Sven: „Es ist gut, sich den Realitäten zu stellen und keine Angst vor eigenen Gedanken, Erfahrungen und dem Verstand zu haben – gerade weil diese von Gott gegeben sind.“

Sven erzählt hier ausführlich seine Glaubensreise, die voller Schwierigkeiten, aber auch voller Überraschungen war – und bislang für ihn ein Happy End hatte. Er ist seit seiner Kindheit Mitglied der Kirche gewesen, erlebte aber schon recht früh zahlreiche Dissonanzen und Widersprüche. Auf Mission in Süddeutschland wurde er unter anderem als Zonenleiter Zeuge der „Afrikaner-Taufen“-Phase, einer Zeit wo Deutschland nach seinen Angaben die höchsten Wachstumsraten der Kirche vorweisen konnte. Widersprüchliche Erlebnisse wie diese, die später für ihn in einer Loslösung von der Kirche mündeten, hatte er zahlreiche.
Der Abschied von seiner Religion war dennoch wie er sagt „psychisch ein extrem schmerzlicher Prozeß“, unter Anderem weil er stark verwurzelt im Glauben aufgewachsen ist und so viele Aspekte seines Lebens und seines Denkens davon beeinflusst waren.

Sven hat zwei Mal seine Frau geheiratet. Heute ist Sven Familienvater von zwei bezaubernden Kindern und als Teilhaber einer Firma im Raum München geschäftlich erfolgreich. Sein Vater ist Patriarch im Pfahl Heidelberg. Aufmerksam wurde ich auf Sven über einen Artikel im Netz, den ich vor vielen Jahren von ihm las, in dem er sagte: „Ich bin mir sicher, daß der Mensch vor allem sich selbst, einem Gott und auch anderen gegenüber ehrlich sein muss, sonst wird sein Leben am Ende nicht viel Wert sein.“ Das Interview wurde geführt von Guido Müller.

Vielen Dank Sven, dass Du Dir die Zeit nimmst, uns mehr von Dir und Deiner Glaubensreise zu erzählen. Im Gegensatz zu vielen anderen ehemaligen Mitgliedern, bist Du immer noch gerne im Gespräch mit HLTs jeglicher Couleur, was ich sehr angenehm finde. Woher kommt das bei Dir?

Die Frage wird mir öfter gestellt – da gibt es verschiedene Facetten. Auf der einen Seite bin ich durch mehrere Generationen Mitglieder in meiner Familie (mütterlicherseits) geprägt. Zudem war ich sehr aktiv bis ich ca. 30 Jahre alt war. Manche Mitglieder “schlittern” ja in die Inaktivität und lösen sich so langsam und verabschieden sich auch kulturell. Bei mir war es ein harter Schnitt. Das wäre aber noch kein Grund der Kirche verbunden zu bleiben. Bei uns zu Hause war Religion immer auch mit einer besonderen Art der Familienzusammengehörigkeit verbunden, auch mit “anders sein” auf was wir stolz waren – zudem vermittelten uns meine Eltern und meinen drei Geschwistern viel Liebe. Für manche bedeutet das Enge, für mich war es eher Geborgenheit. Wir fühlten uns trotz eher konservativer Kirche eher „modern“.
Warum ich nach meinem Austritt dann schon recht früh angefangen habe, zweifelnden Mitgliedern die auf mich zukamen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, hängt sicher damit zusammen, dass ich mich grundsätzlich als empathischen Menschen sehe – und meine zweijährig andauernde Glaubenskrise war von innerer Einsamkeit geprägt. Ich konnte mich eigentlich mit niemanden austauschen, außer glücklicherweise dann ein paar kritischen Geistern im Internet. Da wollte ich einfach für die Leute da sein und mich nicht “vom Acker machen”. Zudem gab es um 2000 herum wenige die sich als „Aussteiger“ outeten.
Anfangs war es sicher auch ein bisschen Missionsgeist, ich wollte meine neuen Erkenntnisse auch teilen. Aufgedrängt habe ich mich eher nicht, soweit ich mich erinnere. Ein Teil ist sicher auch “Sturheit” – meine Familie kommt ursprünglich aus Ostpreussen und Sachsen – man lässt sich da von seinen Wurzeln nicht einfach vertreiben – natürlich haben damals viele gemeint, dass ich nicht ablassen kann von der Kirche weil mein Zeugnis noch da ist. Aber es gibt Dinge die interessieren mich einfach über Jahre mit Leidenschaft, wie ein Hobby z. B. Totalitarismus, Islam, Politik usw.. Die Kirche wird in Teilen wie ein Stamm geführt (siehe auch patriarchalischer Segen). Selbst wenn dein Stamm und die Mechanismen dir schaden, fühlst du dich verbunden – und ich persönlich weigere mich meine Wurzeln zu verleugnen.

Gehen wir aber auch noch einmal zurück dahin, wo Deine Reise begonnen hat. Du sagst Du bist in der Kirche aufgewachsen. Wie ist Deine Familie eigentlich zum HLT-Glauben gekommen…?

Wir sind Mitglieder der 4. Generation. Meine Urgroßeltern waren damals echte Exoten in Sachsen! Es gibt in Annaberg-Buchholz bis heute einen regelrechten „mormonischen Familienclan“, der auch die DDR gut überlebt hat. Mein Vater (aus Baden) ist durch meine Mutter vor der Heirat konvertiert. In den 60er Jahren war die HLT-Kirche durchaus ein modernes- und pragmatisches Kirchenkonzept. Ich denke für meinen Vater hat sich das Leben durch der Kirche nachhaltig verbessert und ihm Sinn gegeben.

Du bist dann ja später auf Mission gegangen, was auf eine gewisse positive Haltung zur Kirche in der Jugend hindeutet. Was hat Dir während Deiner Jugend in der Kirche gefallen – was weniger?

Bis heute gefällt mir, dass die Gemeinschaft eine gewisse Zuverlässigkeit zeigt. Komme ich eine Gemeinde weiß ich ungefähr wie die Leute ticken und kann mich darauf verlassen. Das ist gleichzeitig auch eine Schwäche, weil eine Norm gefördert wird. Ich mochte die Tanzabende, die Aktivitäten – je nachdem wie die Gruppen zusammengestellt waren – in meiner Heimatgemeinde Karlsruhe hatten wir eine schöne Jugend-Gemeinschaft. Ich genoss auch die anregenden Gedanken zu den Themen der Religion und des Mensch-Seins. Sicherlich führte das manchmal auch zu Melancholie, aber bewahrte auch vor Oberflächlichkeit. Ich mochte und hasste zeitgleich die vielen Termine – auf der einen Seite hatte man Gelegenheit als Familie etwas zusammen zu unternehmen, auf der anderen Seite bedeutete es Verzicht. Ich musste z. B. Handball aufgeben, weil die Spiele Sonntags stattfanden. Der verkrampfte Umgang mit Sexualität bereitete mir große Probleme. Das Video von Spencer W. Kimball bezüglich Keuschheit war die Hölle für mich. Grundsätzlich fand ich es schwierig dem göttlichen Standard in den vielen Facetten, Regeln und Ratschlägen genüge zu leisten – „Schuld“ war ein ständiger Begleiter – was mit der Zeit psychisch anstrengend war. Ich war in den 80ern großer USA-Fan – das verband ich natürlich auch mit meiner Religion. The American Way of Life konnte ich so etwas ausleben. Ich versuchte mich spirituell weiterzuentwickeln. Ein gewichtiger Grund warum ich auf Mission ging: ich wollte mehr Zeit mit den Schriften, Dienen und mit dem Gebet verbringen.

Sven, was für ein Video von Kimball war das denn? Hab ich da irgendwas übersehen damals?

Dieses Video hier:

Nehme mal an nach dem Anschauen des Videos haben dann die Jugendlichen aus Angst ihre „Schwimmweste“ SEHR FEST gezurrt… was für den einen oder anderen bestimmt ungesund auch im Hinblick auf eine spätere Ehe war… kenne solche Fälle persönlich. In den 70ern und 80ern wurde ja so manche Keule losgelassen von Benson, Kimball, Packer und Co. Glaubst Du dass es gewissenhaftere Menschen grundsätzlich härter trifft bzgl. Schuldgefühlen bzw Unzulänglichkeitsgefühlen in der Kirche?

Mir hat das Video (war so etwa 14, 15 Jahre jung, ab Minute 9.45) damals wirklich Angst gemacht, ich habe das alles sehr ernst genommen. Die abgebrühteren Jugendlichen hatten es da vielleicht leichter.
Ich bin kein Pyschologe, aber ich weiß, dass ich manchmal im Nachhinein die Leute bewundert habe, die sich nicht so einen Kopf um alles machen – und einfach abhakten. Gewissenhafte Menschen müssen nicht unbedingt stärker betroffen sein. Ich glaube das hängt von vielen Faktoren ab, wie Persönlichkeit, Alter, Familie. Der eine verarbeitet anders als der andere. Bei einigen Menschen trifft Ideologie beispielsweise tief in die Seele ein, beim anderen eher pragmatisch oder prallt sogar ab. Manche glauben eher mystisch, spirituell, der andere eher rational. Insofern kann ich dir da keine abschließende Antwort geben.

Was fandest Du sonst noch gut während Deiner PV und Jugendzeit, also vor Mission? Noch irgendwelche Erinnerungen, die Du nicht missen möchtest und die Dich geprägt haben?

Als ich klein war besuchten wir eine sehr kleine Gemeinde mit ca. 30-40 Mitgliedern – wir Kinder waren da praktisch mehrere Jahre alleine. Als Kind macht man Vieles mit und findet es normal. Da man nur Erwachsene beobachten konnte, hatte das seinen ganz eigenen Reiz. Bis heute beobachte ich gerne Menschen ob jung oder alt und interpretiere sogar Lebenssituationen für sie :), die ich dann zur Belustigung meiner Verwandten erzähle. Meine Mutter unterrichtete uns lange zu Hause, manchmal nahmen Freunde am „Religionsunterricht“ teil – das war ganz schön. Trotzdem muss ich sagen, dass ich kaum Erinnerungen habe, die mich in Kirchentagen schwelgen lassen, obwohl ich eine tolle Kindheit hatte. Ich denke da aber mehr an schöne Gärten, Felder, Ausflüge mit der Familie, Urlaube, Weihnachtsfeste, meinen ersten Hund – und an unsere vielen Umzüge durch meine „nomadenhaften“ Eltern. In der Jugend war es sicher ein Vorteil, dass man früh lernte vor Menschen zu sprechen und sich zu erklären oder auch mit Leitfäden und den Schriften Themen zu erarbeiten. Allerdings kann es durchaus sein, dass die Erinnerung etwas „hakt“ vielleicht kommen später einmal Gedanken zurück, die man ins „Regal“ gelegt hat. Was Spiritualität angeht, hatte ich z. B. auf Jugendfahrten auch schöne Erlebnisse, wenn ich auch immer einer der letzten war von denen die Ihr Zeugnis gaben.

