Mein abschließendes Fazit zum Buch Mormon

Von Guido Müller

Nach vielen Jahren intensiver persönlicher Beschäftigung und Glaubensgespräch zum Buch Mormon habe ich erkannt, dass sich nach einer heissen, intensiven und dynamischen Phase meine eigene Sichtweise gefestigt und „abgekühlt“ hat. Quasi wie der Pudding der nach Mixen und Erhitzen endlich im Kühlschrank zur Ruhe kommen darf. So ist es auch beim Buch Mormon.

Mittlerweile rede ich auch kaum noch mit Leuten in meinem Umfeld über das Buch Mormon…somit darf dies gerne als abschliessende Äusserung meiner persönlichen Sichtweise betrachtet werden. Dabei habe ich keinesfalls den Anspruch auf irgendeine Vollständigkeit, sondern lege einfach nur meine Gedankengänge und Schlussfolgerungen dar. (Diese sind nicht dazu da, sie einfach zu übernehmen, sondern sollen zur eigenen Beschäftigung mit den Themen anregen, sofern erwünscht und „safe“ für Euch.

Es gibt für mich keine simplen Antworten mehr

Mir ging es in meiner Beschäftigung der letzten Jahre nicht nur um die üblich thematisierte (und leider oft extrem eindimensional gestellte Frage): „Ist das Buch wahr oder falsch?“, da es, – soviel kann ich vorweggreifen – für mich gar keine simple Antwort mehr gibt. Es geht für mich auch um folgende Fragen:

  1. Welche Sichtweise auf das Buch Mormon und dessen „Hervorbringer“ Joseph Smith ist fair und angemessen?
  2. Muss, kann oder will ich noch geistigen Nutzen aus dem Buch ziehen? Auch wenn ich persönlich (*SPOILER ALERT*) seinen religionshistorischen Haupt-Erzählstrang für unwahr und frei erfunden halte, genau genommen für Wunschdenken, das im frühen 19. Jahrhundert auch vor Joseph Smith bereits üblich, verbreitet und verfügbar war.
  3. Kann oder möchte ich trotz meiner neuen Sichtweise an Gottesdiensten und „Glaubensgemeinschaft“ teilnehmen, in denen dieses Buch die geistliche Basis bildet?
  4. Möchte ich, dass meine Kinder weiterhin daran teilnehmen?
  5. Wie gehe ich mit den zahlreichen Menschen in meinem Umfeld um, deren gesamtes Lebensfundament, Sozialleben und Moralverhalten an die Frage gekoppelt zu sein scheint, ob dieses Buch und seine offizielle Entstehungsgeschichte auch tatsächlich authentisch sind?

Ich starte heute mal mit der ersten Frage:

Ist das Buch Mormon nun wahr oder falsch?

Mittlerweile ist mir mehr als klar, dass diese Frage für eine fruchtbare Glaubensdiskussion völlig ungeeignet ist, da jeder eine völlig unterschiedliche Wahrnehmung von der Bedeutung und dem Inhalt dieser Frage haben kann und es Glücksache ist, wenn man nicht aneinander vorbei redet.

Somit versuche ich mal im „Angela Merkel Stil“ 😉 das Problem sehr kühl in zwei Teilprobleme und Teilfragen aufzusplitten: 1) die religiöse und historische Haupterzählung und 2) der spirituelle Inhalt.

1) Die religionshistorische Erzählung

Ist die Haupterzählung des Buches Mormon wahr? Diese lautet, dass „gottesfürchtige“ Israeliten mit selbstgebauten Schiffen nach Amerika ausgewandert sind, dass dort verschiedene Völker israelitischer Abstammung entstanden, dass diese sich bekriegten und nur die Vorfahren der heutigen Indianer überlebten…. Genau genommen heißt die Frage: Ist dies wirklich geschichtlich so passiert und halte ich diese Behauptung für „wahr“?

Bei allem Respekt: Ein entschiedenes und völlig unverhandelbares Nein! Es handelt sich dabei ganz sicher um einen religionshistorischen Mythos. Nicht nur wissenschaftliche DNA-Analysen und Archäologie weisen immer wieder in diese Richtung. Es reichen ja leider auch schon relativ simple literarische Analysen des Buches Mormon und anderer Veröffentlichungen von Joseph Smith, sowie eine offene Beschäftigung mit dessen persönlichem Werdegang, um die religiös-historische Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Man erkennt dann einen bestimmten Modus und auch dazugehörige schlüssige Motive, die Smith dazu führten, eben diese Schriften, Geschichten und religiösen Muster zu produzieren. Das erste Werk war ja das Buch Mormon.

