Folkhard: „Alle Religionen sind nur ein Teil des Großen – niemals das Große selbst: jeder Mensch soll da wo er ist, schauen, ob er Gott suchen, fühlen und finden kann.“

Folkhard ist in der Gemeinde Selbongen in Ostpreußen aufgewachsen. Mit 14 kam er nach Deutschland. Schon sehr früh in seiner Jugend war er an offenen, tiefgehenden Glaubensgesprächen interessiert . Folkhard ist quasi seit Gründung eng in die Dialoge bei openfaith involviert gewesen und hat die Gespräche regelmäßig bereichert.
Als ich Folkhard 2016 auf dem ersten gemeinsamen Wochenende im Taunus kennenlernen durfte, wurde mir bewusst, warum sowohl viele aktive HLT-Freunde als auch viele ehemalige oder inaktive Mitglieder ihn gleichermaßen respektieren…

Er glaubt, dass alle Religionen und Glaubensgemeinschaften einmal ein „großes Ganzes“ werden – und somit die Leichen im Keller jeder Organisation zwar existieren, aber auch nicht täglich (mit nichtsahnenden HLTs) „Leichenschau“ betrieben werden muss. Diesen Respekt vor unserer Glaubensgemeinschaft und den Gläubigen hat er, obwohl er die vielen Widersprüche und Dissonanzen gut kennt. Ich erinnere mich noch an seinen geistigen Gedanken, bei dem sich so mancher gewünscht hatte, das könnte man öfter hören – auch Sonntags.

Er sagt, die Mitglieder bei ihm vor Ort sind „gute Menschen, auf die ich mich in vielen Dingen verlassen kann, und die da sind, wenn ich ihre Hilfe brauche“. Nicht nur deswegen pflegt er trotz seines umfangreichen Wissens, das er schon lange nicht mehr exklusiv aus kirchlichen Quellen bezieht, einen empathischen und respektvollen Umgang.

Über seine Mission in England und eine Begegnung mit Elder Bruce R. McConkie in London kurz vor Bekanntgabe, dass „schwarzen Mitgliedern“ das Priestertum nicht länger vorenthalten werden soll…

