Ist Satan verantwortlich für alles Böse in der Welt?

Von Guido Müller

Zahlreiche Gläubige und Kirchenführer erklären, dass das „Böse“ in der Welt durch den Satan komme. Man hört:

  • Der Satan kämpft gegen das Gute.
  • Der Satan zettelt Kriege an.
  • Der Satan kämpft gegen die Kirche.
  • Der Satan hat die Menschen aufgewiegelt, die frühen Kirchenmitglieder und die Pioniere zu verfolgen.
  • Der Satan bringt Menschen dazu, die Kirchenführer zu kritisieren.
  • Der Satan verführt dazu, sich unanständige Dinge anzuschauen.
  • Der Satan verführt uns dazu, zu masturbieren.
  • Der Satan hat Eva dazu verführt, von der verbotenen Frucht zu essen.
  • Der Satan will, dass wir den Sabbat nicht heilig halten.
  • Der Satan will, dass wir Religion nicht mehr wichtig nehmen.
  • Der Satan gewinnt, wenn wir nicht genug oder gar nicht mehr in den Schriften lesen.
  • Wer die Kirchenorganisation verlässt, wird ein Gefäß des Bösen und somit ein Diener Satans. (leider eine Aussage Joseph Smiths, die noch in Generalkonferenzansprachen und somit auch in Klassen nachgeplappert wird…so geschehen in meiner Gemeinde hier)
  • Der Satan gewinnt, wenn wir das Wort „Mormone“ verwenden und nicht „Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ sagen.
  • Der Satan verführt uns dazu, dass wir schädliche Substanzen zu uns nehmen.
  • Der Satan hat Joseph Smith verfolgt und versuchte, ihm zu schaden.
  • Wenn man als Untersucher der Kirche kurz vor Taufe nochmal Bedenken bekommt und das ganze nicht durchziehen will, ist es wahrscheinlich auch der Satan.
  • Die Existenz des Satans zu leugnen, ist ein Riese- Problem, weil er mich ja versucht anzugreifen.

Und wenn ich obige Aussagen zu seinem Wirken oder seiner Existenz in Frage stelle, dann habe ich quasi bereits verloren….nun ja, das geht eigentlich immer so weiter.

Jeder darf denken, was sie oder er will. Auch ich kann nicht behaupten, ich wüsste in jedem Punkt es sei nicht so. Ich werde auch nicht hergehen und sagen, dass Du nicht mehr an den Satan glauben sollst, denn ich glaube manche tun dies auch nach Überlegung mit einem guten Gewissen. Manche behaupten auch, schon direkte Erfahrungen mit dem Widersacher gehabt zu haben oder ihn in einer Vision gesehen zu haben. Soll ich nun sagen, das hast Du Dir nur eingebildet? Nein, ich lasse das so stehen.

Was ich allerdings – weil es hier OPENfaith heißt – sehr wohl tun werde, ist: Sagen, wie ich mich fühle und wie ich denke, wenn ich diese Aussagen höre.

FRAGEN & GEDANKEN

1. Jedem hier sollte bekannt sein, dass zu sagen, man habe viele böse Feinde, die einen verfolgen, ein bekanntes Mittel ist, um Unterstützung zu bekommen. Hilfsbereite Menschen haben einen Beschützerinstinkt und der wird durch solche Behauptungen angesprochen, manchmal auch völlig berechtigt, wie wir z.B. im Fall der vertriebenen Zivilisten aus der Ukraine wissen.

Leider ist aber genau das, was im einen Fall sehr berechtigte Unterstützung hervorbringt, im nächsten Fall möglicherweise auch eine Manipulation. Das muss jeder für sich entscheiden, aber man sollte sich der Option bewusst sein, dass diese sehr mächtige Beeinflussungsstrategie auch missbraucht werden kann.

Auch wenn eine Kirche uns sagt, sie werde vom Satan und seinen Nachfolgern angegriffen, ist das ein durchaus effektives Mittel, den Helfer-Instinkt anzusprechen und Menschen dazu zu bringen, ihre Brieftasche zu zücken, Zeit zu opfern, als Kirchenverteidiger aufzutreten, etc. Eventuell lohnt es sich aber, mal genauer hinzuschauen, wenn Institutionen behaupten sie würden verfolgt und Hilfe von Dir einfordern. Wenn ich behaupte, der Satan verfolge mich, habe ich einen entscheidenden Vorteil, dass das niemand nachprüfen kann und niemand das Gegenteil beweisen kann. Sollte vielleicht zu denken geben.

2. Kann es sein, dass alles auf den Satan zu schieben, uns daran hindert, einen präziseren Einblick zu erhalten, wie „das Böse“ in der Welt eigentlich wirklich entsteht? Kann es sein, dass wenn ein 14-jähriges Kind anfängt, in Sucht abzugleiten, wenn eine Frau nach 10 Jahren fremdgeht und ihren Ehemann verlässt, wenn ein Mensch Selbstmordgedanken hat, wenn ein Mensch nicht mehr an Gott glauben kann…..kann es vielleicht sein, dass „Satan hat sie dazu gebracht“ wirklich eine leider viel zu einfache, unfassbar stumpfe und sogar inhumane Erklärung ist, wie es dazu kam? Dass diese Erklärung uns von uns selbst und anderen Menschen distanziert und uns daran hindert, wirklich hilfreich und voller Nächstenliebe agieren zu können?

