„Religion kann erfüllend sein, oder zerstörend, je nachdem, wem sie begegnet. Mein Engel hatte keine Religion im Gepäck, sondern absolut bedingungslose Nächstenliebe.“

Erlebnisbericht von Juna Kollmeyer

Bildquelle: tinybuddha.com

Ich möchte gerne über ein Erfahrung/Begegnung berichten, die ich bis heute nicht vergessen kann, und die für mich sehr prägend war. Ich habe sie damals in mein Tagebuch geschrieben, daher erinnere ich mich noch an viele kleine Details, die sonst vielleicht verloren wären. Wer mich und meine Geschichte hier nicht kennt: ich bin als transidenter Mensch in der HLT-Kirche aufgewachsen in einer Zeit, wo dort bereits eine solche Orientierung als schlimme Sünde galt. (YouTube-Interview) Möglicherweise ergeben meine Gedankengänge für den Leser etwas mehr Sinn, wenn man diese Hintergrundinformation hat.

„Ich lebte in einer fremden Haut“

Wir gehen zurück ins Jahr 2008, eines der dunkelsten Jahre meines Lebens. Zu dieser Zeit hatte ich bezüglich meines weiteren Werdegangs noch keine Entscheidung getroffen. Ich lebte in einer fremden Haut, betrachtete meine Umgebung aus einer eigenartigen Perspektive, wie die eines Schemens oder Geistes, eines Wesens, das nicht gesehen oder bemerkt wird. Niemand wußte etwas über meinen inneren Kampf, über diesen unerklärbaren und unbeschreiblichen Schmerz der mich jeden Tag quälte. Meine Tagebücher erzählen eine grausige Wahrheit über diese Jahre des Versteckens und bis heute schaffe ich es nicht einzelne Seiten zu lesen, ohne unentwegt zu weinen und erneut zu fühlen, wie ich damals fühlte. Ich steckte in einer tiefen Depression, meine Gedanken rangten irgendwo zwischen Leben und Tod und es gab keine Perspektive.

„Als ich wiederkam, war meine Tasche weg. Ganz weg.“

Meine Wohnung verließ ich nur noch, wenn es sein musste. Ich igelte mich ein und erschuf mir einen trügerischen Ort der Sicherheit und Einsamkeit. Monatelang konnte ich nicht arbeiten, und wenn ich arbeiten ging, setzte ich meine altbewährte Maske auf, die des jungen, fröhlichen Mannes, der immer für einen Spaß zu haben war. Es war ein Alptraum. Im Juni 2008 überredete mich eine Bekannte dazu, sie auf ein Festival zu begleiten „um mal rauszukommen und unter Menschen zu sein“. Es war eines der großen Festivals der Dark-Wave Szene, in der ich mich seit Jahren bewegte und häufig Trost fand. Eines Abends dann besuchte sie jedoch ein anderes Konzert, zu dem ich nicht mitwollte, stattdessen nahm ich meinen Mut zusammen, machte mich ‚feminin‘ zurecht und fuhr mit einem Taxi allein zu einer anderen Tanzparty, auch um dort andere Bekannte zu treffen. Es ging mir das erste Mal seit langer Zeit wieder etwas besser. Zwar fühlte ich mich immer noch unsicher und teilweise unwohl aber die Gegebenheiten dort lenkten gut ab. Ich wollte auch einfach abschalten, den Schmerz nicht zulassen und ja.. auch betäuben. So deponierte ich nach meiner Ankunft meine Tasche bei meinen Bekannten und tanzte zu einem Lied, was mir immer etwas bedeutet hatte. Als ich wiederkam, war meine Tasche weg. Ganz weg. Mit meinem Geld, meinem Ausweis, meinem Handy und allem was mir wichtig war. Meine Bekannten saßen noch immer dort, Niemand hatte etwas bemerkt, sagten sie mir. In diesem Moment brach alles in mir weg. Wie soll ich das beschreiben – klar ist das ärgerlich wenn man das so liest. Aber für mich war das viel viel schlimmer.

