), aber wir haben beide gemerkt, dass uns unsere Beziehung viel wichtiger ist als unsere Differenzen! Bill hat realisiert, dass ich doch im Grunde die gleiche Person geblieben bin und seine Angst, dass ich ein schlechter Mensch werden könnte oder ihn verlassen, ist dadurch verschwunden. Wir haben eine Liste unserer Werte gemacht und erkannt, dass wir eigentlich noch immer das Gleiche wollen, schätzen und gut finden! Das war eine wichtige Erkenntnis!
Wir mussten unsere Ehe auf eine neue Grundlage stellen, eigentlich einen neuen Weg für uns beide finden. Das war zwar unglaublich schwierig, aber heute ist unsere Ehe wieder lebendiger und besser als seit vielen Jahren! Wir haben wieder Spass zusammen, entdecken einander neu und sind viel mehr auf Augenhöhe, als wir es je zuvor waren!
Du hast in unserem Vorgespräch erwähnt, dass Du heute Aspekte des Buddhismus für Dich interessant findest. Was genau ist das?
In der Zeit, als ich alleine war in meiner Glaubenskrise und an einem sehr dunklen Ort, habe ich einen Freund getroffen, der mir erzählt hat, wie sehr ihm Mediation geholfen hat. Ich war verzweifelt – ich hatte ja eben meine ganze spirituelle Grundlage verloren—und suchte nach irgendetwas, war mir Halt geben könnte. Ich fing also an zu meditieren. Am Anfang fiel mir das sehr schwer, aber ich merkte schnell, dass es mir gut tat. Also fing ich auch an, Bücher zu lesen. Ich las Bücher von Eckhart Tolle, dass wir dann glücklich sind, wenn wir ganz im Moment, ganz in der Gegenwart leben und aus unserem Kopfkino von Sorgen über die Zukunft und Ängsten aus der Vergangenheit ausbrechen. Das leuchtete mir ein. Ich begann dies umzusetzen und verspürte grossen Frieden. So las ich weiter, meditierte weiter und lernte viele neue Dinge, die mir halfen, mir neue Hoffnung gaben. Es waren nicht neue Lehren, ich bin keine Buddhistin geworden. Es waren einfache Dinge, wie zu lernen, meine Gedanken zu beobachten und zu merken, was ich da so alles zusammendenke an einem Tag. Ich wurde aufmerksamer . und dadurch gewann ich mehr Freiheit, die Freiheit auch anders zu denken, mein selbstverursachtes Leid zu beenden. Buddha hat gelehrt, dass der Mensch in seinem Kern gut ist und er aber durch sein Anhaften an falschen Ideen, sein Verlangen nach Dingen, die er nicht haben kann, seine Abneigung gegen das, was ist, verwirrt ist und sich selbst Leid schafft. Wie wahr das doch wahr! Genau das konnte ich bei mir und allen andern beobachten! Und aus diesem Kreislauf lässt sich ausbrechen. Ich wurde so viel liebevoller im Umgang mit mir selber und damit auch mit andern. Mir gefällt das Konzept, dass wir nicht alles Sünder sind sondern einfach verwirrt und darum leiden wir. Jetzt schaue ich mit Nachsicht und Liebe auf meine Verwirrung, meine Fehler und ermutige mich, es wieder und wieder besser zu tun, einfach weil ich dann weniger leide, wir alle weniger leiden. Meditation ist mir ein grosses Bedürfnis geworden, weil ich merke, wie gut sie mir tut: Ich bin ruhiger, ausgeglichener, aufmerksamer, lebe intensiver und bewusster.
An welche Lehren aus Deiner HLT-Zeit glaubst Du auch heute noch?
Wahrscheinlich mehr, als mir selbst bewusst ist.
Die Wichtigkeit der Familie ist vielleicht das Offensichtlichste. Familie ist nach wie vor ein zentraler Wert, den ich mir sicher immer bewahren werde. Familie, Freundschaft, Beziehungen sind die Dinge, die dieses Leben wirklich lebenswert machen.
