Wenn ein geliebter Mensch plötzlich destruktiv über die eigene „Kirche“ spricht

Autor: Guido Müller

Wenn ein geliebter Mensch plötzlich „destruktiv“ über eine früher geliebte Institution spricht, kommen bei manchen Glaubensgeschwistern nicht nur „gelernte Vorurteile“ zum Vorschein, sondern auch folgende Gedanken:

– „Mir wurde das in der Kirche nie so beigebracht“
– „Keine Ahnung wo Du das aufgeschnappt hast“
– „Es ist anders als Du es darstellst“

Das führt doch recht häufig zu einem Zustand verwirrender Frustration, der sich auch für mich in der Vergangenheit selten zu meiner Zufriedenheit auflösen liess.

Ich möchte mal eine Perspektive mit ins Spiel bringen, die mir neuerdings dabei hilft:

Jeder Mensch der z.B. in der Institution Kirche Jesu Christi HLT aufwächst oder bekehrt wird, baut sich – ob bewusst oder unbewusst – ein Weltbild auf. Ich will das mal mit einem Gebäude vergleichen.

Diese Gebäude sehen selbst bei Menschen in der Kirche nicht immer gleich aus. Insbesondere die Vorgehensweise beim Bauen unterscheidet sich immens. Je nachdem welche „Bauweise“ wir durch unsere Lehrer, unsere Eltern, charakterliche Voraussetzungen, Intellekt, etc. mitbekommen und für uns annehmen.

In der „Kirche“ bekommen wir fast alle folgende Bauphilosophie mit an die Hand: „Bete darüber, und wenn es sich richtig anfühlt, dann los.“ UND „Wenns vom einem ‚Bauleiter‘ kommt, dann ists meistens oder immer richtig. Da muss nicht viel hinterfragt werden.“

Obwohl diese Bauphilosophien wohl sehr häufig vermittelt werden, gehen Menschen dann sehr unterschiedlich vor. Manche stürzen sich in die Anweisungen ihrer „Bauleiter“ – und bauen hastig ein Gebäude auf, ohne sich viel dabei zu denken.
Andere prüfen jedoch jede einzelne Anweisung der Bauleiter sowohl mit der Gefühlsmethode als auch mit der Verstandesmethode, manche entdecken Widersprüche und folgen ihrem eigenen Weg oder geben den Bauleitern Rückmeldung, dass etwas nicht stimmt.
Wieder andere sind nicht mit den Anweisungen dieser Bauleiter aufgewachsen und bringen ihre ganz eigenen Philosophien mit ein – häufig zum Guten, wie meine Erfahrung zeigt.

Man braucht wohl kaum erwähnen, dass diese Gebäude dann auch ziemlich anders werden und auch eine andere „Standfestigkeit“ und „Sturmresistenz“ haben.

Ich persönlich kann sagen, dass ich durch meine ganz eigenen Voraussetzungen eher zur ersten Kategorie gehörte. Aus einer Mischung neuer und verstaubter kirchenkultureller Bauanleitungen baute ich mir ein riesiges und schönes, aber teils wackeliges als auch menschenfeindliches Konstrukt.
Mein Gebäude war nicht nur insgesamt „Einsturz-gefährdet“, sondern enthielt eine ganze Etage „Seelenfolterkammern“, die nach dem Gedankengut der Bauanleitungen wie z.B. „Das Wunder der Vergebung“ (Spencer Kimball) gebaut wurden. Darin folterte ich mich selbst und andere gleich mit. Da es aber nach Anleitung war und da „Vergebung“ drauf stand, dachte ich mir ca. 30 Jahre nicht viel dabei…auch wenn es sich schon manchmal etwas seltsam anfühlte…bis irgendwann bei mir der „grosse Knall“ kam, ein innerer Zusammenbruch.

Ja, mein Gebäude enthielt auch sehr viele wunderschöne „Kuschelecken“, die ich aus den Prinzipien der Liebe und göttlicher Akzeptanz baute. Es erhielt auch ein Solarium und eine Sauna, in denen ich viel Licht und Wärme tanken konnte.