Wie kam es dann zu Deiner Entscheidung, auf Mission zu gehen?

Es gab mit 20 Jahren bei mir durchaus die Möglichkeit, dass ich mich gegen den Missionsdienst entschieden hätte. Es gab damals bereits eine Glaubenskrise, weil außerkirchliche Erfahrungen nicht mit der Kirche komplett zusammenpassten. Ich beschäftigte mich wie gesagt mit Kunst, weil ich Grafiker werden wollte – der Freundeskreis war divers. Meine Eltern nannten mich oft scherzhaft den „ungläubigen Thomas“, weil ich gerne und ausgiebig hinterfragte. Dann durfte ich 1988 zu meiner (nur 8 Jahre älteren Tante und Onkel) in die USA. Da tauchte ich dann ein paar Wochen in den amerikanischen Mormonismus ein. Wir machten eine tolle Tour von Spokane über Portland, LA, SF über las Vegas nach SLC. Lustigerweise hatte ich einmal die Gelegenheit mich zu entscheiden, auf einen Tanzabend der Kirche zu gehen oder zu einem College Ball. Ich entschied mich für die „dunkle Seite“, das Mädchen das mich mitschleppte war nun mal sehr hübsch. Übrigens kam ich bei einer Mitgliederfamilie auch das erste mal mit patriotischem Rassismus gegen Chinesen in Berührung, weil sich viele von denen gerade im Orange County in ehemaligen „weißen Gebieten“ ansiedelten – diese eigenartige Form von Christentum lief mir bei LDS-Amerikanern immer wieder über den Weg. Ich ignorierte das. Grundsätzlich fand ich durch die Reise jedoch mental zurück in meine Kirche. Und der Wunsch auf Mission zu gehen verstärkte sich. Meine Freunde und meinen Ausbilder stieß ich dann kurzfristig vor vollendete Tatsachen und ging dann nach der Rückkehr nach Deutschland recht schnell ins Missionsfeld.

Du hast einige interessante Erfahrungen auf Mission gehabt. Wie war es für Dich im MTC? In welchem MTC warst Du?

Ich war im MTC in London. Ich fand das sehr spannend in dem alten Herrenhaus. Mein Englisch war noch nicht ausgereift und ich bekam oft nicht alles mit. Ich bin ein Mensch der gerne lacht – und wir hatten einen unheimlich lustigen Missionar dabei (Elder Marc Rau, vielleicht bekannt) – nach einer musikalischen Aufführung bei dem wir den Beatles Song Yesterday im Missionsthema aufführten, mussten alle Missionare lachen. Das gab Ärger – am nächsten Tag gab uns der Missionspräsident (ein cowboyartiger Mensch) eine Lektion über „Control your laughing“. Ein Missionar äußerte Probleme mit seinem Zeugnis zu Jospeph Smith, daraufhin wurde er sehr hart zurechtgewiesen und seine Mission in Frage gestellt. Der Missionspräsident entschuldigte sich zwar am nächsten Tag, aber eine ehrliche Auseinandersetzung mit Themen war nicht mehr möglich – und wohl auch nicht vorgesehen im MTC. Im Prinzip wurden wir dann in einer Lehrstunde in ein Zeugnis gezwungen. Das lief so ab, dass wir alle die erste Vision gemeinsam lasen und gemeinsam beteten. Daraufhin war Totenstille und der Missionspräsident rief uns dazu auf die Hand zu halten, wenn wir den heiligen Geist spüren. Nach und nach ging eine Hand nach der anderen hoch – ich hob meine Hand ebenfalls – allerdings spürte ich nichts als peinliche Stille. Nur nach der Ansage vom Vortag hätte ich mich niemals getraut die Hand nicht zu heben (hätte ich wohl auch sonst nicht). Grundsätzlich hatte ich schon ein Problem mit den damals noch bestehenden Bündnissen mit Todesstrafenandrohung. Allerdings waren die Probleme kleiner als die Ängste, dass sie wirklich wahr gemacht werden könnten – Bündnis ist Bündnis und wenn alles wahr ist, ist alles wahr. Rundum waren die zwei Wochen zumindest genug um mich auf das Missionarsleben einzuschwören. Kritische Gedanken hatte ich anscheinend doch, weil ich noch heute in meinem Missionstagebuch noch lesen kann, dass ich die Furcht hatte zu einem Einheitsmenschen erzogen zu werden. Man kann es auch Indoktrination nennen. Es war einfach, diese Gedanken zu verdrängen, weil man sich ständig mit den anderen Missionaren verglich, die vielleicht belesener, würdiger oder selbstbewußter waren als man selbst. Wir sprachen übrigens im MTC wirklich auch kurz über das Thema Polygamie. Die Antwort, die ein Ratgeber des Missionpräsidenten gab war folgende: „Sehen sie mich an, ich habe xKinder und xxEnkel – ich stamme von einer polygamen Familie ab – soll ich damit hadern?“ dann folgte ein Zeugnis. Ich fand das irgendwie liebenswert damals.

Du hast in Süddeutschland gedient und beschreibst, dass Du auf Mission auch viel gelernt hast. Was bleibt Dir an positiven Erinnerungen?

Immerhin bin ich bald danach bald mit meiner Frau nach Bayern gezogen. Ich mochte die Region und die Menschen meiner Mission, die etwas rustikal und direkt in ihrer Kommunikation waren und Lebensfreude ausstrahlten. Zudem durfte ich die amerikanische (Army) Kultur kennen lernen. Auf Mission wurde mir auch klar, dass ich unter schwierigen Bedingungen ganz gut leben kann. Die Dienstprojekte für andere Menschen beim Roten Kreuz und in der Altenpflege machten mir viel Freude. Schön war natürlich, dass ich durch meinen Zuzug nach Bayern, viele Menschen die ich auf Mission kennen lernte wieder treffen konnte und sich Freundschaften entwickelten. Zudem hatte ich nach Mission ein erstarktes Selbstbewusstsein – früher war ich eher schüchtern, auf Mission konnte ich mir das nicht leisten.

Wir haben in der Einleitung schon die „Afrikaner-Taufen“-Phase in Deutschland erwähnt, was hatte es damit auf sich und inwieweit kamst Du damit direkt in Berührung?

In den 90er Jahren kamen ja viele Flüchtlinge aus Ghana und Nigeria. Viele wurden in Auffanglagern untergebracht, ähnlich wie heute. Wir wurden angewiesen genau diese Lager zu besuchen, weil diese Menschen geschickt wurden um das Evangelium zu empfangen, um es dann später in Afrika weiter aufzubauen. Wir sollten auf keinen Fall zu „stolz“ sein, um mit diesen Leuten zu reden. Insbesondere die Assistenten des Missionspräsidenten, die wirklich „coolen, gut aussehende Jungs“ waren, tauften in einem Rutsch ganze Gruppen von Asylanten, die sich sehr schnell bekehren ließen. Darüber wurden von den Assistenten etwas schwülstige Zeugnisse gegeben- und die Aufforderung genug Glauben aufzubringen, viele Menschen zu taufen, genau wie sie. Im Prinzip wurde das nur unter der Hand von den rebellischsten Missionaren kritisiert, ich hielt mir die Option offen, dass ich vielleicht auch einmal mit so vielen Taufen gesegnet werde, wenn ich mich nur anstrenge. Und ich war (für meine Verhältnisse) ein fleißiger und gewissenhafter Missionar. In der Zeit wurden wir öfter von Afrikanern angesprochen, die uns an der Kleidung erkannten – einer meinte er sei auch ein Mitglied „of the Church of the Blue Book“. Wir selbst unterrichteten auch in Asylantenheimen, allerdings nicht ganz so erfolgreich. Wir tauften eine Frau und hatten Kontakt zu einigen.
Wenn wir ehrlich gewesen wären, hätten wir allerdings bemerkt, dass wir diesen Menschen Hoffnung gaben vielleicht einmal durch die Kirche in die USA zu kommen oder schneller Asyl zu erhalten.
Ca 12 Monate meiner Mission arbeitete ich auf Army-Bases (laut Missionspräsident auch um mein englisch zu verbessern und wohl auch um meiner Deutschland Mission einen internationalen Touch zu verleihen, was mich sehr freute). Jedenfalls wurden wir da von einem Mitglied der im militärischen Secret Service arbeitete gewarnt, nicht mehr in die Asylantenheime zu gehen, weil da kriminelle Machenschaften an der Tagesordnung wären und wir uns unnötig in Gefahr begäben. Jedenfalls gingen die Taufen in der Mission München damals in die hunderte aufgrund der schnell getauften afrikanischen Asylanten. Das wurde natürlich von den deutschen Pfahlpräsidentschaften und Bischofschaften kritisch gesehen, weil sich Karteileichen ansammelten.

Du hast mal gesagt, dass eine HLT-Vollzeitmission eines der besten Verkaufstrainings ist, welches man sich für ein späteres Leben in der Geschäftswelt wünschen kann oder so ähnlich. Kannst Du das nochmal ausführen? Auf welchen Erfahrungen basiert diese Erkenntnis?

Es ist ja nicht so, dass die Kirche die jungen Leute einfach so von der Leine gelassen hätte. Jeden Tag nutzten wir den „Missioanary Guide“ und das Arbeitsbuch für Rollenspiele um zu unterrichten, zu überzeugen und Bedenken auszuräumen. Es gab einen mehrstufigen Gesprächsprozess und für viele „Bedenken“ der Untersucher, auch eine gute Antwort, die man üben und auswendig lernen sollte. Im Prinzip erkannte ich viele Mechanismen später in Verkaufstrainings wieder, die ich beruflich absolvierte.
Sicherlich gab es auch einen weiteren Aspekt: Durch die vielen Gespräche die man führte, entwickelt man eine gewisse Aufmerksamkeit für Menschen und Dialoge. Man schult sich selbst immer wieder in realer Aktion. Bei jedem Gespräch wird man besser, weil auch das Zuhören ein wichtiger Faktor ist. Ich war da muttersprachlich oft im Vorteil und wandelte die Gespräche auf genau die „Painpoints“ um, die mein Gegenüber auch bewegten. Für alles hatten wir eine Lösung parat, wenn diese letztendlich auch selten in eine Taufe mündete.
Zudem war der „Yellow Planner“ unser wichtiges Aufgaben- und Zielsetzungswerkzeug, der von Distriktsleitern wöchentlich abgefragt wurde: „Wieviele Untersucher haben sie diese Woche neu gewonnen?“, „Wieviele Diskussionen haben Sie die kommende Woche geplant?“, „Wie oft haben Sie die Taufaufforderung diese Woche ausgesprochen“, „Wieviele Taufen planen Sie im kommenden Monat?“ „Wie können wir sie unterstützen, dass ihr Untersucher sein Commitment sich taufen zu lassen erfüllt?“, „Was können Sie besser machen, dass der Herr sie den richtigen Menschen zuführt?“ usw. Im Verkaufs-Chargon nennt man sowas heute „Forecasting“ und „Pipeline Management“ – heutzutage wird noch „Nurturing“ betrieben, vielleicht auch etwas was die Kirche bereits eingeführt hat oder noch einführen wird, also Leute da abholen wo sie sich gerade befinden und mit weiteren Informationen versorgen, die sie dann in der richtigen „Kaufentscheidungsphase“ abholen… aber das nur spekulativ nebenbei – würde aber die sog. „Diskussionen“ variabler machen, wir waren noch an einen durchgängigen Gesprächsführungsprozess gebunden. Vielleicht besinnt man sich auch wieder mehr auf Spiritualität, aber ich verfolge das nicht mehr.

