Eine Analyse von Guido Müller
Eine der zentralsten Fragen, die sich mir in den letzten fünf Jahren im Austausch mit meinen vielfach tollen HLT-Freunden und Familienmitgliedern stellte:
Warum geben so viele ansonsten intelligente und liebenswerte Menschen so unheimlich viel Energie dafür, nicht auch nur den kleinsten Hauch an Zweifel zuzulassen über Joseph Smith, seine Werke und die von ihm maßgeblich geprägte Organisation? Warum geben sie so viel Zeit und Energie, jeden noch so kleinen Zentimeter zu verteidigen? Warum werden sogar Familienbeziehungen dem untergeordnet und wir glauben unseren eigenen Liebsten weniger als diesem Mann?
Die besonders treuen Kirchenmitglieder kämpfen für ihn wirklich um jeden Millimeter – auch ich tat das. Warum habe ich jahrelang nicht mal ansatzweise zugelassen, mich mit den schwerwiegenden Fragen auseinanderzusetzen und dem keinerlei Raum gegeben, obwohl ich doch anderweitig behaupte ein offener Mensch zu sein? Warum habe ich mich bei „FAIR LDS“ engagiert, um diesen Mann mit teils äusserst fragwürdigen Argumenten zu verteidigen?
War Joseph Smith in jeder sonstigen Hinsicht ein vertrauenserweckender Mensch, so dass keinerlei Zweifel angebracht sind?
Nun ja, heute ist eigentlich sogar schon beim Heranziehen kirchennaher Quellen klar, dass das nicht der Grund sein kann, denn wir haben Berichte, dass er…
1. …zeitlich nah dem angeblichen Plattenfund bereits wegen „Unruhestiftung und Hochstapelei“ vor Gericht stand https://www.churchofjesuschrist.org/study/history/topics/joseph-smiths-1826-trial?lang=deu
https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Smith
2. … eine Druckerpresse zerstören ließ, obwohl darin aus heutiger Sicht größtenteils wahre und relevante Enthüllungen gedruckt werden sollten https://www.churchofjesuschrist.org/study/manual/latter-day-saint-history-1815-1846-teacher-material/lesson-26?lang=deu
https://en.wikipedia.org/wiki/Nauvoo_Expositor
3. …auf junge Frauen Druck ausübte, dass sie ihn im Geheimen heiraten sollten, und sogar höchst manipulativ angab dass ein Engel mit einem lodernden Schwert ihn töten würde, wenn die Verbindungen nicht zustände kämen
https://www.churchofjesuschrist.org/topics/plural-marriage-in-kirtland-and-nauvoo?lang=deu
4. …verheiratete Frauen anderer Männer auf Mission schickte und sie in deren Abwesenheit beeinflusste, ihn insgeheim zu heiraten
https://ldsanswers.org/how-could-joseph-smiths-polyandrous-marriages-be-explained/
5. …einen „Bodyguard“ dauerhaft beauftragt hatte, der als „der zerstörende Engel des Mormonentums“ bekannt war, weil ihm auch Vorwürfe gezielter Attentatsversuche gemacht wurden
https://en.wikipedia.org/wiki/Porter_Rockwell
….um mal nur ein paar wenige Punkte zu nennen.
Vielleicht fällt dem ein oder anderen auf, dass die verwendeten Quellen tatsächlich vielfach Kirchenquellen sind oder ihrerseits auch auf Kirchenquellen zurückgreifen. Die Punkte klingen selbst bei größtem Wohlwohlen nicht gerade vertrauenserweckend.
Es klingt vor allem nicht grad nur nach einem armen Opfer, sondern vielfach nach einem gefährlich-manipulativen Täter. Aber dennoch geben wir sooo viel Lebensenergie dafür, den Gründer und das ganze Mormonismus-Zeugs zu verteidigen.
Wir sehen eigentlich fast immer Joseph Smith und die Kirchenorganisation als Opfer. Warum? Nun ja, ich glaube einen Teil der Antwort auf die Frage in der Wurzel des Mormonismus und in unserer Belehrung von klein auf gefunden zu haben, namentlich in Joseph Smith Lebensgeschichte.