Man könnte sich fragen: Wenns so viel Gutes in dem Gebäude gab, warum baut man nicht einfach die Seelenfolterkammern um oder renoviert diese paar Räume? Und warum verstärkt man die brüchigen Mauern nicht einfach?

Ich glaube für manche funktioniert das emotional einfach nicht, was wohl die meisten verstehen. Ausserdem sind da ja nicht nur die Folterkammern, sondern auch noch die erkannte Tatsache, dass das Gebäude insgesamt aufgrund von rückwirkend entdecktem Baupfusch sogar im Fundament nicht ausreichend Festigkeit hat.

Jeder Mensch wird etwas anders mit dieser Situation umgehen. Manche werden versuchen, einen Teil abzureissen. Andere sehen sich gezwungen, das ganze Gebäude einreissen und neu zu bauen. Es gibt bei unterschiedlichen Menschen auch unterschiedlich viel einzureissen. Das dauert bei manchem bis zu zehn Jahre und mehr, bei anderen kann das in wenigen Wochen oder Monaten geschehen. Ich persönlich bin ja einige Jahre damit beschäftigt gewesen und habe mir vorgenommen, dabei etwas zu lernen über die Fehler, die beim Bau entstanden waren. Das kann mir nun nützlich sein, wenn ich mein Weltbild und meinen Glauben neu zusammensetze. In dem Prozess bin ich grad, weswegen meine „Destruktivität“ auch nachgelassen hat, wie vielleicht dem ein oder anderen auffällt. Auch wenn ich diejenigen total verstehe und unterstützen möchte, die grad im „Auseinandernehmen“ des Gebäudes sind. Mein Gebäude liegt schon flach, der Bauschutt wurde grösstenteils entsorgt und ich baue grad neu.

Was ich beobachtet habe: Wenn man sein Gebäude neu baut, geht man in der Regel deutlich vorsichtiger vor. Der Zusammenbruch eines solches Weltbildes ist unheimlich traumatisch für viele dieser Menschen…vielleicht die schwierigste Erfahrung die sie in ihrem Leben machen.

Konzepte wie „Kirchenautoritäten“, „Gehorsam“, „gefühlsbasierte Wahrheitsfindung“ und „Bauanleitungen, die für alle gelten“, rufen dann Unbehagen hervor, weswegen unzählige dieser Menschen es auch nicht schaffen, wieder in einer Kircheninstitution wie der HLT-Kirche Fuß zu fassen, so sehr sie sich das Gefühl der Gemeinschaft und Geistigkeit zurückwünschen und auch wenn sie die vielen guten Ansätze der Institution anerkennen.

Mich würde es sehr interessieren, wie Ihr dazu denkt!

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S.H.
S.H.
3 Jahre her

Ich weiß, was du meinst. Und ich stehe gerade mit einem Hämmerchen von meinem Gebäude und bin noch unentschlossen, ob ich nur ein bisschen die Fensterscheibeneinklopfen oder doch lieber gleich die Abrissbirne einsetzen sollte…

Enrico
Enrico
3 Jahre her

Mal was positives von mir. comment image  Ziemlich gut geschrieben und interessanter, bildlicher Vergleich mit dem Gebäude und Bauleiter. Ich habe ähnliche Erfahrungen und Beobachtungen gemacht. Und trotzdem hat jeder seine Meinungsfreiheit und der gesunde Menschenverstand entscheidet was seiner Seele gut tut. Kirchenführer geben Empfehlungen auch wenn in einigen Gemeinden das manchmal sich anders anfühlt. comment image

Sven
Sven
3 Jahre her

Ich will das gesagte nicht schmälern – das ist auch ein interessanter Text. Du kannst aber in jeder Selbsthilfegruppe für Sektenopfer ähnliche Gedanken und Geschichten hören. Je nach Indoktrination und Persönlichkeit, gibt es verschiedene Umgangsformen damit-, aber auch Phasen die bei vielen ähnlich ablaufen. Die menschliche Psyche trotz Reflektion (im Gegensatz zur Tierwelt), ist eben doch genetisch auch noch in der Steinzeit gefangen. Meine Macke ist, dass ich wahrscheinlich so ein Problem mit Söder (und ein paar anderen Politikern) habe, dass mich seine „Predigt“ wohl etwas an Kirchenführer erinnert, die undifferenziert argumentieren …. comment image