Welche sonstigen Erfahrungen auf Mission haben Dich auch im Hinblick auf spätere Entscheidungen noch geprägt?

Heute würde ich sagen, dass ich rein von den erlernten Fähigkeiten eine ganze Zeit lang beruflich profitiert habe, auch kirchlich – ich hatte schon eine Menge an theologischem Wissen und Erfahrung angesammelt, was mir half ein gläubiges motiviertes Mitglied zu sein.
Im Nachhinein ging ich doch einen etwas mechanischen Weg, privat wie beruflich. Im Prinzip glaubte ich, dass ich einer Bestimmung folge. Rückblickend würde ich behaupten, dass mein Weg aber nicht ganz zu meiner inneren Persönlichkeit passte. Die Werte waren teilweise eher angelernt. Durch das offene Infrage stellen von Thesen und Lehrsätzen, verbunden mit Erfahrung entwickelt sich ja erst der Charakter, der sich am besten zeigt, wenn man alleine ist – ohne dass ein Kirchenführer, die Eltern oder ein Gott einen beobachten. Insofern hat mir die Mission eine ganze Zeit lang geholfen, aber ich stieß irgendwann an Grenzen. Also bereits 6-8 Jahre nach Mission.

Das Buch „Already to Harvest“ hat mich sehr negativ geprägt, geschrieben von Hartman Rector Jr, wurde es von meinem ersten Missionspräsidenten empfohlen. Es war ein Hardcore-Bündnis-Buch! Die Theorie versprach, dass man mit der Hilfe Gottes viele, viele Menschen taufen könnte, wenn nur die richtigen Bündnisse mit Gott geschlossen würden- und Commitments einhält. Dieses Buch setzte mich und andere sehr unter Druck. Und da einige so viele Asylanten tauften und mit dem Buch in der Hand die Meetings bestritten, glaubten wir, jedenfalls ich, dass was dran sein könnte. Man konnte nur scheitern, weil Gott keinen Handel zulässt. Ich verstehe bis heute nicht, warum der MP diesen Nonsens unterstützte.

Was für geistige Erlebnisse hattest Du auf Mission?

Geistige Erlebnisse: Ich denke ich hatte auf Mission viele geistige Erlebnisse. Wenn man sich zwei Jahre im Werk des Herrn befindet, ist Spiritualität wichtig – man achtet auch darauf, denn oft befindet man sich in Zwiesprache mit Gott oder studiert die Schriften, führt ja viele religiöse Gespräche und gibt sein Zeugnis täglich. Zwei Jahre ist die einzige Aufgabe sich mit seinem Glauben zu befassen und ihn mit möglichst vielen Menschen zu teilen. Ich kann von den fünf, in der spontanen Erinnerung, eindrücklichsten Erlebnissen berichten. Man könnte nun fragen: „Geht´s auch ne Nummer kleiner?“ Aber nein, ich war 20, fühlte mich spätestens nach dem MTC berufen – und es war nun mal wie es war. Warum sollte sich die Führung des heiligen Geistes vom Wirken früherer Zeiten unterscheiden? Und klar, einige Erlebnisse sind ambivalent.

1. In Innsbruck, meiner Lieblingsstadt auf Mission hatte ich einen tollen Mitarbeiter (Companion), der ähnlich leidenschaftlicher Missionar war wie ich, aber ein vernünftiges Maß hielt. Man konnte fleißig arbeiten, aber er hatte auch Humor. Mit ihm klappte einfach alles, das Studieren, die Gebete, das Tür- zu Tür gehen und alles was dazu gehört. Es gab auch andere Missionare, die dieses Gleichgewicht nicht hatten und einer warf sogar mal die Bibel nach mir, ein anderer folgte mir wie ein Lemming, ein anderer war extrem ehrgeizig. Mit Elder Potts hatte ich den meisten Erfolg beim „Contacting“ – Tür zu Tür gehen – nur einmal rannte uns ein Bauer mit der Mistgabel hinterher, sonst lief es meistens sehr gut. Warum? Weil wir ein System entwickelt hatten, was durch den Heiligen Geist geleitet war. Wir nahmen die Führung des Geistes sehr sehr ernst. Praktisch sah das so aus, dass wir morgens mit einer Stadtkarte im Gebet entschieden, wo wir von Tür zu Tür gingen. Wir fuhren dann mit dem Fahrrad in die vorher bestimmte Gegend und wurden immer langsamer. Wenn wir beide das Gefühl hatten, dass die Straße diejenige ist, in der wir es versuchen sollten, stellten wir die Räder ab und gingen von Tür zu Tür. Wir hatten dann eine sehr produktive Zeit, die Türen öffneten sich ungewöhnlich oft und letztendlich fanden wir auch zwei Frauen, die sich taufen ließen. Wir hatten für diese Form des Kontaktierens einen Begriff, den ich leider vergessen habe. Wahrscheinlich „Spiritual Contacting“.

2. Ein anderes Mal (war allerdings in Nürnberg) belehrten wir eine sehr junge Frau, die Alkoholikerin war. Eines Tages hatten wir das Gefühl, dass wir ihr einen besonderen Segen geben sollten und ihr mehr oder weniger den Teufel austreiben. Wir bereiteten uns gut darauf vor und suchten in den Schriften nach Situationen, die damit zu tun hatten, Dämonen durch das Priestertum zu vertreiben. Um die Geschichte kurz zu machen: ich gab der Frau einen sich sehr mächtig anfühlenden Segen. Ich hatte Tränen in den Augen und hatte das Gefühl, dass der Heilige Geist durch mich wirkte. Als wir die Frau, die sich ja vorher bereit erklärt hatte (ihre Mutter war im Nebenzimmer bei offener Türe), den Segen anzunehmen, fragten wie sie sich fühlte, sagte sie, zu unserer Enttäuschung: „Tut mir leid, ich fühle gar nichts“.

3. In der Zeit in Innsbruck als ich mich geistig sehr demütig und ausgewogen fühlte, betete ich einmal sehr sehr lange um meine Beziehung zu Gott zu intensivieren, auch da hatte ich das Gefühl dass jemand mit mir sprach, allerdings war es ein nicht so richtig warmes Gefühl, sondern eher auch ein etwas beängstigendes.

4. Was den Krankensegen anging habe ich eher negative Erfahrungen gemacht. Da ich seit meiner Jugend an Migräne-Anfällen leide, die glücklicherweise nur so alle sechs Wochen auftraten, wollten mir natürlich fast alle Mitarbeiter helfen und gaben mir teils herzzerreißende Krankensegen. Leider hatte ich nach den „besten“ Segen die schlimmsten und am längsten andauernden Anfälle (heute hilft Triptan am besten und einige Verhaltensänderugen, falls mal jemand einen Tipp braucht).

5. An einer großen Missionarskonferenz sollten wir uns das Gesamtziel für Taufen setzen, dazu hatten wir eine phantastische und geistige Konferenz. Am Ende der Versammlungen sagte der Missionspräsident Burton, dass wir für das Jahr 1990 ein Ziel von 2.500 Taufen setzen sollten. Noch während des Gebet forderte er uns auf die Zahl durch Hände hochhalten zu bestätigen. Ich hatte ein unglaublich warmes Gefühl und fühlte mich einer ganz besonderen „Helden-Gruppe“ (wir wollten immer wie die Söhne Helamans sein) zugehörig. 1990 wurden in der Mission dann letztendlich 650 Menschen getauft. Natürlich gab es viele kleine geistige Erlebnisse in den Gemeinden, auf Missionarskonferenzen, bei Taufen und auch beim Studieren (ich habe ja auch bewusst alle Heiligen Schriften zwischendurch mehrmals komplett am Stück durchgelesen). Es war das tägliche Brot. Je gehorsamer und fleißiger man war um so mehr fühlte ich mich auch spirituell. Und man mag es nicht glauben, wenn man mich so heute hört, aber ich habe zwei Jahre wirklich mein Bestes gegeben – klar es geht immer noch mehr und so ganz zufrieden ist man mit sich nie, aber grundsätzlich finde ich schon, dass ich durchaus an meine Grenzen gegangen bin. Die Frage die sich stellt ist, ob eine zweijährige monothematische Zeit überhaupt irgend etwas mit dem realen Leben zu tun hat. Zudem habe ich ja eine Theorie zur Persönlichkeit Gottes, die sich meiner Ansicht nach aus der Prägung durch Eltern, der eigenen Persönlichkeit und Angelesenem/Gelerntem bildet.

Hast Du dann auch wie es sich für einen guten Missionar gehört, direkt nach Mission begonnen, eifrig (d)eine Frau zu suchen? Wie gestaltete sich Deine Partnersuche? Bist Du auf Tagungen gegangen?

Ja, mein Missionspräsident hat mir das weitere klassische Vorgehen beim letzten Gespräch nochmals nahe gelegt. Aber ich wollte den Weg auch genauso gehen. Es war mein Wunsch eine Familie zu gründen, die Hormone taten ihr übriges. Sicher war das etwas eigenartig am Anfang, weil ich noch so im durchgeplanten Missionarsmodus war. Aber ich bin dann auch auf die klassischen Veranstaltungen gegangen, meine Eltern waren mittlerweile in der Gemeinde Friedrichsdorf gelandet – auch die „Heiratsbörse“ Sylvestertagung im Pfahl Frankfurt tat ihr übriges. Im Prinzip war ich dann auch ein Jahr später verheiratet. Schlimm war sicherlich, dass es mir als zurückgekehrter Missionar etwas an Empathie fehlte. Denn eine junge Frau, die wir in Innsbruck belehrten stand noch in Briefkontakt mit mir – und sie hatte sich taufen lassen, obwohl ich schon weiter gezogen war. Sie lud ich auf die Sylvester-Tagung ein, weil ich wirklich dachte, dass sie da gute Kontakte knüpfen konnte. In der Zeit hatte ich mich allerdings schon in meine zukünftige Frau „verkuckt“ und ließ sie mehr oder weniger links stehen und kümmerte mich kaum um sie. Sie war sehr enttäuscht – das erfuhr ich beim tanzen. Noch heute zieht es mir den Magen zusammen, wenn ich darüber nachdenke, wie locker und kalt ich sie abservierte (ohne das zu bemerken). Das ist die gewisse Kühle, die sich entwickeln kann, wenn man zu stark an das Thema Bestimmung glaubt und eigentlich immer alles toll ist, wenn man „gut im Evangelium steht“. Ich war da sehr naiv und unerfahren – kann natürlich auch ohne Kirchenprägung passieren.