„Die geschichtliche Haupterzählung des Buches Mormon ist mit den heutigen wissenschaftlichen Methoden klar falsifizierbar.“

Dieser Modus lautete in der Anfangszeit von Joseph Smiths Wirken: Ein vermeintlich religionshistorisch top-relevantes „Artefakt“ wird selbst erschaffen, gefunden oder von irgendjemandem zu Joseph Smith gebracht, weil er wiederholt behauptete, alte Sprachen übersetzen zu können und den Ursprung und die Bedeutung der Artefakte hervorbringen zu können. Und von JS wird eine sensationell-inspirierende, aber für damalige Verhältnisse ziemlich stimmige und glaubhafte Geschichte dazu geschaffen. Die geschichtliche Haupterzählung des Buches Mormon war mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln schwer überprüfbar, aber mit den heutigen wissenschaftlichen Methoden, gekoppelt mit der Informationsverfügbarkeit des Internets sind sie teils durchaus überprüfbar und in genügend Fällen für mich klar falsifizierbar. (Was nicht bedeutet, dass die weiteren Inhalte nicht geistig wertvoll sein können, aber das steht auf einem anderen Blatt und dazu komme ich später.)

Das Buch Mormon – ein Produkt des 19. Jahrhunderts

Woraus entstand die Geschichte des Buches Mormon? Ich würde mittlerweile sagen, aus persönlicher Inspiration und Intuition von Joseph Smith – vermischt mit weit verbreitetem religionshistorischen Denken der Zeit und spirituellem Gedankengut aus Smiths Umfeld. Während wir völlig geflasht sein mögen von den Ideen des Buches, war es damals eine durchaus verbreitete Vorstellung und keinesfalls neu, dass die Indianer von den Israeliten abstammen. Und die spirituellen und theologischen Inhalte des Buches haben häufig einen methodistischen Einschlag, da Joseph Smith dem methodistischen Denken sehr nah stand.

„Im Mormonismus treffen methodistische Züge des Buches Mormon auf Freimaurertum im Tempel“

Später kommen in Joseph Smiths kreativem Schaffen als Religionsbegründer auch andere Einflüsse hinzu, wie zum Beispiel das Freimaurertum. Daher haben viele, die ich kenne, beim Lesen des Buches Mormon auch ein völlig anderes Grundgefühl als beim Besuch des Tempelendowments. Während das eine sich teils wie das Lesen einer machtvollen methodistischen Predigt anfühlt, kommt man sich im letzteren vor, wie in einer Zeremonie der Londoner Freimaurerloge. (Gibt neuerdings ne Netflix-Doku dazu…gerne mal reinschauen) Das liegt daran, dass hier zwei völlig unterschiedliche Einflüsse aufeinandertreffen, die wiederum auf Smith eingewirkt haben. Dass aber die Nephiten auf ähnliche Art und Weise wie Methodisten gepredigt haben sollen, sich voller Pein und Reue auf den Boden warfen und laut „Rette mich aus der Hölle, Jesus!“ ausgerufen haben sollen, ist sehr schwer glaubhaft. Auch dass sie genau wie Methodisten auf ihren „Camp Meetings“ zur Zeit Smiths zahlreiche Zelte um ein erhöhtes Podest herum aufgestellt haben sollen, um einem Prediger zu lauschen, kommt einem bei näherer Betrachtung sehr unglaubhaft vor. Unglaubhaft ist auch:

  • dass vielfach Bibelstellen nur leicht oder gar nicht abgeändert im Buch Mormon erscheinen
  • dass vielfach Geschichten aus Smiths Umfeld in einer adaptierten Form erscheinen (zum Beispiel der Traum von Joseph Smiths Vater in leicht abgewandelter Form als der Traum Lehis)
  • dass vielfach Literatur aus Smiths Umfeld sowohl in Ausdrucksweise als auch Inhalt so stark adaptiert wird, dass man den von Politikern gefürchteten Plagiatsjäger drauf ansetzen möchte: „The Late War“, „View of the Hebrews“, „First Book of Napoleon“
  • dass vielfach Bezeichnungen aus Smiths Umfeld im Buch Mormon erscheinen: bestes Beispiel sind auch meiner Sicht die Bezeichnungen „Comorah“ und „Moroni“, die aus den Piratengeschichten über Captain William Kidd stammen, und auf der Google Maps Landkarte von Madagaskar zu finden sind (Als Komoren-Inseln mit dem Ort „Moroni“ – gerne mal selbst suchen)

Dass Joseph Smith der selbst einige Jahre mit Elan in der Schatzsuche involviert war, diese Geschichten toll und faszinierend gefunden haben mag, leuchtet ein.

2) Das Buch Mormon enthält spirituelle Weisheit

Enthält das Buch inspirierende Geschichten und spirituelle Wahrheit bzw. Weisheit, die mitunter mein Herz berührt haben? Könnte man das Buch also auf diese Art für „wahr“ und „wertvoll“ halten? Genau so wie es zur ersten Teilfrage ein entschiedenes Nein gegeben hat, gibt es hier von mir ein entschiedenes und unverhandelbares JA!
JA, ich fand und finde viele Gedankengänge und Geschichten des Buches sehr hilfreich und inspirierend. Ich fand es sehr hilfreich, mich dadurch mit Themen wie Nächstenliebe und Vergebung beschäftigen zu dürfen.