3. Kann es sein, dass wenn Satan die Ursache alles Bösen ist, dies teils zu haarsträubenden Lösungsansätzen führt? Sogar einige vollaktive HLTs beschweren sich hier regelmäßig, dass wir in der Kirche bestimmte Standardantworten als Lösung für quasi jedes Problem erhalten, dem wir begegnen: Mehr Beten, Mehr Schriften lesen, Mehr in den Tempel gehen, Mehr in der Kirche dienen.

Nun ja, wenn man glaubt, dass sich auf diese Weise der Satan aus dem Leben vertreiben ließe, der ja die Ursache allen Übels in der Welt sei, dann scheint dem eine dem religiösen Menschen zugängliche Logik inne zu wohnen. Das Problem in der Überlegung hat aber evtl. bereits damit angefangen, den Satan für alles verantwortlich zu machen.

Und nein, wenn jemand eine Manie hat, ist „mehr Beten“ und „Satan durch einen Priestertumssegen verscheuchen“ ganz sicher ein schlechter Lösungsansatz, der im besten Fall zu Selbsthass, im schlimmeren Fall zu Selbstmord führt. (Ein Betroffener berichtete mir, dass sein Bischof – ansonsten sehr liebenswerter und intelligenter Typ – ihm aber genau diese Lösungsansätze vorschlug, als er ihn in einer geschlossenen Psychiatrie besuchte.) Wenn jemand aufgrund einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gewalttätig in der Ehe ist, reicht es nicht, sich mehr anzustrengen und mehr zu beten. (Ein Fall ist mir bekannt, wo der Bischof aber genau das empfahl.) Wenn jemand durch einen Krieg nun ohne Familie, Haus und Geld dasteht, reicht es nicht, zu lamentieren wie schlecht die Welt geworden ist und zu beten und zu fasten, dass der Satan die Führer der Nationen nicht mehr beeinflusst und das Leid der Menschen gelindert wird.

Wenn jemand Zweifel bekommt, reicht es nicht, ihr/ihm zu sagen, sie/er würden nicht genug lesen und beten, denn vielleicht war Satan ja gar nicht die Ursache dieser Bedenken, sondern Humanität und ein gesunder Menschenverstand. Wenn man an einer Friedensverhandlung zwischen Kriegsparteien teilnimmt, hilft es leider sehr wenig, wenn man sich das Entstehen der Auseinandersetzung über den Satan erklärt…

Leider lässt sich diese Liste gähnend lang weiterführen, denn wenn man hinhört, bekommt man sehr viel mit von Betroffenen.

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Anonymus
Anonymus
2 Jahre her

Lieber Guido Letztlich geht es wiederum um das Thema Indoktrination in toxischen Gruppen. Eines der schlimmsten Kapitel in der Religionsgeschichte ist der Glaube an dunkle Mächte, Dämonen oder den Satan. Diese Figuren, die das Böse und die Versuchung verkörpern, lösen bei vielen Gläubigen und vor allem Kindern existentielle Ängste aus. Es gibt kaum ein stärkeres Instrument der Indoktrination und Unterdrückung als die Drohung mit satanischen Gestalten, die angeblich über teuflische Kräfte verfügen. Dieses Phänomen ist deshalb besonders heimtückisch, weil die meisten Glaubensgemeinschaften diese dunklen Mächte in ihre Heilslehre integriert haben. Toxische Gruppen stützen sich mit ihrer Doktrin häufig auf anerkannte Bücher wie die Bibel, den Koran, die alten Schriften, die ja in der Tat sehr wertvolle Lebensweisheiten und Wahrheiten beinhalten. Die Verknüpfung jedoch zwischen der Weisheit und Wahrheit der alten Schriften einerseits und der Doktrin andererseits, bleibt für Interessierte zunächst undurchdringbar. Dies gilt vor allem dann, wenn sie über keinerlei oder nur geringes theologisches und philosophisches Vorwissen verfügen und somit nicht überprüfen können, wann genau, welche Inhalte und Lehren wie manipulativ eingesetzt werden in die toxische, gemeinschaftseigene Doktrin. Nach und nach schleicht sich so die guttuende aber gefährliche Doktrin in das eigene Bewusstsein ein. Dieser Prozess folgt dem Muster der systematischen schrittweisen Entmündigung. Der nach Immanuel Kant erwünschte Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und der Unfähigkeit sich seines eigenen Verstandes ohne fremde Hilfe zu bedienen, ist in einer toxischen Gemeinschaft völlig unerwünscht. Das ganze Gegenteil ist der Fall. Das eigene Denken soll sich durch die Doktrin der Gruppe… Weiterlesen »