Bist Du, wie es so manchem Missionar ergeht, nach Mission in ein Loch gefallen was Kirche anbetrifft? Oder hat sich Deine Mission zunächst stärkend für Deine Orthodoxie erwiesen?

Ich bin nicht in ein Loch gefallen, ich hatte auch durch „Mormon-Connections“ schnell einen interessanten Job in der Software-Industrie (WordPerfect) und wurde in die Pfahlmissionspräsidentschaft berufen, da konnte ich „mein Missionswerk“ zunächst mal weiterführen. Ich war ganz glücklich und hatte ein schönes Leben!

WordPerfect ist doch eine Unternehmensmarke, die in Utah ihren Ursprung hat, oder?

Ja, das war ein großer Konkurrent von Microsoft damals. Einer der Gründer ist Bruce Bastian, Mormone und damals schon offen homosexuell lebend. Fand den Mann sehr beeindruckend – er rockte als Präsident große Wordperfect-Konferenzen auch Pop-musikalisch. Es gibt auch ein Mormon Stories Interview mit ihm. Der Geschäftsführer Dirk S. war auch Mitglied der Kirche. Ich war allerdings der letzte der über dieses Beziehungsgeflecht in die Firma kam, denke mal da waren 4 Mormonen von 100 Mitarbeitern angestellt in Eschborn.

Irgendwann hat sich Deine Meinung gegenüber der Kirche dann verändert. Wann und wodurch haben sich Deine Zweifel dann verstärkt, so dass Du bereit warst, auch größere Schritte weg von der Kirche zu machen. Häufig haben Mitglieder ja einen negativen „emotionalen Trigger“, der sie veranlasst, die Kirche dann auch offener zu untersuchen. Gab da noch weitere Trigger-Erlebnisse bei Dir Welche Rolle spielte das „Sexual Shaming“, das Du durch die beschriebenen Kimball-Filme, etc. erlebt hast?

Das Sexual Shaming kann ein unterbewusster Trigger gewesen sein, darüber habe ich aber noch nie wirklich nachgedacht. Für meine spätere Entwicklung war es auf jeden Fall wichtig, das Thema Sexualmoral etwas befreiter anzugehen.

Ein noch wichtigerer Einflussfaktor für meine Entwicklung weg von der Kirche war sicherlich mein Wegzug: Meine Eltern zogen nach Augsburg, aus beruflichen Gründen. Sprich, wir zogen mehr oder weniger meinen Eltern nach. Aber Augsburg war eine meiner Missionsgemeinden, wenn auch auf amerikanischer Seite. Und in mir war seit meiner Mission der Wunsch da, in die Region zurück zu kommen – so erschien mir das wie eine Art Bestimmung, dass meine Eltern ausgerechnet da landeten. Meine Frau war sowieso für alles offen und so suchte ich mir dann dort auch Job, wieder durch eine HLT-Beziehungen, allerdings aus meiner Missionszeit, und startete bei einem IT-Verlag im Anzeigenverkauf. Da ich das Handwerk nicht gelernt hatte, wechselte ich da aber schnell zu einem anderen Verlag nach München, der mir mit einem größeren Team Zeit gab das Mediengeschäft von der „Pike auf“ zu erlernen. Da ich ja zwischenzeitlich in München arbeitete, zogen wir nach 9 Monaten von Augsburg in den sog. „Speckgürtel“ von München, ca. 80 km weg von meinen Eltern – die allerdings dann auch bald wieder umzogen (wie ich schon erwähnte waren meine Eltern Nomaden was Umzüge betrifft). Wir kamen dann in eine der drei Münchner Gemeinden, vermutlich Gemeinde München 1 oder 3. Dort startete dann 1996 auch meine Gaubenskrise mit Volldampf (da waren wir 4 Jahre verheiratet), nach ca. einem Jahr in der Gemeinde. Meine letzten Berufungen waren dann 2. Ratgeber in der Bischofschaft und Sonntagschullehrer.

Ich glaube schon, dass die mehrere hundert Kilometer große räumliche Distanz von der Eltern/Schwiegereltern-Familie, die neuen Erfahrungen und eine wachsende Unabhängigkeit meine eigentliche Persönlichkeit wieder stärker zu Tage brachten.
Im Prinzip kamen die Zweifel, für die ich „Verdrängungslösungen“ in der Schublade hatte, wieder hoch. Ich bemerkte insbesondere einen kulturellen Unterschied zu den meisten aktiven Mitgliedern. Zum einen lernte ich viele Menschen außerhalb der Kirche kennen, die mit ihren Lebenswegen ebenso zufrieden waren – und die ich auch bewunderte. Zum anderen hatte ich schon das Gefühl, dass mein- oder unser Leben zu einseitig, fast langweilig verlief. Ich hatte in meinen 20ern noch eine unbändige Lebenslust in mir – und auch das Gefühl, dass etwas an mir vorbei gegangen ist. Mein Leben war so flach – dabei interessierte ich mich für interessante Menschen, für Kunst, Musik, Filme – für außergewöhnliche Dinge, die nicht so recht zum „Mormon Lifestyle“ passten. Es war nun mal so, dass ich auch mit Arthaus-Filmen – oder schwierigen Geschichten/Büchern etwas anfangen konnte – natürlich mochte ich auch den Film „The Sound of Music“ – aber auf Dauer langweilte mich Friede, Freude, Eierkuchen und Vorherbestimmung. Einige Erfahrungen fehlten mir, um mich selbst einordnen zu können.
Im großen und ganzen war ich auch ein recht selbstgerechter Typ auf dem beruflichen und kirchlichen Weg nach oben – oder in die Langeweile. Auch klappte die Familienplanung nicht so, wie gewünscht. Die Hauptdissonanzen würde ich schon als „systembedingt“ beschreiben – aber auch theologische Lehrsätze aus Leitfäden entsprachen nicht mehr meinem Weltbild – ich bekam innerliche Probleme diese Dinge in den sonntäglichen Klassen überzeugend zu lehren.

Dann freue ich mich sehr für Dich, dass Du keine hyper-intensive Lebenskrise brauchtest, um Deinen Glauben neu auszurichten! Hätte mir gewünscht, ich hätte meine Denkrichtung ebenfalls auf Basis der Logik besser bzw. gesünder für mich ausrichten können – und hätte nicht erst vor einem Scherbenhaufen stehen müssen.

Da bin ich auch ganz froh drum. Ich hatte damals auch (beruflich) genug Zeit um „im guten Stand“ alles 2 Jahre lang durchzudenken, zu beten und dann ruhig eine Entscheidung zu treffen. Ich kenne auch manche die diese Zeit nicht haben oder sie sich nicht nehmen – und dann länger „knabbern“ oder das Thema auch verdrängen. Ehrlich gesagt: Man kann sich das ja nicht immer aussuchen. 

Nun haben wir also erfahren, was in DIR ablief und welche Zweifel DIR kamen. Aber nun warst Du ja bereits verheiratet in der Kirche (ich nehme an im Tempel, oder?) und wie die meisten von uns wissen ist bei uns HLTs Religion und Familienbeziehung sehr eng miteinander verknüpft. Wie hat sich Deine HLT-Glaubens- bzw. Realitätskrise auf Eure Beziehung ausgewirkt. Wie ging das dann weiter?

Ich kann mich nicht mehr ganz genau erinnern. Aber grundsätzlich war es damals schon möglich mit Email-Listen und Internet-artigen amerikanischen Diensten sich mit Foren zum Thema Mormonen auseinanderzusetzen. Ich landete dann irgendwann in der Compuserve 1st Ward, die sich mit kritischen Themen auseinandersetzte – ich trat da noch als Apologet auf, hatte aber von vielen Themen keine wirkliche Ahnung, also gerade einige historische Themen waren mir neu. Jedenfalls fragte ich mich: „Wenn die Kirche nicht von Gott war, wie konnte sie sich dann so komplex entwickeln?“ Zu dieser Frage, die mein Gefühl logisch nicht rechtfertigen konnte, gab es dann da und in Büchern durchaus Antworten. Ich denke eine ganze Zeit verschwieg ich das Thema vor meiner Frau und kommunizierte nur ab- und zu nach den sonntäglichen Versammlungen, das mir etwas nicht passte oder ich den Sinn nicht mehr verstand. Irgendwann outete ich mich als kritischen Geist und gestand meiner Frau, dass ich nicht mehr sicher bin, ob das hier das richtige ist was wir tun. Häppchenweise erzählte ich ihr von schwierigen Themen – und zu meiner Überraschung war sie zwar zunächst geschockt, aber dann doch ganz offen für die Argumente und Gedanken. Sie erzählte mir dann auch, dass sie nicht gerne in den Tempel ging. Grundsätzlich ist sie nie so tief in die Themen eingestiegen wie ich, aber sie verband ihren Glauben eher mit Zwängen und Ängsten. Ich trat dann relativ schnell aus der Kirche aus und sie ging mit in die Inaktivität. Familiär und kulturell war es für sie selbstverständlich auch ein Super-Gau, da sie auch in dritter Generation Mitglied war. Es war natürlich für mich ganz gut, dass Sie kein Problem hatte von der Kirche Abstand zu nehmen – das bewahrte uns vor zusätzlichem Beziehungsstress. Unsere Beziehung war bis dahin intakt und das Leben wurde langsam spannend… vielleicht zu spannend.

Ok, was meinst Du mit „ vielleicht zu spannend“? Erzähl mal weiter. Und dann auch: wie kam es dann zu der Trennung? Hatte das was mit dem Thema Kirche zu tun?

