Warum eine einheitliche Missionierung für oder gegen die Kirche verantwortungslos ist

Mittlerweile führe ich seit ca. drei Jahren sehr offene Gespräche mit vielen vielen unterschiedlichen Mitgliedern und Ex-Mitgliedern der Kirche. Je länger ich diese Gespräche führe, desto mehr verfestigt sich in mir eine zentrale Erkenntnis:

Es ist VÖLLIG UNMÖGLICH UND SOGAR VERANTWORTUNGSLOS, eine einheitliche Empfehlung für alle in Bezug auf Kirche auszusprechen. Ja, es ist verantwortungslos und kurzsichtig, einheitlich für oder gegen die Kirche zu „missionieren“.

Wie komme ich darauf? Lasst mich erklären:

ICH KENNE MENSCHEN IN DER KIRCHE….

…denen die Kirche ihre einzige Familie ist. Sie hatten keine einfache Kindheit und haben in der HLT-Kirchengemeinde zum ersten Mal erfahren, was es heisst, Geschwister zu haben. Zum ersten Mal erfahren, was Liebe und Gemeinschaft ist. Nimmt man ihnen das, werden sie das in diesem Leben evtl. nicht wieder finden.

…die durch ihre örtlichen Gemeinden finanziell und emotional unterstützt werden, um ihr Leben zu meistern. Ohne diese Unterstützung wären sie in einer sehr schwierigen Lage.

…die allein leben, sich aber durch ihre Verbindung zu Gott weniger allein fühlen: Ihr Glaube an Gott, den ihnen das Buch Mormon und die Kirche vermitteln. Das Evangelium heilt sie und schenkt ihnen Hoffnung.

…die es geschafft haben, durch die Richtlinien der Kirche weg vom Alkohol, von Drogen oder von Zigaretten zu kommen. Die klaren Regeln helfen ihnen, ein Leben ohne Rückfall und gesundheitliche Risiken zu leben.

…die tolle, funktionale Familien aufbauen konnten – teils haben gute Werte und Vorbilder in der Kirche ihnen geholfen, dieses Ziel zu erreichen.

…die höhere Ziele anstreben und einen Sinn im Leben verspüren, weil die Kirche und viele Mitglieder dies vorleben und vermitteln

…die aus ärmeren Regionen stammen und denen die Kirche Chancen gibt, einen Beruf zu erlernen und zu wachsen.

…die als LGBT dankbar sind für ihre Kinder und Familie, die durch eine heterosexuelle Beziehung (welche ihnen durch die Kirche empfohlen wurde) zu ihnen kamen

…die als LGBT in liebevollen Gemeinden leben und in der Kirche viele liebevolle, verständnisvolle Freunde haben

…deren Familien in der Kirche enorm profitieren, weil ihre Kinder durch viele liebevolle Geschwister Werte wie Nächstenliebe, Fleiß, Arbeit und Ehrlichkeit vermittelt bekommen

…die selten von der Kirche profitieren konnten, aber zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben davon profitieren können

etc. etc. etc.

DANN WIEDERUM KENNE ICH MENSCHEN IN DER KIRCHE…

…denen durch die Kirche ihre Familie genommen oder zerstört wurde

…die durch die Indokrination der Kirche miterleben mussten, wie die Distanz zu Familienmitgliedern wächst

…deren Partner sich von ihnen distanzieren, weil sie in der Kirche(nkultur) ungesund indoktriniert werden

…deren Kinder sich von ihnen distanzieren, weil sie ungesund indokriniert werden

…deren engste Freunde sich von ihnen distanzieren, weil sie ungesund indoktriniert werden

…die durch Lehren in mormonischen neuzeitlichen Heiligen Schriften eindeutig seelischen Schaden genommen haben (z.B. LuB 132)

…die – obwohl sie völlig aufrichtig und ehrlich das Evangelium nach offizieller Lehre zu leben versuchen – ständig mit ungesunden Schuldgefühlen konfrontiert sind

…die eine Scheidung erlebt haben und seither in der Kirche statt Akzeptanz ungesunde Ausgrenzung erfahren – und sich in der Folge selbst nicht mehr lieben und akzeptieren können

…die als LGBT an ihrer heterosexuellen Beziehung, (die ihnen kirchlich empfohlen wurde) komplett verzweifeln und in denen dadurch Selbstmordgedanken verstärkt werden. Ihre gesamte Familie steht durch meist resultierende Scheidungen vor einem riesigen Scherbenhaufen.