Simon
Simon
3 Jahre her

Was du beschreibst, Guido Müller, ist ja im Grunde das Gleichnis vom Haus, was auf einem Felsen gebaut wird als Fundament, statt auf Sand. Im Kern geht es genau um diesen Zustand. Denn wenn der Regen und Sturm des Lebens auf das Haus einprasseln, wird die Standfestigkeit auf die Probe gestellt. Kommt dies von Außen, erreicht sie das Fundament genauso wie hastig oder nicht ausgereift angebaute Räume des Hauses. Es muss also nicht unbedingt das ganze Haus einstürzen, aber Teile davon. Ich denke, dass dieser Prozess ein Leben lang anhält. Übrigens fällt mir dazu gerade ein, dass der Salt Lake Tempel gerade auf ein erdbebensicheres Fundament gestellt wird. Auch das gilt für unser „Haus des Glaubens“, können wir alle sehr gut gebrauchen. Anders sieht es aus, wenn das Unwetter eben nicht das Haus, sondern den Bewohner selbst verändert. Wie du schon sagst, muss man dann Räume einreißen und neu bauen, in manchen Fällen mit einer Abrissbirne komplett durchpflügen und letztlich mit ’ner Dampfwalze alles platt machen. Wenn eine geistige Kernsanierung auch nicht mehr ausreicht, muss ggf. sinnbildlich das Gebäude gesprengt werden, weil das Betongerüst zu wenig Spielraum hergibt. Und das ist einschneidend und hart. „Nachbarn“ oder Hausbesucher werden zwar das Schöne am Haus zu retten versuchen oder hervorheben, doch wenn man sich selbst darin nicht mehr wohlfühlt, ist es irgendwie unvermeidlich. Das Schöne an allem ist, das man immer wieder neu anfangen kann. Wobei ich da nicht im Sinn habe, dass der Selbstzweck im Neuerrichten des gesamten Hauses liegt. Schließlich bin… Weiterlesen »

David V.
David V.
3 Jahre her

Um im passenden Vokabular zu bleiben: Ein Hammer Vergleich!!! Find ich super, lässt mich überlegen!
Hab für mich auch die Gedanken gehabt, dass ich selbst erkennen muss, welches tragende Wände im Gebäude sind und welche nicht notwendig sind oder gar hinderlich. Vertrauen kann ich da auf den Baumeister leider nicht, weil er meint alles ist tragend, aber viel Fassade.
Sehe mich im Prozess des Entkernens des Gebäudes, viel bleibt vielleicht nicht übrig, aber schließlich muss ja alles raus was nicht passt.
Danke für den Vergleich!

Miriam
Miriam
3 Jahre her

Mir gefällt Dein Vergleich sehr gut! Das hilft beim Sortieren und ERKLÄRT das was Du sagen möchtest und fühlst.
Ich mag die Sauna und das Solarium. Ich mag auch den Bauherren, an den ich im Hintergrund glaube. Das Üble ist, dass das Fundament (ähnlich wie beim SL Tempel) mehr Schäden aufweist, als von mir angenommen. Ich kann es mir schön lesen, aber das entspricht nicht der Realität.
Die Verantwortlichen am Bau machen auch Fehler, die Langzeitfolgen haben. Wie Du sagtest, je nach Bauort und Baupersonal.
Das Übelste für mich ist, dass ich dem Bauleiter des Fundamentes vertraut habe und er mehr geblendet hat als mir lieb ist.
Ich für meinen Teil finde ein Wühlen oder Durchstöbern des Bauschuttes (nach dem Abriss) nur teilweise gut für mich. Zum Erfahrungen sammeln, um es jetzt besser zu machen/zum Verständnis, ist es gut.
Nach dieser Phase ist ein „nach vorne schauen“ und auf Gott/Christus blicken für mich der Weg.
Ich bewege mich zwischen niedergerissenen Mauern, die mir mehr Luft zum Atmen geben und den Überlegungen, dass es Grenzen gibt, die gesunde Struktur geben. Es kann heilend sein, erst mal alles niederzureissen und dann neue Definitionen von klaren Linien zu finden.
Ich mag Luft, große Fenster und Weiten. Enge Mauern ohne Fenster mag ich nicht.
Ich baue an einem Konstrukt mit Weitblick, großen Fenstern und Türen, das mir Schutz und Wärme gibt wenn ich das brauche….
A la Bob d. B. : Wir schaffen das! comment image