Die Geschichte wurde ziemlich komplex, infantil, tragisch und letztendlich auch glücklich. Ich werde nicht alle Einzelheiten erzählen, aber ihr könnt gerne Fragen stellen und wenn es zu persönlich wird, antworte ich auch per PM. Natürlich hatte alles auch mit der Kirche zu tun. Allerdings glaube ich auch daran, dass bestimmt Charakterzüge angelegt sind und man weiß nie ob mir nicht ähnliches auch ohne die Kirche passiert wäre – mit „hätte, hätte Fahrradkette“ kann man sich zwar alles mögliche vorstellen, aber im Nachhinein weiß man nicht wirklich was passiert wäre wenn…
Nach meiner Mission bin ich nicht in ein Loch gefallen, nach meinem Austritt aus der Kirche schon, also auch schon vorher. Ich befand mich wie im luftleeren Raum, da ich selbst nicht mehr ganz beurteilen konnte, welche Werte nun angelernt- und welche von innen heraus verfügbar waren. Da ich immer viel mit der Computerindustrie zu tun hatte, fühlte ich zwar noch ein Betriebssystem, aber die Programme waren gelöscht. Was ich wusste war, dass das selbstständige Denken und in Frage stellen etwas war, was Gott nicht verurteilte. Da ich nun aber wusste, wie Menschen durch Glauben fehlgeleitet werden können (ich beschäftigte mich ja damals auch mit anderen Glaubenssystemen), stellte ich (wie so viele) auch das Thema Christentum in Frage. Denn wenn in kurzer Zeit eine Religionsgemeinschaft mit so einer starken und komplexen Theologie wie die der Mormonen entstehen konnte, dann war das beim Christentum auch möglich. Wenn alles nicht wahr ist, so war vielleicht auch meine Ehe keine Bestimmung. Wir hatten eine gute Ehe, aber ich langweilte mich im „Glücklichsein“. Die Bücher die ich gelesen hatte, die Filme die ich gesehen hatte, waren immer gespickt von Tiefe und Leidenschaft. Irgendwie hatte ich das in dieser Form nicht erlebt, alles ging zu glatt. Grundsätzlich dachte ich, dass es auf der anderen Seite des Gartens, vielleicht noch ein verborgenes zu mir besser passendes Leben gab. Das war natürlich eine sehr egoistische Phase. Ich war und bin immer noch ein Typ, der auch schon als aktiver Mormone keine Party ausließ, ich war auch (ohne Alkohol) immer der letzte. Da ich sehr oft auf Geschäftsreisen und Veranstaltungen war und Ende 20, Anfang 30 viele Leute sich in eher promisken Situationen wiederfinden, war es leicht etwas Spannung ins Leben zu bringen – und wenn auch nur in Gedanken. Dann plötzlich verliebte ich mich wie ein Teenager in eine andere Frau. Ich war damals nicht in der Lage meine Gefühle einzuordnen, handelte rein emotional- und trennte mich ziemlich knallhart von meiner Frau. Das Schlimme war, dass da unser Sohn gerade erst geboren war. Rational war vielleicht der Gedanke dass mein Sohn auf diese Weise keinen Trennungsschmerz erleben muss, weil er noch ein Baby war. Ich war dann zwei Jahre on/off mit dieser Frau zusammen und gerade als wir das Kinderzimmer für meinen Sohn einrichteten, den ich ja sehr regelmäßig sah, beendet ich auch mit dieser Frau die Beziehung, weil mir plötzlich klar wurde, dass ich diese „auch“ aus einer Art Verpflichtung heraus führte: „Also wegen ihr verließ ich Frau und Kind und bei ihr muss ich auch bleiben.“ Dann kam mir noch die glorreiche Idee, einen eigenen Verlag zu gründen, es sollte ein Stadtmagazin werden, welches dann in verschiedene andere Städte expandiert. Ich kündigte die beste Stellung, die ich je hatte – ich war damals Verlagsleiter mit einem Team von 20 Leuten. Mein Geschäftspartner und ich produzierten 14 Ausgaben des Münchner „Undercover Magazins“. Es waren dann wirklich mit die 14 spannendsten Monate meines Lebens, mit Höhen und vielen Tiefen (Stichwort: „Jugend nachholen mit 35“). Darüber könnte ich auch ein kleines Buch schreiben – alles endete jedenfalls in einem finanziellen Desaster. Psychisch war ich zum Glück einigermaßen stabil, das Urvertrauen hatten mir meine Eltern mitgegeben – auch konnte ich in schwierigen Zeiten meine positiven Erfahrungen abrufen. Aber ich fühlte zum ersten Mal, dass es nicht immer aufwärts gehen muss – ich spürte dass es Menschen gibt, die mit nur etwas weniger Serotonin im Gehirn, abstürzen könnten – ich fühlte, dass ich mich oft im Grenzbereich aufhielt – ein, zwei Schwierigkeiten mehr, ein gesundheitliches Problem und wer weiß was passiert wäre. Selbstverständlich half mir auch mein kleiner Sohn, stabil zu bleiben – denn er war mein ein und alles. Jedenfalls rettete mich ein Freund in eine vernünftige Arbeitsstelle, wieder im Medienbereich. Kurze Zeit später erhielt ich ein großartiges Angebot, wieder Verlagsleiter zu werden von einem ehemaligen Konkurrenten im Bereich Computerzeitschriften, das war ja mein Spezialgebiet. Meine Frau und ich hatten es nach 3 Jahren Trennung noch einmal probiert, wieder eine Beziehung einzugehen, das fühlte sich allerdings sehr fremd und unnätürlich an – es passte nichts zusammen. Natürlich hatte ich immer wieder an sie gedacht während unserer Trennung und wir sahen uns ja oft wegen unseres Sohnes. Zu ihrem 30 Geburtstag war ich eingeladen, sie kam z. B. auch zum Launch-Party meines Magazins. Um es kurz zu machen: Nach 4,5 Jahren Trennung und einer zwischendurch vollzogenen Scheidung auf die meine Frau bestand, waren wir beide dann auf die Hochzeit meiner Cousine eingeladen. Bei dieser Hochzeit „funkte“ es auf einmal wieder. Sie hatte in den 5 Jahren ihre eigenen Erfahrungen gemacht, hatte zwischendurch auch eine feste Beziehung und war ein gereifter Mensch, der mich anzog. Es war wirklich eigenartig, im Gegensatz zum ersten Versuch, verliebten wir uns wie neu. Nach einer Zeit überlegten wir wieder zusammenzuziehen, hatten jedoch Skrupel, da wir unserem Sohn keine „Wiedervereinigung“ antun wollten, wenn es nicht klappte. Er kannte ja nur die Trennungssituation und litt nicht darunter, weil wir das sehr gut organisiert hatten – er war 5 Jahre damals. Zufälligerweise hatte ich mir einen Kreuzbandriss beim Snowboarden zugefügt und wir sagten unserem Sohn, dass ich aufgrund der Verletzung bei seiner Mama für 3 Wochen wohnen muss. Der Rest ist Geschichte. Wir suchten uns eine neue Wohnung und hatten nochmals eine starken Kinderwunsch, den wir uns 3 Jahre später mit unserer Tochter erfüllten. Als sie ein Jahr war heirateten wir wieder und leben hoffentlich glücklich bis zum Ende.

Warum die Kirche eine Rolle dabei spielt, hat mehrere Gründe. Zum einen hätte mir meine Frau wahrscheinlich nie verziehen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass ich wegen des aus meiner Sicht nicht komplett selbstbestimmten früheren Lebens die Fehler machte. Sie wusste ja auch, dass wir damals auf Druck geheiratet hatten, sie war 19, ich 24 – wir wollten zusammen sein. Zum anderen sind wir natürlich sehr froh, dass wir uns in der Kirche kennengelernt hatten. Wir verfügen über ähnliche Werte und durch unsere alten, gemeinsamen und neu gewonnen Erfahrungen, wussten wir erst, was uns wirklich wichtig war. Ich habe auch erfahren dürfen, dass es sehr viele verschiedene Liebes- und Beziehungsgeschichten gibt, die nicht unbedingt in Schubladen passen. Wir beide wissen jetzt aus Erfahrung, dass der Trauschein nicht wichtig ist, wir hatten wunderschöne, unverheiratete Zeiten zusammen. Trotzdem wollten wir wieder „altmodisch geregelte Verhältnisse“ . Vielleicht wäre es gut gewesen einige Erfahrungen früher zu machen, um dann die notwendige Reife zu erlangen. Grundsätzlich denke ich, dass mein mangelndes Selbstbewusstsein, ein großes Problem war, was dafür sorgte, dass ich verletzende und verrückte Dinge tat. Aber am Ende muss man auch in der Lage sein sich selbst zu verzeihen, sonst geht es nicht weiter – und dazu gehören vielleicht auch ein paar Ausreden – aber hey, nobody is perfect! 

Erstmal Danke für die sehr offenherzige Schilderung! Es zeigt mir einmal mehr wie uns Glück und Erfüllung im Leben auf den unkonventionellsten und am wenigsten erwarteten Wegen zukommen kann! Es ist doch absolut beeindruckend, dass ihr beide in der Lage wart, Eure schmerzhaften Erfahrungen im Hinblick auf den Einfluss des Systems Kirche mit Abstand zu bewerten und Euch gegenseitig zu vergeben – auch im besten Interesse Eures Sohnes.

Ich erzähle die Geschichte recht offen, weil es auch einen Mythos (unter Exmormonen) gibt, zu glauben dass jeder der die Kirche verlässt, automatisch ein besserer Mensch wird. Das ist genau so ein Unsinn wie zu denken, dass alle die die Kirche verlassen, in den Abgrund stürzen. Das Leben ist wie es ist: unterschiedlich und abhängig von den Umständen und Möglichkeiten, die man sich besonders anfangs nicht aussucht. So denke ich z. B. nicht, dass „jeder“ in der Kirche keine verinnerlichen Werte in sich trägt, das war halt bei mir so, kommt aber auch bei anderen vor. Natürlich schaue ich manchmal etwas neidisch auf Lebensläufe, die vernünftiger ablaufen, weil mir zwischenzeitlich gefühlt immer 10 Jahre fehlen. Auf der anderen Seite akzeptiere ich auch den Typ in mir, der gerne mal eine Grenze überschreitet und letztendlich doch die Kurve kriegt… (vielleicht hab ich das auch durch die Kirche gelernt?!) Meine Frau ist da anders und bringt die richtige Balance in mein Leben und in die Familie. Insofern: Läuft es ganz gut #3xaufholzklopfen

Du bist also früher von der Kirche weggegangen als Deine Frau. Später als ihr wieder zusammengefunden habt ist sie dann auch nicht mehr hingegangen, korrekt? Wie kam es, dass sie nicht mehr hingehen wollte?

Da ich nicht zu sehr für meine Frau sprechen möchte, dazu nur ein paar kurze Comments: Wie ich schon oben beschrieb, hatte sie eine (wohl unbewusste) Abneigung gegen einige Aspekte der Kirche, die sie nun zunächst mal mit mir in Inaktivität abschütteln konnte. Natürlich spekulierten einige Mitglieder darauf, dass meine Frau nach der Trennung zurück in die Kirche kommen-, vielleicht wieder nach FFM ziehen und ggf. einen Priestertumsträger finden würde, da es mit einem ja Rebellen nicht geklappt hatte. Da hatten nur einige die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sie dachte nicht daran, in den Schoß der Kirche zurückzukehren und sie lebte einfach ihr eigenes, freies Leben, 430km entfernt vom „HLT Epizenmtrum“ – unter erschwerten Bedingungen als alleinerziehende Mutter.