  • Das Gleichnis vom Baum mit der weißen Frucht…für einen jungen Menschen der Orientierung sucht im Leben sehr fesselnd und auch aus heutiger Sicht immer noch bewunderswert ausgeschmückt…ein Meisterwerk. Ja, die Nächstenliebe und Liebe sind eine wunderbare Frucht, die ich kosten möchte und die Menschen wirklich „satt“ macht und ihrem Leben Bedeutung gibt. Wenn man dem Gedanken den Aufkleber „göttlich inspiriert“ beifügen möchte, habe ich nichts einzuwenden…so rein gar nichts. Nur würde ich nicht sagen, dass der Mormonismus diesen Gedanken exklusiv hat.
  • Die Predigt von König Benjamin, also der Gedanke, dem Nächsten zu dienen, als wenn man Gott dient, und Gott zu dienen, indem man dem Nächsten dient. Wirklich sehr schön und das gibt dem Glauben einen sehr hilfreichen Fokus.
  • Die Gedanken die dem Propheten Mormon zugeschrieben werden sind wunderschön, nämlich die Kritik an Kirchen und Geistlichen welche menschliche Weisheit, Geld und Ansehen über das Wohlergehen der Schwachen und Armen stellen.
  • Im Buch Ether der Gedanke, dass „Schwaches für uns Stark werden“ kann, wenn wir Glauben und Hoffnung nicht aufgeben und uns auf „Gott“ verlassen. Wunderschön, sogar wenn man wie ich offen lässt, ob es einen Gott im mormonischen Personenverständnis gibt.

All diese schönen Gedanken sind auf eine Weise „wahr“ für mich, weil sie mich inspirieren, und weil ich die positive Energie dieser Gedanken fühlen kann. Wenn ich mich drauf einlasse und darüber nachdenke, werde ich mit Sicherheit auch meine Mitmenschen besser behandeln als zuvor.
Leider trägt all dies aber genau betrachtet rein gar nichts dazu bei, diese ganze Veröffentlichung auch historisch wahrer und authentischer zu machen.

Und es sei auch gesagt, dass das Buch Mormon einige sehr ungesunde und toxische Gedankenansätze enthält,

  1. zum Beispiel das Gedankengut, dass sich die Hautfarbe „rechtschaffener“ Menschen aufhellt.
  2. Die angstbasierte Indoktrination dass Satan uns verfolgt, nie schläft und dauerhaft auflauert und dass jeder Mensch, der dies in Frage stellt, vom Satan verführt worden ist.
  3. Und der Gedanke, dass ein Mensch der nicht in jeder Sekunde zu Gott betet, dadurch der Macht dieses Satans anheim fällt und seinen eigenen Gedanken misstrauen sollte.

etc.

Eine Fortsetzung folgt.

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Sven
Sven
2 Jahre her

Sah ich immer ähnlich. Seit ich kürzlich allerdings diesen Podcast mit drei indigenen Mormoninnen hörte, erfasste mich Wut auf das Buch, welches im heutigen Amerika Rassismus und Leid in der community erzeugt: Mormon Stories

S.J.
S.J.
2 Jahre her

Wow wieviel Zeit und Kraft du dafür investiert hast. Danke, dass du uns daran Anteil hast nehmen lassen. Wie stark Menschen, die mit solchem und anderen Gedankengut aufwachsen, darin verwoben werden und wieviel Energie und Arbeit es kostet, sich das alles selbst wieder aufzuspalten, ist echt enorm.
Trotzdem ist nichts umsonst, sondern bringt uns in vielerlei Hinsicht weiter. Ich glaube, dass du mittlerweile viel besser differenzieren kannst und schneller Inhalte durchschaust. Wir werden vlt noch öfter dieses Unterscheiden durchlaufen müssen. Das macht uns aber auch stark, geduldig und gelassener, wenn wir Lüge nach Lüge enttarnen und trotzdem auch das Gute und Reine rausfiltern können. Ich glaube das ist göttlich, denn wenn es stimmt, unterscheidet er auch und betrachtet alles nach solcher Vorgehensweise. Er hasst die Sünde, erkennt aber auch das Gute im Sünder usw.

David
David
2 Jahre her

bin auf die Fortsetzung gespannt. Ich muss ja sagen, ich bin immer und immer wieder erstaunt wie gutgläubig wir doch alles (gewesen) sind. Würde uns eine derartige Geschichte über ein Buch von einer anderen Glaubensgemeinschaft präsentiert werden mit all den Ungereimtheiten, wir würde die zerlegen und in der Luft zerfetzen. Warum misst man die eigenen Tradition/Kultur mit derart anderem Maß? (rhetorische Frage!)

Anonymus
Anonymus
2 Jahre her
Reply to  David

Aus der Tiefenpsychologie kennen wir die Lehren der Verdrängung und der Abspaltung von bestimmten Begabungen und Fähigkeiten oder Trieben in den Schatten.