Tja, meine Mission. Zu meiner Mission bin ich wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Ehe ich mich versah, war ich in England. Eines Tages kamen die Heimlehrer zu mir ins Internat. Damals war ich quasi inaktiv und ließ mich ab und zu in der Sonntagsschule blicken. Ein Bruder, der später mein bester Freund wurde, obwohl er mein Vater hätte sein können, sagte mir an dem Abend, dass die Bischofschaft überlegt mich zum MP zu ordinieren und zum Ältesten zu berufen. Darauf sagte ich, dass ich ja dann auf Mission gehen könnte. Das wars. Frag mich nicht, warum ich das damals so spontan gesagt habe, ohne zu überlegen. Ich habe mitbekommen, dass im Hintergrund eine Maschinerie loslegte. Irgendwann war ich dann in London auf dem Flughafen, wurde von zwei Missionaren abgeholt, hatte eine Stunde Zeit eine Passage aus den Diskussionen auswendig zu lernen und stand dann eine Stunde später in einem Hochhaus. Nachdem die Tür aufging bekam ich einen deutlichen Hinweis, den ich in der Rippengegend verspürte, dass ich an der Reihe war. Ob die Frau damals mein Kauderwelsch verstanden hat?
Meine Mission verlief sehr unspektakulär. Hier und da ein paar interessante Erlebnisse, Spaß mit den anderen Missionaren und viele gute Essenstermine. Doch ein paar sind mir in Erinnerung geblieben und tauchen immer wiedermal auf. Zeugnis geben war ja an der Tagesordnung. Ich hatte keines, also kein Zeugnis vom Buch Mormon. Trotz intensivem Beten und Fasten, hat sich da kein geistiges Erlebnis eingestellt, nicht so wie ich es erwartet hatte. Da gibt es sehr viele Vorlagenberichte, wie so ein Zeugnis aussehen müsste. Das wars, hab nie eines erhalten.
Da waren diese Schulungen auf den Missionskonferenzen, die ich spannend und schrecklich zugleich fand. Sehr interessante Verkaufsstrategien, gemischt mit Schriftstellen, kamen bei mir nicht so gut an. Ich fühlte mich sehr unwohl, wenn ich auf der Straße Menschen unter den Vorwand eine Umfrage zu Christus zu machen, ansprechen sollte. Probleme mit Menschen über meinen Glauben zu sprechen hatte ich nie, das kannte ich ja von meinen Gesprächen mit Freunden. Mich störte einfach die Art und Weise. Irgendwelche Kästchen mit einem Häkchen zu versehen und anschließend der Person ein Buch Mormon mit einem Leseauftrag in die Hand zu drücken und nach einem Termin zu fragen, war nicht mein Ding. Das fühlte sich für mich auch nicht richtig an. Andererseits habe ich wunderschöne Momente mit Untersuchern erlebt, die zu uns kamen und mehr wissen wollten. Das waren ganz andere Ausgangspunkte. Wir mussten damals unsere Lektionen abspulen, aber wir fanden auch genügend Raum danach ganz normal miteinander zu sprechen. Eines Tages, als wir von Tür zu Tür gegangen sind, wurden wir hereingebeten. Diese Familie lebte unter sehr „ungewöhnlichen“ Umständen. Der Ehemann lebte mit seiner Frau und seiner Geliebten unter einem Dach. Es war eine ganz irritierende Situation. Irgendwie fühlten wir uns da nicht wohl. Trotzdem gaben wir die erste Lektion. Plötzlich fing die Ehefrau an hysterisch zu schreien. Der Mann und seine Freundin versuchte sie zu beruhigen. Wir verabschiedeten uns schnell und waren froh draußen zu sein. Paar Tage später wollten wir da vorbeischauen. Als wir auf der Höhe des Eingangs von dem Weg zum Haus waren, überkam uns eine Art von Panik, Angst, Kälte. Man hat wohl noch nie Missionare so schnell Fahrrad fahren sehen. Mein Mitarbeiter und ich sprachen dann zuhause über das Erlebte. Das war keinesfalls eine Einbildung von mir oder ihm. Das hat uns beide gleichzeitig erwischt.
Ein andermal wurden wir das Xte Mal versetzt. Aus Frust taten wir etwas, was ich heute nie tun wurde. Wir schüttelten den „Staub von unseren Füßen“. Heute muss ich darüber schmunzeln. Ich stelle mir den Herrn vor, wie er den Kopf schüttelt und unseren Antrag gar nicht erst bearbeitet, sondern ihn sofort in den Papierkorb wirft. Zum Glück.
Was mich damals wie heute noch sehr beschäftigt ist eine Missionskonferenz in London, Hyde Park Chapel. Bruce R. McConkie sprach zu den Missionaren und hatte eine Botschaft, die für viel Unruhe und Aufregung sorgte. Er sprach davon, dass wir mit sofortiger Wirkung aufhören sollten Schwarze zu belehren. Das schlug ein wie eine Bombe. Fast jedes Missionarspaar hatte welche, die sie belehrten. Wir auch. Man kann sich unschwer vorstellen, was da los war. Er sprach ein Machtwort und dann war Ruhe. Als wir dann die Kapelle verließen, stand er an der Tür und gab jedem die Hand. So einen kalten, abwesenden Blick habe ich seitdem nie gesehen. Ich fragte mich, ob er tatsächlich ein Apostel war. Wenn ich mich nicht sehr täusche, kam die 1978 Offenbarung, Priestertum für alle würdigen Männer, wenige Monate später. Vor ungefähr zwei Jahren erfuhr ich, dass die Beratung im Kollegium der Zwölf zu diesem Thema Jahre gedauert hat. Wegen der kurzen Zeit zwischen seinem Besuch in England und der Verkündung der Offenbarung, gehe ich davon aus, dass er davon wusste. Musste er es trotzdem so drastisch verbieten? War das eine Strategie? Ich habe keine Ahnung. Wenn es aber so war, dann verstehe ich den inneren Druck, dem er ausgesetzt war. War bestimmt nicht leicht. Vielleicht kämpfte er auch mit sich, weil er ja eine andere Position vertrat?
Noch ein letztes Erlebnis, über das ich manchmal nachdenke, hat man wahrscheinlich nicht oft auf Mission. Missionare, die während einer gemeinsamen Arbeit in unserem Distrikt unterwegs waren, gaben uns am Ende des Tages einen die Anschrift eines jungen Mannes, der Interesse an der Kirche hatte. Ich erzähle hier nur zwei Beispiele, aber in dieser Art verlief die ganze Belehrung. Nach der Lektion über den Zehnten beantwortete er unsere Frage, ob danach leben könnte mit: „das mach ich doch schon seit langem. Ich zahle den Zehnten nur in der falschen Kirche“. Nach zwei Wochen fragten wir ihn, ob er getauft werden möchte. Seine Antwort: „Warum fragt ihr mich so spät?“ Er wurde innerhalb von drei Wochen getauft. Nach zwei Jahren ging er auf Mission.
Im Großen und Ganzen war es eine lehrreiche und manchmal schwere Zeit. Manchmal habe ich meinen Mitarbeiter zuhause sitzen lassen und bin an den Strand gegangen, um mal allein zu sein und nachdenken zu können, ob ich frühzeitig nachhause gehe. Ich tat es nicht. Als ob ich vor meiner Mission eine Ahnung hatte, dass diese Gedanken kommen würden. Daher gab ich mir vor dem Antritt der Mission ein Versprechen, ich würde nur dann nach Hause gehen, wenn mich eine Krankheit dazu zwingen würde.