Warum es dir nicht gereicht, inaktiv zu werden. Wieso hast du dich für den harten Schnitt entschieden und bist ausgetreten?

Damals (1998) war das schwarz/weiß-Denken sicherlich noch stärker ausgeprägt. Zudem hatte ich meine Gefühle durch logische Schlüsse gut verifiziert. Warum sollte ich so viel Zeit einer Organisation widmen, die mich offensichtlich belog? Warum sollte ich in fast masochistischer Manier ständig Lehrsätzen ausgeliefert sein, die ich nicht gut heißen konnte? Dieser Schnitt erschien mir als eine logische Konsequenz.
Zudem hatte ich mit meinem Vater eine harte Diskussion und er meinte, dass man „laue Mitglieder“ in der Kirche nicht brauchen konnte – „lustigerweise“ hatte ich auch von ihm das Buch von Hugo Stamm „Sekten“ erhalten, was mich sehr nachdenklich stimmte, fast wie ein „Fingerzeig von oben“. Ich fand es interessant, dass mein Vater dieses Buch augenscheinlich nur auf andere Glaubengemeinschaften bezog, also den Splitter im eigenen Auge der Organisation gar nicht wahrnahm. Mein Vater war jedoch nicht ausschlaggebend für meine Entscheidung, das war nur eine groteske Nebengeschichte. Meinen Eltern schrieb ich einen langen Brief zu meiner Entscheidung. Wie ich hörte wurde der Brief nur von meiner (schockierten) Mutter gelesen, die daraufhin kurzfristig gesundheitliche Probleme bekam (diese hatte sie bereits vorher, aber die Aufregung war ein Auslöser). Das würde ich heute anders und persönlicher machen. Vermutlich hat mein Vater meinen Brief bis heute nicht gelesen, was ich ihm auch mal vor der gesamten Familie an einer Silvesterfeier Jahre später vorwarf. Ich fand das respektlos, denke aber dass mein Vater wahrscheinlich den Schmerz aus Selbstschutz nicht fühlen wollte, was mittlerweile auch ok für mich ist. Es hat mich nur lange geärgert, weil man als Erwachsener auch irgendwann einmal ernst genommen werden will – und ich mir auch gar nicht vorstellen kann, dass wichtige Beweggründe und Gedanken meiner Kinder mich nicht interessieren könnten.

Du hast erzählt, dass Deine gesamte Familie doch stark in der Kirche aktiv ist – bestimmt hattest du auch einige HLT-Freunde. Wie hat Dein Umfeld darauf reagiert, als Du Dich abgewandt hast?

Verwirrt, geschockt, besorgt. Ganz normal also. Ich habe mich aber auch selbst zurückgezogen. Wenn man sich trennt, will man nicht ständig konfrontiert werden, es braucht Zeit. Die Gesprächsthemen in der Familie wurden weniger, da doch sehr viel über Leute aus der Kirche, Versammlungen und Bekannte gesprochen wurde. Ich hatte aber immer Freunde außerhalb der Kirche und vermisste die Gemeinden eher weniger. Es gab wenige Versuche Kontakt mit mir aufzunehmen, sicher auch weil mein Schnitt vielen sicher doch recht hart erschien. Dafür verbesserte sich mein Verhältnis zu meiner ein Jahr jüngere Schwester – sie war schon jahrelang inaktiv und wahrscheinlich nahm ich sie vorher einige Jahre nicht ernst genug. Das Verhältnis war nie schlecht, aber die „religiöse Sperre“ fiel endlich weg.

An welche Lehren und Prinzipien die Du in Deiner HLT-Zeit gelernt hast, glaubst Du heute noch?

Ich habe eher ein Lebensgefühl mitgenommen, keine Prinzipien. Alle Prinzipien, die sich mit dem Humanismus decken, blieben erhalten. Was mir am Humanismus gefällt ist, dass er ähnlich wie Wissenschaft, keine Ideologie darstellt, sich fortentwickelt und einen überschaubaren Raum nutzt, also Vergangenheit und Gegenwart. Natürlich wurde er auch missbraucht z. B. vom „realen Sozialismus“. Die Lehren aus der menschlichen Geschichte und die Beschäftigung mit philosophischen Ansätzen kann die Menschheit weiter bringen, weil damit Erkenntnisse abgespeichert werden, die mit Ursache und Wirkung zusammenhängen. Es ist ein theoretischer Ansatz, der relativ leicht in Praxis umgesetzt werden kann. Wenn man derzeit die Welt betrachtet, mag der Humanismus nicht in allen Teilen seine Wirksamkeit unter Beweis stellen. Das ist für mich aber kein Grund nicht weiter die Gesellschaft mit humanistischen Grundsätzen entwickeln zu lassen. Insofern bestehen meine „Richtlinien“ aus christlichen Ansätzen wie Nächstenliebe, Empathie und dem befolgen vernunftgemäßer Gesetze, die die Menschen in Frieden zusammenleben lassen. Wir wissen wohl alle, dass sich eine Gesellschaft irgendwo, unter Kompromissen in der Mitte wiederfinden muss, so dass sich möglichst viele in Zufriedenheit und einem erfüllten Leben wiederfinden. Dazu gehört Bildung, soziales Engagement und das Fördern von vielfältigen Talenten, individueller Lebensstile und Minderheitenschutz. Das sind eigentlich Binsenweisheiten, aber sorry – viel mehr habe ich da leider nicht zu bieten.  

Ich glaube aber nicht dass der Humanismus unbedingt ÜBER Religion und Spiritualität steht. Nur mal ein Beispiel: Mein jüngerer Bruder ist eher den asiatischen– und Natur-Religionen zugeneigt und recht spirituell unterwegs. Ich finde kaum eine meiner eher agnostischen Ansichten schlauer als seine – und mein Leben ist subjektiv gesehen nicht besser oder erfüllter als seins.

Was ich noch von der HLT mitnehme ist die Idee, einen Rahmen zu bieten, indem man seine persönliche Entwicklung entfalten kann. Das Thema Verantwortung, Vertrauen und tieferes Nachdenken sind Tugenden aus der Kirche, die ich als positiv ansehe – und die erlernt werden können. Der Schwerpunkt Familie ist mir immer noch wichtig und da bin ich manchmal auch noch ganz Mormone – nur sehe ich das mittlerweile etwas differenzierter. Jeder Mensch muss auch die Möglichkeit haben, etwaige Lasten seiner Familie abzuwerfen – wenn diese ihm schaden.“Du sollst deine Eltern ehren“ ist ein guter Ansatz, aber er kann auch schaden, wenn er über der eigenen Entwicklung steht.

Manchmal begegnet man dem Vorwurf, dass viele Ex-Mormonen sich gänzlich von Religion abwenden. Welchen Vorurteilen wurdest Du konfrontiert?

Es stimmt zwar, dass viele Exmormonen sich eher von der Religion abwenden. John Dehlin hat dazu ja irgendwo eine Statistik produziert. Es ist aber kein Selbstläufer. Die Rückschlüsse über Ex-Mormonen, die man heute häufig hört, sind meiner Ansicht nach etwas naiv und einseitig:
1. Muss sich die Kirche fragen lassen, warum es mit der Glaubwürdigkeit ihrer Religion so schlecht bestellt ist – dass es so einfach ist, sich danach vom Christentum abzuwenden?

2. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass es sich bei Exmormonen um eine homogene Gruppe handelt, die im Namen des Widersachers ein Ziel/Ideologie verfolgt. (da ist er womöglich wieder, der Zirkelschluss)

3. Aussteiger machen oft erstmal Pause, nicht wenige wenden sich später aber wieder der Spiritualität zu.

4. Der Atheismus ist so verschieden wie die Religionen, insofern ist Spekulation darüber albern. Der Humanismus verbietet zudem Religion nicht, er stellt sie in Frage.

Welchen Rat würdest du jemandem geben wollen, die/der am Beginn eine Glaubens- oder Realitätskrise steht. Was hat Dir geholfen, da gut durch zu kommen?

Mir hat komischerweise das Beten sehr geholfen. Zudem denke ich, dass es gut ist sich den Realitäten zu stellen (also sich selbst eingestehen, dass man ein Problem hat) und keine Angst vor seinem eigenen Gedanken, Erfahrungen und seinem Verstand haben – der ist ja „Gott gegeben“.
Meine Intuition konnte ich durch Recherchen begründen – das war mir schon wichtig, Denn wenn meine Intuition richtig war, dann musste die Kirche und die Theologie dahinter an einigen Punkten rational nachweisbare Schwächen aufzeigen. Hätte ich da nicht einige wichtige Erklärungen für mich erhalten, dann wäre meine Entscheidung doch auf etwas hölzernen Beinen gestanden. Also der Beweis dass die Erde keine Scheibe ist, ist für mich schon ein Thema. Aber da tickt auch jeder ein bisschen anders.
Ich habe einen Bekannten – den machen die sonntäglichen Besuche in der Kirche fast krank – er sagt er sein kein wirklich religiöser Mensch, ist bewusst inaktiv aber der Kirche noch verbunden. Er interessiert sich in keinster Weise für die historischen Probleme, Unzulänglichkeiten des Buches Mormon oder gar Systemkritik. In so einer „Twillight Zone“ könnte ich schlecht leben. Wenn der Glaube jedoch gut tut und man sich im Gleichgewicht befindet, spricht nichts dagegen ihm treu zu bleiben.

