„Sich fast schon märtyrerhaft ins soziale Aus begeben, um sonntags am Pult die Gemeinde zu Tränen zu rühren“

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Erlerntes Anecken: Beim Aufräumen meines Jugendzimmers fiel mir ein Mormonad-Kärtchen in die Hand (wer kennt die noch?), welches mich an einen Themenkomplex erinnerte, mit dem ich mich bei meiner persönlichen Aufarbeitung meiner Geschichte beschäftigt habe und weiter beschäftige: Mormonismus als Subkultur sowie soziale Normen und daraus resultierende von der Masse abweichende Verhaltensweisen. Anders formuliert, geht es mir um negative soziale Konsequenzen, welche durch im Kirchenumfeld erlernte und verstärkte Verhaltensweisen zu Stande kommen. Wie oft habe ich es erlebt, dass ich in meiner Jugend eine Außenseiterin war, weil ich anders lebte und handelte. Wie oft habe ich mich durch die soziale Ächtung meiner weltlichen Mitmenschen in meinem Glauben bestärkt gefühlt? Es ist aus heutiger Sicht nahezu paradox, wie Kirchenmitglieder sich im Alltag fast schon märtyrerhaft ins soziale Aus begeben, um dann sonntags am Pult die Gemeinde zu Tränen zu rühren mit einer solchen Begebenheit. Tränen der Bestätigung und Tränen der Rührung wegen vermeintlichen Mutes. Aber über die langfristigen, sozialen Konsequenzen denkt keiner nach.

Anecken durch Sabbatheiligung

Als Kind und Jugendliche war ich sehr vulnerabel für dieses mentale Medaillensammeln. Ich habe gelernt, dass es gut ist, anzuecken und querzuschlagen.

„Als Kind und Jugendliche war ich sehr vulnerabel für dieses mentale Medaillensammeln.“

Ebendies machte mir allerdings in der Welt zu jener Zeit Probleme und ich übersah die Bedürfnisse meiner Mitmenschen sogar aufgrund dessen. Zum Thema Sonntagsruhe habe ich da zwei Beispiele. Ich hatte mit 18 einen Ferienjob in einem Pflegeheim, in welchem ich morgens die Brote schmierte. Ich weigerte mich, sonntags zu arbeiten. Meine Stationsleitung und Kollegen war damit nicht glücklich und ich hingegen war so stolz auf mich, das durchgedrückt zu haben. Dass aber die Senioren auch sonntags frühstücken müssen und dass dann ein anderer den Job machen musste, daran dachte ich überhaupt nicht. Auch bemerkte ich zwar, dass die Kollegen sich mit den Wochenenden abwechselte, aber mein Grund schien mir viel wichtiger. Ein anderes Beispiel hierzu waren Theaterprobentermine vor Schulaufführungen. Unter der Woche und am Sonntag mussten diese teilweise allein wegen mir umgeplant werden. Wenn ich mir heute vorstelle, dass in einer Theatergruppe sich eine Person weigert, 1-2 Sonntage nicht in die Kirche zu gehen (die ja sonst immer besucht wird!), und deshalb Proben auf nachmittags gelegt werden, dann würde mich das als Teil einer großen Gruppe auch aufregen. Hauptsache, meine Sonntagsruhe war gewart. Ich will die positiven Seiten, dieser Fähigkeit des Sich-Behauptens nicht außer Acht lassen. Auch nicht, dass es wichtig ist, dass andere Respekt für religiöse Bedürfnisse haben. Die sozialen Probleme sind aber nicht von der Hand zu weisen und es muss sich die Waage halten. Zwanghaft wurde immer das richtige getan, musste ich immer hervortreten, brauchte immer Sonderlösungen. So macht man sich in einer Gruppe nicht beliebt. So grenzt man sich ab und aus.

Anecken durch Geschenkverweigerung

Mitunter verletzt man auch Menschen, die einem etwas schenken wollten. Spontan fällt mir noch das Thema Alkohol ein und wie es in manchen Regionen schwer ist, Anschluss zu finden, wenn man nicht am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, weil man nicht trinken will und sich auch nicht mit Menschen umgeben will, die trinken (also man gar nicht hingeht). Ich sehe auch meine Eltern hochwertige Alkoholgeschenke in den Ausguss kippen. Natürlich kann Alkoholkonsum auch Gruppenzwang bedeuten, aber ich denke, ihr seht meinen Punkt. Dieser Themenkomplex beschäftigt mich schon lange und ich gerate immer mehr in die

„Noch blöder ist, dass man sich in einigen Kirchennarrativen bestätigt fühlt, weil man ja Ausgrenzung erfährt.“

Erkenntnislage, dass man in der Welt eine soziale Prädisposition erleidet während man innerkirchlich sozusagen sich einen guten Stand verschafft. Blöd dabei ist dann insbesondere, dass man in ersterer 90% der Lebenszeit verbringt. Noch blöder ist, dass man sich in einigen Kirchennarrativen bestätigt fühlt, weil man ja Ausgrenzung erfährt. Eine angeblich schlechte oberflächliche Welt also, in der alle angeblich nur auf sich schauen. Heute lebe ich auf der anderen Seite des Problems: Bloß nicht anecken. Mir meinen Teil denken. Wenn es aber doch mal nötig ist, weiß ich jedoch wenigstens wie es geht.