Über seine inneren Dissonanzen und Zweifel…

Es ist nicht so einfach die Frage nach den Dissonanzen zu beantworten. Im Grunde kann ich mich an keinen speziellen Auslöser erinnern. Jedenfalls war es nie ein kirchengeschichtliches Thema. Aus meiner heutigen Sicht beschreibe ich diese Dissonanzen als einen Konflikt zwischen meiner inneren Instanz und der Kirchenkultur, die mich beeinflusst hat, in der ich für lange Zeit gefangen war. Diese Schlussfolgerung beschäftigt mich schon seit längerer Zeit, denn sie hat gravierende Konsequenzen, wenn ich sie lebe. Und eben diese ersten Gehversuche bringen mir immer mehr Frieden. Wie gesagt, ich erinnere mich an keinen Auslöser, es war immer so. Vielleicht liegt es an den Genen meines Großvaters, der evangelisch war, aber sich jeglicher Art von Institutionalisierung der Religion, entzog und nicht mitmachte. Als wahrscheinlicher sehe ich diese innere Instanz, das Gewissen, das Licht Christ, wenn man so will, oder auch den Atem Gottes in uns, wie Friedrich Weinreb es formuliert. Eine große Quelle der inneren Irritationen, waren und sind es manchmal heute noch, die Ergebnisse dieser Sichtweise in der Gegenüberstellung zur kirchlichen Realität.
Ansprachen, Schulungen und Klassen ( die allermeisten ) waren eine Quelle der Frustration.
Die traditionelle Denkweise, dass auf weltweiter und regionaler Ebene, die Weisheit und Auslegung der Lehre durch diese Personen zu mir kommt, fühlte sich wie ein Gefängnis an.
Das stand oft im starken Gegensatz zu meiner inneren Instanz. Ansprachen und Klassen triggern manchmal auch heute noch dieses Frustgefühl, aber bei weitem nicht mehr so intensiv. Mehr und mehr lerne ich die Standpunkte der einzelnen Geschwister als ihre Reise zu akzeptieren und genauso meine als gleichwertig obwohl verschieden. Das ist ein schwieriger Lernprozess für mich.
Vielleicht kann ich das, was ich meine an ein paar Beispielen festmachen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater über Judas als ich so um die 15, 16 Jahre alt war. Wir waren unterschiedlicher Meinung. Er bestand darauf, dass Judas, wie es im NT geschrieben steht, mit dem Tod bestraft wurde. Ich dagegen fühlte und fühle heute noch, dass er keine Straffe verdiente und wahrscheinlich gar nicht so endete, wie im NT geschildert, denn er tat, was ihn bestimmt war.
Eine andere Begebenheit, an die ich mich heute noch so klar erinnere, als wäre sie gerade geschehen, ist ein Erlebnis, welches ich beim Lesen des Buches Mormon hatte. Es muss nach meiner Mission gewesen sein, aber sicher bin ich mir nicht. Damals las ich es erneut und als ich an die Stelle Jesu Besuchs auf dem amerikanischen Kontinent im 3. Nephi kam, rutschte diese Geschichte sofort in die Ecke: na ja, man muss ja Christus nach Amerika holen, Israel reicht nicht.