Ich hätte noch eine Ergänzung zu einem heiklem Thema, auch als Rat insbesondere für diejenigen die im Tempel waren und bereits stark zweifeln. Diejenigen, die sich im Glauben wohl fühlen, müssen jetzt nicht weiterlesen.
Ein starker Faktor, warum bei mir irgendwann eine innerliche Ruhe eingekehrt ist hat mit dem Glauben an Satan zu tun – ich bezeichne das absichtlich so provokativ. Denn wer eher orthodox theistisch glaubt, nimmt in der Regel auch an, dass Satan einen erheblichen Einfluss auf der Erde hat. Selbst wer nicht buchstäblich an die Person, sondern eine dunkle Macht denkt bewegt sich in diesem Muster – also im Spektrum Gut und Böse deren Quelle von besagten Personen ausgehen. Wer Angst hat, durch seine Gedanken oder andere Menschen und Lehren auf die „dunkle Seite“ gezogen zu werden, der sollte meiner Ansicht nach, wenn er schon am Glauben, Gott und der Welt zweifelt auch einmal in Betracht ziehen, dass es sich beim Glauben an Satan um einen raffinierten Zirkelschluss handelt. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob es im Tempel gesagt wird oder zur kulturellen Lehre gehört, aber demnach besteht eine perfide Taktik Luzifers u. a. darin, dass er die Menschen glauben macht, dass es ihn nicht gibt. Luzifer gewinnt also an Macht, selbst wenn wir ihn leugnen. Denn dadurch wird Gottes Plan in Frage gestellt. Wie gesagt, ein Zirkelschluss aus dem es kein Entrinnen gibt. 
Ich kann nur jedem raten, der während seiner Zweifel von Angst getrieben ist, einmal in Betracht zu ziehen, dass es sich hier um klassische Menschenlehre handeln könnte, um die Lehre Gottes besser durchzusetzen. Dieser Schluss ist nicht unlogisch. 
Kritisches Denken nicht mit negativen Einflüssen gleichzusetzen, sondern mit einem produktiven Vorgang, kann Wunder bewirken. Wenn wir uns beispielsweise einmal gruppendynamische Gesellschafts- und Team-Prozesse ansehen, so erkennen wir, dass durch Hinterfragen, konstruktive Kritik und sogar Streit viel gutes entstehen kann, was Menschen, Familien und Geschäftsmodelle letztendlich zum Umdenken und Fortschritt bringt. Natürlich entstehen durch Streit und Egosimen schlimmstenfalls auch Kämpfe und Kriege, aber es ist kein einseitig vorgegebener Vorgang.
Ich kann davon schon fast Zeugnis ablegen, dass die Abkehr vom „Glauben an Satan“ mir die Ruhe gegeben hat, etwas objektiver an Themen heranzugehen und ohne Angst Lehrsätze zu untersuchen und zu durchdenken. Ich erinnere mich, dass ich mir das Anfangs fast antrainieren musste und den Glauben an die „dunkle Seite der Macht“ zunächst nur temporär abstellte. Es wirkte! Die Welt ist schöner und interessanter, wenn ich Neues nicht sofort mit Luzifer oder negativen Einflüssen verbinde, weil das Narrativ es fordert. Den Gegenbeweis kann man ggf. nach einiger Zeit selbst an seiner Person erfahren, weil der Charakter sich eben nicht plötzlich zum Schlechten verändert, nur weil einem Satan egal geworden ist.

Du hast grad erwähnt, dass Du noch gebetet hast während deiner „Transition“. Glaubst du heute noch an Gott? Wenn ja, wie gestaltet sich Deine Beziehung zu ihm? Wenn nein, wie kam es für dich dazu neben dem Mormonismus auch den Glauben an Gott hinter dir zu lassen?

Es war heilsam während der kritischen Phase mit Gott zu sprechen. Denn er gab mir Gewissheit, dass ich selbst etwas wert bin und dass meine Gedanken einfach ehrlich waren. Irgendwann sagte mir Gott, dass alles gut ist. Dass es keinen Grund gibt, die Erfahrungen und die darauf zugrunde liegenden Erkenntnisse zu unterdrücken, nur weil man etwas anderes gelernt hatte. Ein ehrlicher Freund ist einem doch auch lieber als einer mit perfekter Fasade. Das war insbesondere wichtig um von dem oben genannten Dogma des „schlechten Geistes“ wegzukommen. Ich hatte irgendwann nicht mehr das Gefühl, dass ich mich mit den Argumenten des Teufels auseinandersetzte und dagegen ankämpfte, sondern mit einem wachen und ehrlichen Geist – also mit mir selbst. Ich glaube heute, dass die Persönlichkeit Gottes sehr viel mit einem selbst und seinen Eltern zu tun hat. Mein Gott veränderte sich also mehr in Richtung meiner Mutter, die einfach die herzlichste Frau auf dem Planeten ist. Der wohl autoritärere Gott meines Vaters verschwand. Insofern kam ich irgendwann zu dem Schluss dass Gott mir vielleicht Trost gab, es konnte aber auch ein Zwiegespräch mit meinem Verstand und meiner Seele gewesen sein, ein Mechanismus der uns letztendlich hilft, dass wir beides zusammen bringen. Ob mich nun Gott tröstete oder ich selbst, ist heute nicht mehr wichtig zu erfahren – denn wenn es einen Gott gibt, ist er meiner Meinung nach keiner der Unterwerfung und absolute Treue fordert. Ich fordere das von meinen Kindern auch nicht. Dieser Mechanismus dass Seele und Verstand zusammenkommen, ist wohl auch ein Prozess der bei Gläubigen funktioniert, es läuft dann eben nur unter anderen Prämisse, um ins Gleichgewicht zu kommen.

Auf dem Mormon Stories Workshop in Bern hat John Dehlin gesagt, dass er der Meinung ist, unterm Strich haben Religionen dem Menschen mehr genützt als geschadet. Wie bewertest Du das?

Das kann ich nicht wirklich beurteilen, da bräuchte es eine groß angelegte Studie. Wenn auch viele sagen, dass erst die Aufklärung Menschlichkeit in die Gesellschaften gebracht hat, so hat natürlich die katholische Kirche z. B. die Grundlage für Bildung gelegt, die dann zur Rebellion geführt hat – das fiel ihr später auf die Füße. Ich denke die Menschheit ist ohne Religion nicht denkbar, aber grundsätzlich halte ich es für angemessener aus der Geschichte der Menschheit zu lernen und nicht auf Gott zu hoffen. Wenn ich mir orthodoxe Gemeinden, egal welcher Religion ansehe, dann sind diese allenfalls positiv zu bewerten, wenn ich sie mit kriminellen Vereinigungen vergleiche. In der Regel geht es hier doch oft um Unterdrückung und Schuld, die mit Gehorsam und vermeintlicher Gottesliebe ausgeglichen wird – keine Grundlage für ein schönes und eigenverantwortliches Leben.

Ich persönlich sehe in Deiner Antwort, dass Menschen (wie Du) die Werte wie Selbstbestimmung, Authentizität und Individualität hoch einschätzen und sich auch trauen, ihren eigenen Weg zu wagen, den Wert von organisierter Religion eher niedrig einschätzen. Menschen denen aber Individualität, Authentizität und Selbstbestimmung weniger wichtig sind, aber dafür andere Bedürfnisse umso wichtiger sind wie: Sicherheit, Zugehörigkeit, Harmonie, Sinn, Halt und Glauben an Gott, denen widerstrebt die Glaubenskritik und sie wollen die organisierte Religion – egal ob diese fundamentalistische Ansätze hat – trotz ihrer Nachteile nicht verändern. Würdest Du dem so zustimmen?

Dem stimme ich zu. Das was ich behaupte, also dass die Selbstbestimmung und das Lösen von Religion/Glaube uns weiter bringt, kann von Gläubigen ohne Probleme umgekehrt werden. Deshalb denke ich, sollten wir als Gesellschaften gut miteinander umgehen und verschiedene Lebensansätze, die nicht schaden, zulassen.
Ich denke theistische Religion geht zu sehr davon aus, dass ohne Religion keine Moral möglich ist, weil der Mensch von Natur aus schwach ist. Atheisten denken, dass mit Glauben keine Selbstbestimmung gegeben ist, weil der Mensch schwach ist. Beides ist meiner Ansicht nach falsch. Beide Seiten überhöhen oder unterschätzen das Individuum Mensch.

Du hattest früher durch die Kirche den Sinn des Lebens und Deine Identität (Kind Gottes – erwählte Generation) quasi auf dem Silbertablett serviert bekommen. Sind dann da bei Dir Löcher entstanden? oder bist Du in diesen Bereichen schnellstens in der Lage gewesen, neuen Sinn und Deine neue Identität zu finden?

Ja, da sind am Anfang Löcher entstanden. Aber ich habe schnell bemerkt, dass der Lebenssinn, wie ich ihn gelernt habe überhöht war. Die Tugenden die gute Mormonen von „Normalsterblichen“ unterscheiden sind zu gering, als das man der Organisation und der Theologie länger nachhängen muss, dachte ich. Die Erde drehte sich weiter – und ich hatte nur Einfluss auf mein Umfeld. Darin sehe ich auch eine gewisse Verantwortung, die mir als Sinn ausreicht. Auch der Drang alles Wissen zu müssen – also: „woher kommen wir, was tun wir und wohin gehen wir“ – interessiert mich eigentlich nicht mehr sonderlich. Solange wir es auf der Erde schaffen gut miteinander zu leben, haben wir doch recht viel erreicht. Trotzdem ist das Leben nach dem Tod für mich eine nicht auszuschließende Option – ich würde aber auch einfach gerne ewig schlafen. Es wird durch meine Prägung wohl für immer in meinem Hinterkopf bleiben, dass es vielleicht weiter geht. Ich bin da nur völlig ohne Angst und entspannt. Das ewige Leben ist jedenfalls kein großer, tragender Wunsch mehr. Die Moral von der Geschicht (wenn man denn eine finden will): Sich als Mensch nicht ganz so wichtig nehmen. Denn ich sehe in der theistisch geprägten Demut viel mehr Egoismus und Egozentrik als so mancher vermuten würde.

In der Kirche warst Du sehr viel mit Dienen beschäftigt. Mission, Heimlehren, Helfen hier, Helfen da… Wie dienst Du Deinen Mitmenschen heute? Ich habe da mal was von Engagement in der Flüchtlingsarbeit bei Dir vernommen? Der Hintergrund, warum ich das beleuchten will, ist, dass manche in einer Glaubensveränderung gerne das Loch füllen möchten, was im Bereich „Dienen“ entsteht…falls Du da einen guten Ansatz gefunden hast, kann das dem ein oder anderen helfen…