…die LGBT sind und sich selbst ablehnen und hassen, weil die Kirche und ihre religiöse Community ihnen vermittelt hat, dass ihre LGBT-Identität eine irdische Krankheit, Prüfung oder ein Gebrechen ist, die im nächsten Leben korrigiert werden

…denen der Glaube an Gott in ihrem Leben geholfen hatte, aber deren Glaube für immer zerstört wurde, weil die Kirche ihnen keine (gesunde) Trennung von Gott und Kirche vermittelt hat. Dies führte zu völlig überzogenen Erwartungen an die Kirche, die eine von Menschen verwaltete Organisation niemals erfüllen kann.

…die ihr Leben lang keine erfüllende Partnerschaft erlebt haben, weil ihre Kirche(nkultur) ihnen ineffektive und viel zu einseitige Kriterien der Partnerwahl vermittelt hat

– die nie einen Partner haben werden, weil sie glauben ihr Partner müsse Mitglied der Kirche sein

– die mit 40 Jahren die Reife von Teenagern haben, weil sie sich nicht trauen, einen Partner außerhalb der Kirche zu suchen

…die ihr Leben lang trotz Partner keine erfüllende Sexualität erlebt haben, weil die ihnen innewohnende Sexualität bis zu ihrer Partnerwahl extrem verteufelt wurde und sie somit kaum eine Chance hatten, sich in dieser Hinsicht kennen zu lernen, geschweige denn, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen

– denen Authentizität und Wahrheit wichtig sind, die aber rausfinden müssen, dass ihre Kirche in diesen Bereichen massive Defizite hat

– die Angst vor LGBT haben, weil sie immer noch glauben Homosexualität wäre eine ansteckende Krankheit

– die Angst davor haben, im nächsten Leben in Polygamie leben zu müssen und ihren Mann mit anderen Frauen teilen zu müssen

– die in einer örtlichen Gemeinde leben, wo eine für sie toxische Atmosphäre herrscht

– denen von anderen TBM-Mitgliedern gesagt wird, sie seien durch ihre liberale Sichtweise Schuld daran, wenn ihre Kinder homosexuell sind

– die an der Hochzeit ihrer engen Verwandten nicht teilnehmen können, weil sie ihren Glauben anders leben und somit keinen Tempelschein erhalten werden

– die für viele Jahre lang enorm von der Kirche profitieren, aber dann plötzlich überhaupt nichts mehr daraus ziehen können

etc. etc. etc.

Ich bin UNHEIMLICH DANKBAR, mit so vielen Menschen (auch hier) zu tun zu haben, die einem Menschen in seinen eigenen Entscheidungen unterstützend zur Seite stehen, EGAL OB EINEM SELBST DIESE ENTSCHEIDUNGEN GEFALLEN.

An diejenigen von Euch, die Mitglieder der Kirche sind und dennoch Menschen, die einen anderen Pfad wählen, ihre Liebe, Unterstützung und Wertschätzung ausdrücken können: IHR seid es, die mich manchmal noch stolz machen, selbst ein Mitglied der Kirche zu sein. Ihr seid es, denen das gelebte Evangelium wichtiger ist als irgendeine irdische Organisationszugehörigkeit. Das gleiche gilt für Ex-HLT, die trotz ihrer Erfahrungen Respekt für gläubige HLT aufbringen können.

Es gibt bestimmte Grundsätze, die für ein nachhaltig glückliches, zufriedenes Leben immer gelten werden:
Nächstenliebe, Respekt, Achtsamkeit, Entscheidungsfreiheit, Vertrauen, gesunde Intimität, Freundschaft, Selbstlosigkeit, Verantwortung, Familie (in verschiedenen Formen), etc.

Lassen wir die Menschen, sobald sie in der Lage sind zu entscheiden, selbst wählen, wie, wo und zu welchen Zeiten sie diese Grundsätze erlernen. Bemühen wir uns doch darum, für unser Umfeld zu Vorbildern zu werden statt voreingenommen zu belehren und zu missionieren.

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Folkhard
Folkhard
4 Jahre her

Amen Bruder

Vera
Vera
4 Jahre her

Seh ich genauso, dass hast du schön geschrieben.
Aber wie schade es doch ist, dass man bei der ersten Kategorie einer freiheitsbeschneidender Religionsgemeinschaft angehören muss, um das alles zu genießen.

D.
D.
4 Jahre her

Danke Guido, bin voll bei dir!

R.F.
R.F.
4 Jahre her

Amen und amen.