Später, als ich mutiger wurde, erkannte ich, dass ich keinen „zweiten Zeugen für Jesus“ brauche. Der erste Zeuge, das Neue Testament und das, was in mir ist, reicht völlig aus.
Die größte Hürde stellten und stellen, in einem gewissen Grade auch heute noch, die Konditionierungen der Vergangenheit, dar.

Wenn als Antwort auf meine Nachforschungen und Gebete, ein klares und friedvolles, für mich neues Paradigma entsteht, dann beschleicht mich manchmal der Gedanke, dass dieser Lichtblick von der „dunklen Seite der Macht“ kommt. Dann muss ich viel Glauben in diese Antwort auf meine Bemühungen aufbringen und irgendeine Bestätigung aus den Schriften oder eine sonstige Herleitung aus irgendeinem Kontext, um diesen Weg weiter zu gehen. Also doch noch irgendwie gefangen, verwurzelt in dem Sonntagsschul-Evangelium. Es wird aber deutlich besser und ich werde mutiger, denn mein Gottesbild hat sich geändert. Wenn ich auf den Weg schaue, der hinter mir liegt, versuche ich die Hand Gottes in meinem Leben zu erkennen. Auf diesem Weg begegnete ich Freunden, von denen ich die meisten bis heute nicht persönlich kenne und einige auch nie kennen lernen werde. Ihre Gedanken in Büchern, Podcasts, Beiträgen, Blogs, nicht zuletzt ihr mit euren Posts auf openfaith, haben dazu beigetragen mein eigenes, inneres Profil zu schärfen. Wo stehe ich heute? Heute sehe ich Gott größer und gütiger, liebevoller und langmütiger als die Summe aller Gottesbilder der Menschen und Religionen. In dieser Sichtweise finde ich Frieden und Geborgenheit. Alle Religionen und Glaubenssätze sind nur ein Teil des Großen, niemals das Große selbst. Letztens, beim Joggen, fiel mir ein Bild ein. Ich stellte mir einen großen, ausgerollten Teig für die Weihnachtsplätzchen vor. Verschiedene Förmchen stanzen ein Teil des Teiges heraus und jede Form mag sich selbst als die schönste und das einzig wahre Weihnachtsplätzchen sehen, doch sie ist wie die anderen, nur ein Teil des Ganzen.
Um meine Dissonanzen zu lösen, brauchte ich nur zu erkennen, dass alles auch anders gesehen werden kann, und dass diese Sichtweisen, meine mit eingeschlossen, auch nur Facetten sind, die mit neuem Wissen andere Gestalt annehmen. Zum Glück entstehen hier und da neuen Dissonanzen, die zu lösen sind. Sie sehe ich heute als Triebfeder für neue Erkenntnisse.