Erklärung 1:
Wir wurden alle von Kind oder schon während unseres Untersucherdaseins bereits darauf trainiert, jeden und alles, der Joseph Smith kritisiert, als „übelgesinnt“ und „hinterhältig“ einzustufen
Wir wurden alle von Kind oder schon während unseres Untersucherdaseins bereits darauf trainiert, jeden und alles, der Joseph Smith kritisiert, als „übelgesinnt“ und „hinterhältig“ einzustufen. Von vorn herein werden wir ermutigt, alles was Kritiker sagen, als „ersonnen“ bzw. erfunden einzustufen. Die „Heilige Schrift“, die wir „Köstliche Perle“ nennen, beginnt in Wirklichkeit mit einem pauschal-feindseligen Vorwurf, den man eigentlich gar nicht so stehen lassen dürfte:
„Infolge der vielen Gerüchte, die von übelgesinnten und hinterhältigen Leuten über Entstehung und Fortschritt der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Umlauf gesetzt worden sind und die alle von ihren Urhebern ersonnen worden sind, um der Kirche als solcher und ihrem Fortschritt in der Welt entgegenzuwirken“ (Hervorhebungen hinzugefügt)
Woher wissen wir eigentlich, dass alle Kritiker „übelgesinnt“ und „hinterhältig“ waren?
Warum nehmen wir eine derartige Hetze und Stimmungsmache, die sich als „Heilige Schrift“ ausgibt, ungefragt hin und verbreiten sie weiter, indem wir unsere Kinder auf eigene Kosten in fremde Länder auf Mission schicken?
Warum nehmen wir hin, dass alle Berichte „Gerüchte“ waren und von ihren Urhebern „erfunden“ worden sind und ziehen nicht in Betracht, dass die Hinweise mindestens ebenso dicht sind, dass Joseph Smith selber das tat, was er anderen vorwarf, nämlich Geschichten zu erfinden?
Erklärung 2:
Wir wurden alle von Kind oder schon während unseres Untersucherdaseins bereits darauf trainiert, Joseph Smith als das verfolgte Opfer zu sehen
Der zweite Punkt, ist, dass die Autoren von „Joseph Smith Lebensgeschichte“ unheimlich gut darin waren, Joseph Smith direkt von Beginn an als das verfolgte Opfer hinzustellen. Joseph Smiths frühere Tagebuch-Berichte der Erlebnisse weichten übrigens erheblich ab und betonten diese Opferrolle nicht annähernd so stark. Wer würde denn kein Mitleid haben mit einem 14-jährigen, der für eine Vision verfolgt wird?
Alle Menschen haben eine Art Helfer-Gen. Wenn jemand verfolgt wird, wollen die meisten von uns instinktiv helfen und unterstützen. Kann dieser Helfer- und Verteidigerinstinkt auch missbraucht werden? Ja in der Tat, und das wissen wir nicht erst seit „Tinder-Schwindler“ und „Inventing Anna“ (beide auf Netflix zu finden), wenn das aber auch hilfreiche Beispiele sind, wie Menschen sich weitgehende Unterstützung sichern, indem sie sich extrem geschickt als verfolgte Opfer darstellen.
In Joseph Smith Lebensgeschichte heisst es:
„Ich musste jedoch bald feststellen, dass ich durch das Erzählen meiner Geschichte bei den Glaubensbekennern sehr viel Vorurteil gegen mich weckte und viel Verfolgung verursachte, die ständig zunahm; und obwohl ich nur ein unbekannter Junge von vierzehn, fünfzehn Jahren war und meine Lebensumstände dergestalt, dass sie so einem Knaben keinerlei Bedeutung in der Welt verschafften, nahmen doch hochstehende Männer von mir so viel Notiz, dass sie die öffentliche Meinung gegen mich aufstachelten und eine erbitterte Verfolgung anzettelten; und das hatten alle Glaubensgemeinschaften gemeinsam – alle vereinigten sich, um mich zu verfolgen.“ (Hervorhebungen hinzugefügt)
Warum akzeptieren wir das, obwohl keinerlei Beispiele dargelegt werden, wie diese Verfolgung genau aussah?
Warum akzeptieren wir das, obwohl in den Tagebuchberichten von Joseph Smith aus der Zeit viel weniger von diesem Drama zu lesen war und die Verfolgung erst in späteren Berichten akzentuiert wurde?
Warum verschließen wir die Augen davor, dass auch Joseph Smith und die frühen Mormonen anderen Menschen Schaden zugefügt haben? Oder dass Menschen, die Hinweise auf betrügerisches Verhalten haben, sich dagegen öffentlich zu Wehr setzen?