„Dieser eine Messerstich, der noch fehlte, um mir das letzte bisschen Vertrauen in die Menschen zu rauben“

Es war nicht die Tatsache, dass ich nun nichtmal mehr eine Ahnung hatte, wie ich zurück in unsere Pension kommen sollte, geschweige denn nach Hause. Es war dieser eine Messerstich der noch fehlte, um mir das letzte bisschen Vertrauen in die Menschen zu rauben. Ich war wie betäubt, nichtmal im Stande etwas zu sagen. Wie eine Maschine steuerte ich dem Ausgang entgegen, ziellos und mit einem einzigen grauen Nebel im Kopf. Draußen regnete es. Ich wollte alleine sein, weg von alldem. Weg von den Menschen, die ich nichtmehr ertragen konnte, oder von denen ich glaubte, dass sie mich nicht ertragen könnten. Ich steuerte einige Treppenstufen an, abseits des Gebäudes kauerte mich dort an die Mauer und weinte. Ich weinte wie schon lange nichtmehr. Es ging längst nichtmehr um meine gestohlene Tasche, es ging um diese Gefangene in mir, die unentwegt schrie. Diese ganzen Gefühle, die ich sorgfältig verpackt und weggeschlossen hatte, brachen nun doch wieder heraus. Niemals in meinem Leben, habe ich mich je so verzweifelt gefühlt, wie an diesem Abend dort im Regen.Und dann setzte sich Jemand neben mich. „Ist alles in Ordnung?“ wollte er wissen. Ich konnte nicht antworten und verfluchte ihn innerlich. Verschwinde, dachte ich, lass mich alleine. Doch er blieb. Er setzte sich sogar neben mich. Er setzte sich neben mich an diese Mauer, in den Regen. Für einen kurzen Moment blickte ich zu ihm rüber. Es war ein Fremder, junger Mann, gekleidet als wäre er Teil dieser Veranstaltung. Er lächelte freundlich. „Hau ab“ brachte ich hervor. „Was ist los?“ wollte er wissen. „Lass mich allein“ sagte ich, obwohl ein Teil von mir hoffte, er würde nicht gehen. Und er ging nicht. Wir saßen eine Weile dort schweigend nebeneinander. Ich versuchte krampfhaft die Tränen wegzudrücken und irgendwie wieder klar zu kommen, es gelang mir nicht. „Wenn du eine Schulter zum weinen brauchst, ich biete dir meine an“ sagte er dann und als ich erneut rübersah, machte er eine einladende Geste mit halb geöffnetem Arm. Es war, als würde er mir eine helfende Hand reichen. In diesem Moment waren es nicht die Tränen, die ich wegstieß, sondern meine Sturheit und meine innere Mauer.

„Es sei wichtig, auf seine Mitmenschen zu achten, sagte er“

Ich konnte nicken und er rutschte dichter an mich heran. Und dann weinte ich eine gefühlte Unendlichkeit im Arm dieses Fremden. Ich kann nicht genau beschreiben, was da in mir vorging, aber etwas in mir beruhigte sich und ich fühlte mich erstmals auf eine neue Art richtig angenommen. Als es mir etwas besser ging lösten wir uns voneinander und er brachte mich zu einem von mir bis dahin unbemerkten Teil des Gebäudes, der überdacht war. Erst jetzt stellte ich fest, das wir völlig durchnässt waren. „Magst du vielleicht was warmes trinken?“ Er organisierte uns dann einen Kaffee, der unendlich guttat. Und dann erzählte ich ihm ungehemmt und schonungslos was mit mir los war. Es war das erste mal das ich mich jemandem öffnete, und dann ausgerechnet einem Fremden. Er hörte mir sehr aufmerksam zu, stellte gelegentlich Fragen oder gab mir einfach das Gefühl, dass es ihn wirklich kümmerte. In dieser Nacht fühlte ich mich erstmals frei und verstanden. „Hast du schon einen Namen?“ wollte er dann wissen. Da ich noch keinen hatte, nannte er mich „Namenlose Schönheit“. Aus heutiger Sicht hatte er etwas von einem Casanova, mit viel Charme und Witz. Aber es ging hier nicht um Partnersuche, es war eine viel wertvollere Begegnung. Anders, als all die oberflächlichen, geistlosen Gespräche die man jeden Tag führt und nicht vermeiden kann. Dieser Mensch gab mir etwas wieder zurück, nämlich Vertrauen. Vertrauen in das Leben, in die Menschen und in mich selbst. Wir unterhielten uns bis es morgens dämmerte und er sich langsam verabschieden musste. Er gab mir sogar etwas Geld für ein Taxi. Bevor er ging, bedankte ich mich und fragte ihn, warum er das für mich getan hatte, anstatt einfach die Feier zu genießen. Da erzählte er mir, dass er einst ähnlich verzweifelt war, wie ich in dieser Nacht. Damals habe er seine Freundin verloren und in einem Zug gesessen, als eine Frau sich zu ihm setzte, ihn tröstete und zuhörte. Das hatte ihn gerettet wie er sagte, und als er mich dort im Regen sitzen sah, wollte er etwas auf eine Art zurückgeben. Es sei wichtig, auf seine Mitmenschen zu achten sagte er. Dann trennten sich unsere Wege. Wir haben uns nie wieder gesehen, ich weiß nichtmal seinen Namen. Abgesehen von einer dicken Erkältung habe ich aus dieser Nacht soviel positive Energie und Mut mitgenommen, die mich durch die nächsten Jahre getragen hat. Dieser Mensch war für mich ein Engel. Auch wir können Engel sein, ganz ohne Flügel und weißem Gewand. Dieser Mensch hat mich nicht verurteilt für meine Gefühle oder mir gesagt dass Kaffee trinken Sünde ist, er hat mir sogar einen angeboten. Mir ist damals klar geworden, dass die eigene innere Entfaltung mein Schlüssel und Weg für Frieden ist. Wenn ich etwas an der Kirche vermisse, dann sind es diese tiefen, emotionalen Momente und Gespräche, die ich seit meinem Austritt oftmals vergeblich suche (vielleicht auch mit ein Grund, weshalb ich hier mitlese). Die innere Mauer ist bei vielen Menschen zu hoch oder zu dick, um noch etwas von dieser inneren Schönheit preis zu geben. Jeder mag dafür seine Gründe haben. Religion kann erfüllend sein, oder zerstörend, je nachdem, wem sie begegnet. Mein Engel damals hatte keine Religion im Gepäck, sondern absolut bedingungslose Nächstenliebe. Er musste keine Statistiken ausfüllen, wie es Missionare tun. Sein Ziel war nicht, mich in irgendeine Richtung zu lenken, sondern mir Mut zu geben, das selbst für mich zu entscheiden den Weg zu gehen, den ich möchte. Stehenbleiben ist eben auch keine Lösung.
Danke an alle, die es vermögen sich in Gesprächen bei openfaith oder auf anderen Wegen zu öffnen, das bedeutet immer eine Bereicherung sowohl für den Zuhörer, als auch für den Erzähler.