Das ist ein guter Punkt. Ich denke bei manchen Mormonen entsteht hier auch eine Diskrepanz. Das Thema Nächstenliebe und Dienen spielt ja eine wichtige Rolle und die Mormonen sind eine sehr aktive Gemeinde – das „Tun“ ist wichtig! Hilfsbereitschaft, auch aus Verpflichtung, empfinde ich zunächst als eine gute Sache. Ich habe drei Jahre während meiner Ausbildung einer alten Schwester Kohlen zum Heizen in den 4. Stock gebracht. Hat mir das Spaß gemacht? Nein. Hat es mich gestört? Nein. Habe ich damit etwas sinnvolles getan, was der Frau geholfen hat und Christus gefällt? Ja. So dachte ich – und so lernt man ja auch ganz praktisch etwas Zeit für das Gemeinwohl zu opfern. Durch Dienstprojekte wird in der Kirche Hilfsbereitschaft fast eingebrannt. Und ich finde das gut. Natürlich dachte ich oft darüber nach, dass wir als Gemeinde immer nur uns selbst helfen und manche Probleme lösen, die ohne Kirche gar nicht entstanden wären. Das war dann die Diskrepanz von der ich oben gesprochen habe.
Ich lebte wie gesagt zunächst nach dem Kirchenaustritt den Hedonismus etwas aus, aber „normalen“ Menschen reicht das ja nicht aus. Das ist dann eine Phase, die übrigens von Mormonen meiner Ansicht nach total überschätzt wird. Ein Mensch der in seinen 20ern ausflippt muss noch lange nicht diesen Weg weiter gehen. Ein Abstürzen in eine negative Spirale passiert doch den Wenigsten. Nochmal zurück zur Hilfsbereitschaft: Ich denke schon, dass mein Drang einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten durchaus mit der Erziehung und der Kirche zu tun hat. In der Kirche lernt man früh, dass der einzelne etwas bewegen kann. Das fehlt mir heute bei meinen Kindern durchaus. Durch kleine Führungsaufgaben kann man ein junger Mensch seine Ideen und Talente frühzeitig austesten. Ich bin wie gesagt kein großer Wohltäter, da ich noch genug mit mir selbst zu tun habe (relativ später Firmenaufbau usw.) aber klar, das Thema Flüchtlingshilfe habe ich für mich genutzt um einmal in eine ganz andere Welt einzutauchen. Das war nur nicht ausschließlich Hilfsbereitschaft, sondern ich wusste, dass wenn ich 15 Flüchtlingen helfe sich zu integrieren, sie von der Straße weg sind und Steuern zahlen – zudem lerne ich viel über andere Kulturen und Menschen (inklusiver religiöser Diskussionen) – das gibt auch viel zurück. Dass das keine kühle Rechnung bleibt, wenn man dann in der aktiven Arbeit steckt ist selbstredend. Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht, dass mir der Zugang zu männlichen Flüchtlingen sehr leicht fällt und ich schnell auf „Augenhöhe“ komme. Ich bin der Meinung, dass ich mich durch die mir bekannten Rollenbilder, also die hervorgehobene Stellung des Mannes in der Kirche, etwas leichter tue mit Moslems zu kommunizieren. Auch die Familienstrukturen und die Systematik des Glaubens ähneln durchaus den von HLT-Gläubigen. So fiel es mir leicht, beispielsweise wichtige kulturelle Unterschiede einigermaßen plausibel für sie darzustellen ohne den Respekt zu verlieren.
Mein Faible für andere Milleus und gebrochene Existenzen kam sicher auch durch meine Mission (Kontakt zu allen möglichen Leuten) und meine eigene Erfahrung einmal, auch finanziell und psychisch, ganz unten zu sein.
Politisch engagiere ich mich demnächst in der Kommunalpolitik, weil ich nicht nur schöne Reden auf Facebook schwingen, sondern etwas bewirken möchte. Auch denke ich dass ich als Unternehmer ja mithelfe, Existenzen zu sichern – ganz pragmatisch Allerdings glaube ich nicht, dass das heute noch mit „Loch ausfüllen“ zu tun hat, sondern das ich wie jeder andere Engagierte auch, eine Verantwortung fühle nicht nur zu konsumieren. Aber nochmal: Ich bin weder ein ausgeprägter Workaholic, noch ein extremer Gutmensch, ich versuche effizient zu bleiben (also Dinge zu tun, die mir liegen) und Zeit für mich und meine Familie zu nehmen.

Du bist ja recht vielfältig engagiert…ein buntes Leben!
was für eine kommunalpolitische Position strebst Du da an?

Meine Themen sind Digitalisierung und Migration. Aber ich muss mich noch abstimmen, so recht viel Zeit hab ich ja derzeit leider noch nicht. Ich werde mal sehen, was ich im Kreisverband der FDP tun kann, bin selbstverständlich eher ein linker FDPler…

Auf unserem openfaith-Treffen fragte ich in die Runde: Wer von Euch hat nach HLT-Glaubenskrise noch oft den Gedanken gehabt: „Was, wenn es doch alles wahr ist?? “ Fast alle Hände gingen nach oben. Hast Du den Gedanken dann auch noch gehabt und wie bist Du damit umgegangen?

Diesen Gedanken hatte ich ewig nicht mehr. Als er noch in meinem Kopf herumschwirrte, sagte ich mir in etwa: „Gott ist selbst schuld, wenn er nicht klarer kommuniziert“. Bei mir gibt es höchstens noch die Frage: „Was für ein Gott existiert, wenn er/sie/es existiert – und was ist seine/ihre Aufgabe? Wie mächtig ist er/sie? Und wo hört seine/ihre Macht auf?“ Neulich habe ich einen Pfau im Tierpark gesehen und dachte kurz: „Meine Güte, der Schöpfer dieses Wesens hatte wirklich einen Sinn für Ästhetik.“ Da zweifelte ich zumindest mal wieder am Urknall – nur verbinde ich diese Gedanken nicht mehr mit der Kirche Jesu Christi.

In der Transition-Phase hattest Du den Gedanken noch? Wie lange hat es eigentlich dann bei Dir gedauert, bis Du das Gefühl hattest, damit abgeschlossen zu haben? Oder sollte ich fragen: Wie viele Artikel und Podcasts hat es gedauert? 

Denke mal um die 3 Jahre inkl. Transition. Die Logik und das Gefühl passten einfach so gut zusammen, dass ich mir keinen Kopf mehr machen musste. Die Podcasts gab es damals noch nicht. Allerdings habe ich auf Eric Kettunens Seite viele Geschichten gelesen, das war damals das Pendant zu John Dehlin…

Wenn ich heutzutage die Schwierigkeiten der Kirche sehe, habe ich manchmal etwas Mitleid mit den Bischöfen und Pfahlpräsidenten vor Ort, die irgendwie alles „ausbaden“ müssen, obwohl sie vielleicht selbst niemals die Ursache waren. Du kennst ja auch noch viele Menschen innerhalb der Kirche – auch durch Deine familiäre Konstellation. Hast Du auch manchmal Mitleid mit den lokalen Führern der Kirche? Oder freust Du Dich eher, wenns wieder ein paar weniger Mormonen und weniger Kircheneinfluss ist?

Ich freue mich für jeden Menschen, der es schafft seine Mitte zu finden, egal ob innerhalb oder außerhalb der Kirche. Bei den Führungskräften gibt es die, die immer auch „kleine Rebellen“ sind, die gerade auch hier im Süden schon mal das was aus „Frankfurt“ kommt, generell in Frage stellen – die haben teilweise ihren Spaß daran, einen etwas anderen Weg zu gehen. Es gib aber auch die, die froh sind, dass sie das Handbuch und die Generalkonferenz nutzen können, so dass sie ihre Aufgabe erfüllen können. Ich denke die meisten sehen ihre Berufung nicht als Last, sondern als Herausforderung. Oft sind es ja Leute, die auch eine gewisse Führungsqualität außerhalb der Kirche haben – diese benötigen unser Mitleid nicht. Und wenn wir ehrlich sind (ich spreche jetzt für mich): Wir hatten uns doch auch an die hohen Inaktivitätsraten gewöhnt – und die Schuld eher beim Sünder, als bei uns gesucht. Was wir dagegen getan haben, waren „Rückholaktionen“, die mal schlechter und mal besser funktioniert haben – das dürfte auch heute noch so sein.

Du hast Dich damals nach Deinem Austritt entschieden, offen im Netz Deine Meinung kundzutun bzw. über Deine Motive und Gründe zu sprechen. Was für Reaktionen hast Du daraufhin bekommen? Inwiefern hat Dir das genützt?

Zum einen war es mal gut sich das von der Seele zu schreiben. Zum anderen gab es ja kaum deutschsprachige Erfahrungsberichte. Da mir die (hauptsächlich) amerikanischen Geschichten auch halfen, mich nicht allein zu fühlen, wollte ich natürlich meine Gedanken auch teilen. Ich erhielt ab- und zu mal Mails mit Zustimmung oder Fragen. Aber negative Erfahrungen habe ich damit nicht gemacht. Ich weiß bis heute nicht, wer von meinen Bekannten in der Kirche meine Abhandlung von damals gelesen hat (die Seite wurde 2017 vom Netz genommen, bestand aber sicherlich 19 Jahre). Im nahen Bekannten- und Verwandtenkreis wurde ich wahrscheinlich als verwirrter, armer Ungläubiger gesehen, bei dem „Hopfen und Malz“ verloren ist. Es herrschte also eher Schweigen.

Ansonsten möchte ich Dir (auch im Namen der Leser, die es gut finden, aber sich evtl. nicht trauen werden, sich zu bedanken) Danke sagen für Deine Offenheit und Deine Zeit, die Du investiert hast. Für meinen Teil habe ich viel lernen dürfen! Und es war gut, Dich näher kennenzulernen!

Danke für die tollen Fragen! Es war mir wichtig, zu zeigen, dass jede Geschichte anders sein kann. Man muss sich auch nichts vormachen: Das Verlassen der Religion führt nicht automatisch und sofort zu einem besseren Leben. Zudem vermute ich, dass auch ohne die Kirche (jedenfalls) mein Leben zwischendurch etwas „merkwürdig“ verlaufen wäre.

Ich bin ja der Meinung, dass man nach dem Verlassen der Kirche erstmal ne Menge in seinem leben neu zu ordnen hat. Das ist wie eine Neugeburt und Geburten sind ja ziemlich „messy“ und können auch ein gewisses Chaos beinhalten. Somit wird häufig dieser Neuordnungsprozess, der voller Hürden und Schwierigkeiten sein kann, auch oft falsch bewertet – und man meint, man habe evtl. die falsche Entscheidung getroffen, während es aber für manche durchaus die richtige sein kann.

Ja, das kann zum kleinen Dilemma werden, wenn die Beobachter (Mitglieder/Verwandte) sehen, dass nicht alles rund läuft, sich also bestätigt sehen. Man selbst aber immer noch ein gutes Gefühl mit der Entscheidung hat und erstmal aufräumen muss oder sich halt (wie ich) fast mit Ansage ins Chaos stürzt. Da muss man einfach bei sich bleiben und sich Zeit geben.

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D. T.
D. T.
5 Jahre her

Ich fand es toll dieses Interview zu lesen. Danke für Deine Offenheit Sven, und Danke für die tollen Fragen Guido

Folkhard
Folkhard
5 Jahre her

bin ja so froh, dass Du dieses Interview mitmachst. Ich finde Deinen/ euren Weg spannend und zugleich großartig. So völlig Abseits der von der Kirche gewünschten Klischees. Gleichzeitig sehe ich in euren Erlebnissen den Sinn des Leben, nämlich aus Erfahrung zu lernen das eine vom anderen zu unterscheiden und seinen Weg zu finden.Das ist großartig. Jeder Weg verläuft anders und da gibt es keine Wertungen, nach dem Motto: „so wie bei mir müsste es auch bei die laufen“, oder nach Rezept xy“ .