Die Lehren von Jesus – die ja aber nicht spezifisch zum Mormonentum sind—die finde ich nach wie vor schön und hilfreich. Jesus ist für mich ein wunderbarer Lehrer und seine Worte sind aufbauend und inspirierend. Ich glaube daran, dass die Liebe das Grösste ist, dass sie uns alle verbindet und sie somit der einzige Weg ist. Ich glaube an Sanftmut, Gnade, Gerechtigkeit, Güte, Vergebung und Barmherzigkeit.
Mir gefällt auch die Idee, dass wir immer nach Wahrheit streben sollen, was ich sicherlich in der Mormonenkirche gelernt habe. „Die Herrlichkeit Gottes ist Intelligenz!“ … wie schön ist das doch! Wenn man mich fragt, was ich denn jetzt glaube, so würde ich sagen an Liebe und Wahrheit. Ich sehe mich als Suchende…suchend nach mehr Wahrheit und Weisheit (wobei mir die Metapher von Licht immer noch sehr gefällt)!
Ich liebe die Idee, dass wir Götter werden können. Wir sind – das meine heutige Vorstellung—das Göttliche. Ich glaube diese Idee nicht im wörtlichen Sinne (mit Planeten und so), sondern im übertragenen: Wenn wir das Beste in uns hervorholen, bewusst werden, nach Wahrheit und Liebe und Mitgefühl streben und leben, dann sind wir ein Ausdruck des Göttlichen!
Du hast den ersten Mormon Stories Workshop mit John Dehlin in Europa organisiert und teilweise in Deinem Zuhause in Bern gehostet. Was hat Dich dazu bewegt. Haben sich die Mühen aus Deiner Sicht gelohnt?
Irgendeinmal wurde der Schmerz, die Einsamkeit so gross, dass ich einfach jemanden brauchte, der mich wirklich versteht, der weiss, was ich durchmache und der mir vielleicht helfen kann, da wieder rauszukommen und evtl. auch meine Ehe zu retten. Meiner Meinung nach war dies John Dehlin, der ja so viel Erfahrung hat mit Menschen, die eine Glaubenskrise durchmachen und auch mit gemischten Ehepaaren. Ich beschloss ihn zu kontaktieren und mit ihm zu reden. Ich schrieb ihm also und bekam nach mehreren Versuchen dann endlich eine Antwort. Unser erstes Gespräch war mit einer schlechten Verbindung über Messenger, als ich in einem Restaurant draussen im Garten war und es langsam Nacht wurde. Er hörte mir zu und er verstand. Ich fühlte mich sofort gesehen. Er half mir Bills Seite besser zu verstehen. Meine Kinder. Die Beziehung zu allen begann sich langsam zu verbessern. Ich drückte den Wunsch aus, auch mal an so einem Workshop teilzunehmen, wie er sie anbot, aber war mir bewusst, dass dies hier nicht möglich wäre, da ich ja niemanden kannte, der in der gleichen Situation war wie ich. Er meinte, er käme auch für mich allein (was wohl mehr ein Ausdruck der Anteilnahme war als ernst gemeint). Trotzdem begann ich davon zu träumen. Ich traf Carol und ihre Gruppe (durch John arrangiert), dann traf ich Bret und Jolyn. Vielleicht konnten wir es schaffen?
Es war bis zum letzten Moment nicht einfach, aber ich bin so glücklich, dass wir dieses Event hatten. Ich habe so viele Menschen kennengelernt, denen es gleich geht wie mir. Seither habe ich mich nie mehr alleine gefühlt in dieser Situation. Ich denke, es hat Bills Perspektive sehr erweitert. Es war schön, John kennenzulernen und von seiner Erfahrung, seinen Einsichten und seinem Know-how zu profitieren. Es war schön Freundschaften zu schliessen. Und es gab mir die Möglichkeit, anderen zu helfen und das hat schliesslich am meisten bedeutet. Ich habe gemerkt, dass ich das noch mehr machen möchte. Dass dies mein neuer Zweck sein kann: andern zu helfen, die das gleiche durchmachen, wie ich es durchmachen musste und zu schauen, dass sie nicht alleine sind.