Wie er es schafft, solch eine innere Ruhe auszustrahlen – trotz zahlreicher kirchlicher Widersprüche…

Na ja, zunächst mal: es war nicht immer so, dass ich so in mir ruhen konnte. Ich glaube aber heute, dass Gott viel mehr ist als sie Summe der Aussagen aller Religionen und Glaubenssätze. Auch aus den Schriften entnehme ich für mich seine Zusage alle Menschen zu erretten. Wir sind ja seine Kinder. Bin in meinem Denken universalistisch geworden und fühle viel Frieden in dem Denken, dass Er niemanden verlieren will und wird.

Ja, ich bin aktiv und Sonntagsschulleiter und Lehrer. Aktiv bedeutet aber nicht alles mitmachen was von „Oben“ kommt. Da unterscheide ich schon ganz klar für mich. deswegen liebe ich die Poelman Ansprache so sehr und viele andere nichtkirchliche Quellen. Konnte nie anders, musste ständig über den Tellerrand schauen. Es gab so paar Aussagen, die mich beeindruckten und die mir einen Halt und gleichzeitig eine große Herausforderung gaben. “ […] Man muss einen Weg finden, die Würde des Peinigers zu achten, während man ihm Korrekturmaßnahmen anbietet. Das ist sehr schwierig, jedoch nicht unmöglich. Robert W. Fuller, Ph.D. dignityforall.org Das übe ich immer noch. Und nicht richten, übe ich auch noch, und die Menschen da abholen, wo sie sind, übe ich auch noch. Zusammen gefasst geht es in die Richtung, die Lehren Christi, wie ich sie verstehe, auch den Mitgliedern zukommen zu lassen. Ist manchmal verdammt schwer. Doch es entwickeln sich gute Gespräche mittlerweile. Ach ja, ein entscheidender Punkt war für mich das Gebet mit der Bitte mir den Zorn und die Wut zu nehmen , denn ich war der Überzeugung, dass sie mir die Sicht für das Wesentliche nahm. Auch hier übe ich noch.

Welche Tipps er jemandem geben würde, der gerne an das Evangelium Jesu Christi glauben möchte, sich aber auf die Kircheninstitution bezogen in einer „Glaubenskrise“ befindet…