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R. Oger
R. Oger
2 Jahre her

Danke viel viel mahl der lange Text war wichtig für mich. Deine Geschichte ist sehr wertvoll und wichtig, dadurch können wir das nötige Einfühlvermögen entwickeln um nächstenliebe für alle zu haben.
Liebe Juna auch wenn ich dich nicht persönlich kenne spühre ich so viel liebenswertes an Dir

S.K.
S.K.
2 Jahre her

Danke, Juna. Habe gerade in Ruhe deine Geschichte gelesen und versucht, so gut es geht alles mitzufühlen. Im übertragenen Sinn hatte dir jemand deine Identität geklaut, obwohl diese ja nicht mal mehr diejenige war, mit der du dich wirklich wohl gefühlt hast. Andererseits war es vielleicht auch gerade ein symbolischer Akt, der dich dazu gebracht hat, dich gegenüber einem Anderen erstmals zu öffnen. Ich nehme vor allem mit, Menschlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren und auch jemandem eine Schulter anbieten zu können. Schön, dass dieser Fremde für dich so da war!

SVen
SVen
2 Jahre her

Wow!

S. Hermann
S. Hermann
2 Jahre her

Liebe Juna,
dieser „überdimensional lange“ Text ist jede Silbe lesens- und mitfühlenswert. Dankecomment image

SVen
SVen
2 Jahre her

Allerdings muss ich mal eines mit einem Augenzwinkern sagen: Ich war auch ne Weile in der Wave Szene, allerdings um 1986 herum. Das hat mich derart runter gezogen, dass ich nach 3 Jahren auf lustigen hip hop und Soul in geschwenkt bin…zur Therapiecomment image Depeche Mode hab ich mir aber erhalten bis heutecomment image

Juna
2 Jahre her
Reply to  SVen

SVen das ist mal ein Wechselcomment image
Mich hat diese Musikszene über zwei Jahrzehnte gefesselt. Gut, heute gehe ich auch nur noch auf Friedhöfe, wenn es unbedingt nötig ist, und auch die Klamotten sind nichtmehr ganz so auffallend wie damals, man wird älter. Aber die Musik ist gebliebencomment image

SVen
SVen
2 Jahre her
Reply to  Juna

Juna Ich höre noch meist elektronische Tanz-Musik, danach kommt wirklich RnB/Soul und Jazzcomment image