Peter
Peter
3 Jahre her

Wer Hausbesitzer ist, weiß das man ständig sanieren muss und für einen kompletten Abriss und Neubau fehlen in der Regel die finanzielle Mittel. Als wir unser Haus gebaut haben, gab es auch viel Pfusch am Bau und Bauleiter, die ihrer Aufgaben nicht richtig gemacht haben, aber als Bauherr sollte man kein blindes Vertauen in den Bauleiter und den ausführenden Firmen haben und deren Arbeit überprüfen. Bei uns gab es Pfusch am Dachstuhl und beim Estrich. Das haben wir so nicht abgenommen und auf Nachbesserung bestanden, was vom Bauleiter auch zum Teil auch ausgeführt wurde.
Nun, was will ich damit sagen? Wir haben ein schönes Haus und sind damit glücklich, sanieren muss man immer, aber ein kompletter Abriss ist eine Verschwendung von kostbaren Ressourcen, schafft jede Menge Schutt und Abfall und erfordert mehr finanzielle Mittel als wir haben. Nicht umsonst werden auch denkmalgeschützte Gebäude aufwändig saniert. So eine Entscheidung muss aber jeder Bauherr für sich alleine entscheiden denn nur er kennt den Zustand seines Gebäudes und seine finanziellen Mittel.

Daniela
Daniela
3 Jahre her

Ich versuche meine Dialoge achtsam zu führen. Das ist leider manchmal bei dem Thema nicht möglich. Da geh ich dann auf Abstand weil ich niemanden Überzeugen muss…

Chantal
Chantal
3 Jahre her

Lieber Guido, nur weil der andere das nicht sieht was du siehst, heißt es nicht das es das nicht gibt. Verleugnung und klein machen von erlebten Tatsachen sind sehr toxisch für Betroffene und da kann ich nur zu Abstand raten. Da bringt auch keine Diskussion sei furchtlos und mache weiter.

S.H.
S.H.
3 Jahre her

Was für eine erbauende Unterhaltung hier comment image
Ich schließe mich hiermit sämtlichen Vorredner*innen an comment image

Naomi
Naomi
3 Jahre her

Hat sich die Kirche nicht vom „Wunder der Vergebung“ distanziert?? Die Frage stelle ich, da dieses Buch am Anfang erwähnt wird. Weiss da jemand was? Ich hatte so was mal gehoert, bin aber nicht mehr sicher. Vielleicht weiss ja jemand etwas.

Jörg
Jörg
3 Jahre her

Ich muss mich mal zu deinen Aussagen am Anfang des Textes äußern comment image : die beiden ersten sind leider zu oft zu finden. Die Frage „Wie kommt es, dass wir das so unterschiedlich wahrnehmen?“ empfinde ich als positiv – daraus kann (nicht muss) ein interessantes und für beide Seiten erhellendes Gespräch entstehen. Es ist doch gut, mal ein Stück in den Schuhen des Gegenübers zu gehen; zu versuchen, seinen Blickwinkel einzunehmen und zu verstehen; … .
Wir vertreten hier in dieser Gruppe doch auch unterschiedliche Meinungen und Standpunkte. Ich bin dankbar, dass ich hier als aktives Mitglied nicht blöde angegangen werde – das bedeutet aber für mich auch, dass ich Liebe und Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Standpunkten zeige.
Was alle (??? – zumindest habe ich da noch nichts Gegenteiliges gelesen) verbindet, scheint doch unser Bestreben zu sein, Christus besser kennen zu lernen, ihn zu lieben (und natürlich auch unsere Mitmenschen und uns selbst) und ihm nach unserem persönlichen Empfinden und Verständnis nachzufolgen.