Ich musste da echt in mich gehen und anfangen meine Gedanken und Empfindungen in Worte zu fassen, was mir schwerfällt, da ich eher intuitiv denke.
Ja, es ist schön und oft auch sehr anstrengend diesen „offenen“ Glauben ans Evangelium zu kultivieren, wie Du es eingangs formulierst.
Ja, das bringt mir Frieden und Ruhe, gleichzeitig aber auch eine gewisse Unsicherheit.
Im Kirchenalltag sind es die jahrelangen Konditionierungen, die sich trotz besseren Wissens melden und es schwer machen ein neues Paradigma selbstbewusst und mit den eventuellen Konsequenzen zu leben. Als Paradebeispiel eignet sich das Tempelinterview. Angenommen, ich könnte ein paar Fragen nicht erwartungsgemäß beantworten, fühlte mich aber würdig in den Tempel zu gehen. Aufgrund von Recherchen, Gebeten und Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, komme ich zu dem Schluss, dass diese Frage so einfach nicht mit ja oder nein zu beantworten ist, oder sogar auf keiner Schriftlichen Grundlage basiert. In diesem Moment ist es mit der Eigenverantwortung vorbei. Sie wird mir in der Form aberkannt, als das die letzte Frage des Interviews, ob ich mich trotzdem würdig fühle in den Tempel zu gehen, ihre Bedeutung verliert. Über meine Würdigkeit entscheidet jemand anders. Mir stellt sich dann aber auch gleichzeitig die Frage nach meinem Bruder, der als Kirchenbeamter eine Verantwortung trägt. Er steckt in der kirchenkulturellen Prägung auch fest. Vielleicht sogar noch stärker als ich. Werde ich der Empfehlung einiger Freude folgen und mit den entsprechenden Jas und Neins antworten, oder werde ich es riskieren keinen Tempelschein zu bekommen, obwohl ich mich absolut würdig fühle und immer noch gerne in den Tempel gehe? Werde ich diese bestimmten Fragen mit ihm erörtern und die aus meiner Sicht durch Schriften und anderen kirchlichen Aussagen belegte Beweise vorlegen? Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. An diesem Beispiel sehe ich den Unterschied zwischen der Verwaltung der Kirche und dem Evangelium, wie Poelman es darstellt. Hier sehe ich auch, dass wir ein editiertes Evangelium haben. Im Falle des Tempelinterviews kann es deswegen, wie oben erwähnt, sehr unangenehm werden, wenn die eigene Mündigkeit nicht mit den Ansichten der Kirchenbeamten übereinstimmt. Zum Glück ist das Tempelinterviews nicht der sonntägliche Kirchenalltag. Hier ist es im Grunde sehr dynamisch und meistens entspannt. In den Klasse diskutieren wir recht offen. Mit Mitgliedern und Freunden ganz offen, wenn wir ins Gespräch kommen und klar, nicht über alle Themen. Ich steige nur da tiefer ein, wo ich nach bestimmten Themen gefragt werde, oder wenn ich merke, dass Geschwister um Lösung ihrer Dissonanzen ringen. Dann erzähle ich von meinen Erlebnissen und Erfahrungen.
Die Ansprachen in der Gemeinde sind immer seltener ein Problem. Oft werde ich angenehm überrascht. Die meisten Sprecher haben doch das Herz am richtigen Fleck. Ein Bruder, von dem ich es aufgrund seiner vorherigen Ansprachen nicht erwartet hätte, hielt eine phantastische Ansprache, die mich zum Nachdenken anregte. Er meinte in seiner Eröffnung, er habe mal zu seinem Thema außerhalb der Kirchenliteratur recherchiert. Solche und ähnliche Erlebnisse zeigen mir die Dynamik, die sich einstellt, wenn die Mitglieder es wagen über den Tellerrand zu schauen. Harte Zeiten erlebe ich, wenn ich wieder einmal vergesse, mir die einzelnen Ebenen des Glaubens, den so eine Gemeinde widerspiegelt, bewusst zu machen. Das sind dann Sonntage, die meine Toleranz, Liebe und Geduld auf die Probe stellen und mir klar vor Augen führen, dass ich noch einen längeren Weg vor mir habe, dass ich im Grunde kein Recht habe von anderen zu erwarten, ihren Glauben so zu definieren, wie ich meinen definiere. Alle haben das Recht auf ihre Glaubensstufe. Diese und ähnliche Situationen sind wirklich sportliche Herausforderungen an meine Toleranz, Empathie und Nächstenliebe.
Über all die Jahre habe ich meine Gebetskultur aufrecht gehalten und sehr gute Erfahrungen mit dem Gebet gemacht. Viele wurden nie beantwortet und vieles ist anders gekommen, als ich es erbeten habe, jedoch wurde jedes einzelne Gebet, dass mit mir persönlich und meiner Glaubensentwicklung zu tun hat, beantwortet. Ich fühle mich geführt.
Das sind dann so Momente, in denen ich auf Quellen stoße, die meine Dissonanzen innerhalb einer kurzen Zeit auflösen. Zu einer bestimmten Zeit war es z.B. die Originalansprache von Poelman. Ein andermal, bestimmte Podcasts, oder Bücher, die mir Freude empfohlen haben. Dabei ist es manchmal so, dass ein bestimmter Begriff, eine Assoziation in mir auslöst, die rein gar nichts mit dem Thema zu tun hat. Ein Stichwort, so zu sagen, dass eine ganze Kaskade von neuen Sichtweisen und Ausgangspunkte für weitere Recherchen bietet. Und genau aus dieser Erfahrung entwickelt sich eine Frage. Die Frage, die ich mir dann anfangs immer stellte, und die mich heute auch noch oft begleitet, ist die Frage nach der Quelle der Antwort auf meine Gebete. Kann sie wirklich von Gott sein, wenn sie doch so anders ausfällt, als einige „Lehren“ der Kirche es glauben machen wollen?
Man steckt trotz besseren Wissens noch tief in den Prägungen der vergangenen Jahre fest.
In letzter Zeit denke ich manchmal an die Geschichte, wo ein Mann Konserven mit auf das Schiff mitgenommen hat, um zu sparen und er verlässt kaum die Kabine. Am Ende wird ihm bewusst, dass seine Reise all inclusive war. Mich bewegt diese Geschichte sehr, weil ich mich da in mancher Hinsicht wiederfinde. Meine kirchliche Prägung engt mich ein, die neuen Erkenntnisse fühlen sich für mich richtig an. Mein Glaube, dass Gott viel mehr ist, als alle Religionen zusammen, gibt mir den Mut mehr zu glauben, als die Lehren der Kirche, die sich über die Jahrzehnte hinweg mit allen möglichen persönlichen Meinungen, Verwaltungsanforderungen der Kirche als Institution, eventuellen kirchenpolitischen Absichten und dem Evangelium vermischt haben.