Was wäre Dir wichtig, das Deine Liebsten über Deine Erfahrungen in der Kirche verstehen würden – z.B. auch im Hinblick auf Deine weiteren Entscheidungen?
Mir wäre wichtig, dass sie verstehen, dass ich nicht aus einer Laune heraus gehandelt habe. Ich hoffe sie verstehen, dass ich immer nach Wahrheit gesucht habe und ihr gefolgt bin, da wo ich sie gefunden habe. Ich möchte, dass sie verstehen, warum ich zu den Schlüssen gekommen bin, zu denen ich gekommen bin, in dem sie sich auch mit diesen schwierigen Fakten unserer Kirchengeschichte auseinandersetzen und dann daraus ihre eigenen Schlüsse ziehen. Ich finde, es sollte keine Fakten geben, die man nicht wissen darf, weil sie Menschen zu kritischen Fragen bringen könnten. Die Wahrheit kann einer gründlichen Untersuchung standhalten. Die Wahrheit muss nichts fürchten.
Ich möchte daher auch, dass meine Liebsten und Freunde verstehen, dass man ein guter Mensch sein kann ohne die Kirche, dass unsere innere Moral aus uns selbst kommen kann und dass ich heute ein glücklicherer Mensch bin, als ich es je gewesen bin. Gleichzeitig möchte ich aber auch, dass sie wissen, dass ich ihren Weg, ihre Entscheidungen, respektiere und mir klar bin, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg finden und gehen muss. Was für mich richtig war, mag für meinen Sohn oder meine Tochter nicht richtig sein. Diese gegenseitige Toleranz und Offenheit ist mir besonders wichtig. Das war mir nicht von Anfang an möglich. Ich habe geglaubt, alle sollten zu den gleichen Schlüssen kommen, zu denen ich gekommen bin. Das Leben (und weise Freunde) haben mich gelehrt, dass dem nicht so ist.
Renate freut sich über Eure Zuschriften über ihren Facebook Account , oder wenn Ihr Eurer Feedback / einen Kommentar hinterlasst!
Es tut gut Erfahrungsberichte zu lesen, die sich über weite Strecken mit den eigenen Erfahrungen und Gedanken decken. Diene Erfahrung trägt dazu bei, dass ich meine Entscheidungen nicht immer und immer wieder hinterfragen muss, ob ich mich damals auch richtig entschieden habe, meinen Glauben an die Kirche HLT aufzugeben, da ich sehe, auch andere Menschen hatten und haben ähnliche Erfahrung und sind zu einem ähnlichen Ergebnis wie ich gekommen. Und es tut gut zu lesen, dass mit aufrichtigen Herzen und dem eigenen Verstand diese Erkenntnisse gewonnen wurden. Danke für deine Offenheit und deine damit verbundene Schilderung, Udo
Hi Udo, da schließe ich mich Dir an.
Und möchte hinzufügen, was für ein tolles Erlebnis es für mich war, mit Renate das Interview zu machen. Eine sehr bewegende Erfahrung. Renate hat übrigens angeboten, Menschen zu helfen, die nach dem Lesen ihrer Geschichte Kontakt aufnehmen wollen.
Liebe Renate!!
Es bewegt mich, von deinem/ eurem Kampf, auszusteigen, zu lesen. Oft spürte ich von deinem Kampf, ich wohne im selben Dorf. Doch es war ein anderer Weg als der meine… deshalb konntest du wohl meine dargebotene Hand nicht gebrauchen. Ich entschied mich im Jahr 2005 die Christen zu verlassen, das heisst ich stieg aus allen Religionen aus! Was ein sehr schwieriger, unverstandener, harter Weg war. Ich sah jede Gemeinde, Freikirche u Kirche von Innen!!! Freunde verlieren—- mich nicht beweisen. Ehrlich sein.
Zuletzt bleibt Gott! Und das genügt mir. !
Renate und Bill und euren allerliebsten 4 Kindern wünsche ich FRIEDEN, Liebe Toleranz u glückliche Zeiten!
Ich liebe euch alle, eure Annemarie
Liebe Annemarie, danke für Dein empathisches Feedback!
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