Passive Ausgrenzung

Allzu oft passiert das Ausgrenzen aber auch von ganz allein. Wir alle wissen, dass Kinder schrecklich sensibel fürs Anderssein sind – im negativen Sinne! Mit Beginn des Gymnasiums wurde ich versehentlich in den evangelischen Unterricht eingetragen, obwohl meine Eltern Ethik beantragt hatten. Deshalb musste ich etwa in der 3. Schulwoche mit der Lehrkraft sprechen. Diese hatte wiederholt nach mir zu Stundenbeginn gefragt. Meine Mitschüler teilten mir das mit und prompt fragten sie, warum ich nicht dort hinginge. Und schon wussten sie auch warum. Als ich dann noch kurz vor Stundenbeginn mit der Lehrkraft sprach wusste es im Laufe des Tages der gesamte Jahrgang. Ab da war ich die Mormonin und in der 6./ 7. Klasse rum knallte man mir „Mormo“ im Sprechgesang entgegen, während man meinen Rucksackinhalt auf den Boden kippte. Mobbing. Das lag natürlich nicht nur an der Religionszugehörigkeit, aber es war für die Täter ein gefundenen Fressen.

„Das stete Sich-Erklären-Müssen“

Ungewollte Ausgrenzung ist also noch ein ganz anderes Thema und mit dazu gehört auch, das stete Sich-Erklären-Müssen. Von Seiten der Kirche wurde man immer darauf trainiert, solche Momente missionarisch zu nutzen. Heute weiß ich, wie sehr meine Mitmenschen von dem in der Kirche eingeübten Satzbausteinen genervt und irritiert waren. Das sind auch soziale Folgen, über die man mal sprechen sollte. Denn ich selbst dachte ja immer, ich täte das Richtige.

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A.S
A.S
2 Jahre her

Ja das kommt mir auch sehr bekannt vor.
Du beschreibst es sehr treffend.
Das eingelernt Märtyrer hafte! Und das bewusste “ ich bin anders “ . Der “ Elitism“ – seine Lebensgestaltung über die der anderen finden….
Die Beispiele „Andere am Sonntag arbeiten lassen “ und Theaterprobe sind so typisch!
Auch das Wegschütten von hochwertigen Alkohol ( so schade darum. Hätte man nicht anderen damit eine Freude machen können).
Danke für dieses genaue Sittenbild. Genau so hab ich manche Familien kennengelernt ( ich selbst war ja nur ab 42 Jahren kurz mormonin )

anonym
anonym
2 Jahre her
Reply to  A.S

Gerne, ich habe die letzten 6 Jahre gebraucht, um diese Sache nun so aussprechen zu können.
Bezüglich des Alkohols ging es mir auch darum, dass es ja nun teilweise wohl überlegte Geschenke waren, die Menschen meinen Eltern machten. Und daneben zu stehen und zu wissen, dass es für meine Eltern eigentlich eine Last war, so etwas zu erhalten, war schon immer komisch. Wie sich wohl die Menschen fühlten, da sie nie eine Rückmeldung bekamen oder nie mit so etwas beschenkt wurden? Oder was, wenn sie irgendwann erfuhren, dass meine Eltern gar keine Freude und Verwendung haben würden? Da muss ich spontan an my Big Fat Greek Wedding denken und an die Vegetarier, die dann doch Lamm essen.

BLAU
BLAU
2 Jahre her

Sehr gut beschrieben. Ich rede mir eigentlich bis heute ein, dass ich durch die Erfahrungen sensibler geworden bin. Aber im Grunde fehlte eine gesunde Mitte. Mir hängt bis heute nach, dass durch die Initiative eines Nachbarn in den Handballverein gekommen bin. Mir tat das als schüchterner 12jähriger, nicht besonders sportlicher Junge unheimlich gut. Denn ich entwickelte mich schnell und wir wurden sogar im zweiten Jahr Kreismeister. Das stärkte mein Selbstbewußtsein und ich lernte echten Teamgeist kennen. Als wir (unnötigerweise) mal wieder umzogen, meldeten mich meine Eltern gar nicht mehr im Verein an, weil in BaWü sonntags die Spiele stattfanden. Ein großer Verlust eines Hobbys das mir persönlich so viel gab.

Daniela
Daniela
2 Jahre her

Ich fand den Begriff des märtyrerhaft ins soziale Aus gehen sehr sehr treffend. Genau das ist es.