Berufungen, bei denen ich das Gefühl habe, sie nicht anzunehmen, lehne ich ab.
Irgendwie kam ich mit einigen Brüdern, die für diese Berufung zuständig waren, ins Gespräch. Ich bemerkte nur in dieser Unterhaltung, dass wenn sie in diesem Falle an mich dächten, ich diese Berufung nicht annehmen würde. Zwei Sonntage später wurde ich gefragt und lehnte ab. Natürlich melden sich dann sofort Gedanken wie, man darf keine Berufung ablehnen, denn sie ist inspiriert und kommt vom Herrn. Die jahrelange kirchenkulturelle Prägung macht da ihren Job und vorübergehend ein schlechtes Gewissen. Aus heutiger Sicht war es die richtige Entscheidung, wie es sich herausstellte.

Was ihn mit dem Mormonismus verbindet, obwohl er selbst eher ein Verfechter einer ökumenischen und offenen Glaubensinterpretation ist…

Um die Frage, was mich nach wie vor mit der Kirche verbindet, zu beantworten, muss ich noch ein paar Anmerkungen vorausschicken.
Mein Empfinden ist, dass alle Religionen unterschiedliche Weltanschauungen und Glaubenssätze wiederspiegeln, die in der Sehnsucht nach etwas Größerem münden. Alle versuchen auf ihre Art zu erklären, was in letzter Konsequenz, in diesem Leben nicht erklärbar sein kann. Da ist die Frage nach Gott, dem Leben nach dem Tod, dem Sinn des Lebens und…. Was mich mit Religion im Großen und Ganzen verbindet, ist die Ahnung, dass hinter den Symboliken und Fassaden spannende Konzepte zu finden sind, die eine mögliche, und das ist für mich wichtig zu betonen, eine mögliche Erklärung, liefern. Mein inneres Empfinden ist nie klargekommen mit der Behauptung, die HLT Kirche sei die einzig wahre Kirche. Ich empfand es immer als anmaßend und ein bisschen Fremdschämen war auch dabei. Der Mormonismus ist eine ebenso unvollkommene Religion, wie andere auch: no religion is perfect.

Mich fesselt, was Paulus in Athen meiner Meinung nach indirekt über Religionen sagte. ( Apg 17:26,27) Jeder Mensch soll da wo er ist, schauen, ob er Gott suchen, fühlen und finden kann. Je mehr ich über den Tellerrand schaute, desto mehr wurde mir bewusst, dass die anderen Religionen und Glaubenssätze für anderen Menschen gut und richtig sind und sie dort ihren Weg zu Gott finden können. Wenn nicht, suchen sie eventuell in anderen Religionen weiter, oder sie gelangen an den Punkt, an dem es Zeit wird, das Nest zu verlassen und flügge zu werden.
So gesehen, ist die HLT Kirche mein Basislager, der Ursprung meiner Dissonanzen, die mich auf den Weg stellte und mir einen Schups gab, um nach Gott zu suchen ob ich ihn fühlen und finden kann. Was ich heute glaube, beruht auf einer bewussten Entscheidung, nicht auf absolutem Wissen.
Was mich speziell mit der HLT Religion verbindet, sind einige Entwürfe, die mich ansprechen, die meinem Wesen entsprechen, mich faszinieren. In vielen von ihnen finde ich meine spirituelle Heimat wieder, andere sind mir fremd. An dieser Stelle kann ich nur ein Beispiel für den Facettenreichtum anführen.
Mich hat schon immer der Gedanke der ewigen Existenz fasziniert. Dieses Konzept, von Intelligenzen , wie Joseph Smith es formuliert, die schon immer existierten, und von Mutter und Vater gestaltet wurden, entspricht meinen tiefen Empfindungen. Was mir allerdings völlig fremd erscheint, ist dann in diesem Zusammenhang, die Lehre von den verschiedenen Wohnungen in der Ewigkeit ohne die Möglichkeit eines Umzuges in eine bessere Wohnung oder Wohngegend, wenn ich die Voraussetzungen dafür geschaffen habe. Im Einzelnen würden die Themen sehr viele Seiten füllen und dann hätte man meine persönliche Version der Glaubensartikel.
Manchmal höre ich von einigen Leuten, dass ich mir die Rosinen herauspicke und der Rest des Kuchens liegen lasse. Das stimmt in gewisser Weise, jedoch sehe ich mich in der Tradition der Wahrheitsfindung und Annahme, woher sie auch kommen mag. Das ist in gewisser Weise urmormonisch. Das heißt, dass ich tatsächlich ein Großes Ganze hinter den verschiedenen Religionen sehe, und daran glaube, dass irgendwann mal die Erkenntnis kommt, dass hinter allen Fassaden doch viel mehr verborgen ist, als die Summe ihrer Glaubenssätze.

Was für ihn „Kirche“ oder „Mitgliedschaft in der Kirche“ bedeutet…

Es gibt laut BM nur zwei Kirchen.

1.Nephi 14:10 Und er sprach zu mir: Siehe, es gibt nur zwei Kirchen; die eine ist die Kirche des Lammes Gottes, und die andere ist die Kirche des Teufels; wer also nicht zur Kirche des Lammes Gottes gehört, der gehört zu jener großen Kirche, die die Mutter der Greuel ist; und sie ist die Hure der ganzen Erde.Alles was man braucht, um in der Kirche „zu sein, ist ein umkehrwilliges Herz ;

LuB 10:67 Siehe, dies ist meine Lehre: Wer auch immer umkehrt und zu mir kommt, der ist meine Kirche.

Ich fühle mich sehr wohl in dieser einen Kirche😏

Das Gespräch führte Guido Müller

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Eda
Eda
4 Jahre her

Super bereichernd für mich. Dankeschön. Ich lese auch kein Bisschen Angst aus deinen Zeilen. Das gefällt mir.

E.
E.
4 Jahre her

nach all dem was du über die Kirchengeschichte weißt, findest du noch Trost in dem was die hlt Propheten sagen? In den Generalkonferenzen z B.
Gehen dir die Ansprachen noch nahe?

Katrin
Katrin
4 Jahre her

Supertolle Fragen, Guido Müller!