Erklärung 3:
Unser Denken über Joseph Smith wird von Beginn an so geprägt, dass er vom „Satan“ verfolgt wird bzw, dass der Satan gegen ihn arbeitet
Ich zitiere wieder aus Joseph Smith Lebensgeschichte:
„Nachdem ich mich an den Ort zurückgezogen hatte, den ich vorher dazu ausersehen hatte, und mich umblickte und sah, dass ich allein war, kniete ich nieder und fing an, Gott die Wünsche meines Herzens vorzutragen. Kaum hatte ich das getan, wurde ich sogleich von einer Macht gepackt, die mich gänzlich überwältigte und eine so erstaunliche Wirkung auf mich hatte, dass sie mir die Zunge lähmte und ich nicht sprechen konnte. Dichte Finsternis zog sich um mich zusammen, und ich hatte eine Zeit lang das Gefühl, als sei ich plötzlicher Vernichtung anheim gegeben. Ich nahm aber alle Kraft zusammen und rief Gott an, er möge mich aus der Macht dieses Feindes befreien, der mich gepackt hatte; und gerade in dem Augenblick, als ich in Verzweiflung versinken und mich der Vernichtung preisgeben wollte – und nicht etwa einem eingebildeten Verderben, sondern der Macht eines wirklichen Wesens aus der Welt des Unsichtbaren, das eine so unglaubliche Macht hatte, wie ich sie nie zuvor bei irgendeinem Wesen verspürt hatte –,“
(Hervorhebung hinzugefügt)
Warum hinterfragen wir nicht, dass diese dramatisierte Satansverfolgungsgeschichte erst 1938 in dieser Intensität dem Bericht über Joseph Smiths Vision hinzugefügt wurde?
Warum ziehen wir nicht in Betracht, dass eigentlich jeder behaupten kann, vom Satan verfolgt zu sein?
Warum gestehen wir uns nicht ein, dass niemand beweisen noch widerlegen kann, dass er vom Satan verfolgt wird?
Warum machen wir uns nicht bewusst, dass diese Verfolgungsmasche ein unheimlich spaltendes Potenzial hat, bevor wir sie akzeptieren?
Warum machen wir uns nicht bewusst, dass wenn wir das akzeptieren, eigentlich keinerlei Kritik mehr geäußert werden kann, ohne dass wir demjenigen, der sie äußert, unbewusst eine Verbindung zum Satan andichten, selbst wenn es unsere eigene Tochter oder unser bester Freund wäre?
Sehr gut durchdachter Artikel und ich finde da ist sehr viel dran! Ich habe noch einen weiteren Punkt dazu, zumindest trifft er auf mich zu: Erklärung 4: Ich habe sehr viel Zeit und Energie in die Kirche reingesteckt, nicht zu vergessen sehr viel Geld. 10 % meines Einkommens über Jahre….dat läppert sich halt! Habe 2 Jahre meines Lebens und nochmal Geld geopfert um auf Mission zu gehen um die Botschaft der Wiederherstellung des Evangeliums Jesu Christi zu verbreiten. Gestehe ich mir ein, dass die Kirche und die von ihr gelehrte Geschichte um Joseph Smith und alles was damit zusammen hängt nicht wahr ist, dann habe ich ein ernstes Problem. Nämlich, dass ich falsch lag! Und bei so einem persönlichen Thema wie dem eigenen Glauben ist das nicht einfach sich einzugestehen, dass man wenn auch mit guter Absicht und unwissentlich aber dennoch Irrlehren verbreitet hat und man selber einem Betrug aufgesessen ist. Das tut weh! Und kann einen echt umhauen. Aber seit dem ich mir das vor ca. ’nem Jahr endlich eingestanden habe geht es mir besser. Bin mit mir selbst zufriedener und ich habe das Gefühl, wirklich frei zu sein und nicht mehr unter dogmatischen Lehren zu leiden, die mir meistens nur ein schlechtes Gewissen eingebläut haben, obwohl ich doch mein Bestes gebe. Und mir das Gefühl gaben nie gut genug zu sein, wobei das eher durch die Kirchenkultur suggeriert wird. Aber so eine Kultur kommt meiner Meinung nach nur zu Stande, wenn was mit den Lehren, der Doktrin nicht… Weiterlesen »
Ich finde Du nennst da einen total relevanten Punkt mit dem, was man halt schon investiert hat. Danke das ist eine Bereicherung. Es gibt aus meiner Sicht noch viele weitere Erklärungen, z.B. auch Schriftstellen im Buch Mormon, die derart gestaltet sind, dass sie Joseph Smith als Propheten stützen, und auch die Tempelzeremonie, die bis 1990 noch eindeutig als Ritual der Ergebenheit zu Joseph Smith und zum Hass auf seine Feinde verstanden werden konnte.
So friedvoll, wie wir denken ist diese Religion in ihren Wurzeln gar nicht. Gleich im ersten Vers wird in JSLG eine Art manipulatives Framing hergestellt…wenn Ihr nicht für mich seid, seid Ihr gegen Gott. Das muss man direkt hinterfragen, aber leider geht das nicht im PV Alter…was wohl der Grund ist warum wir es genau dort indoktriniert bekommen…
Kurzum, Du fragst dich, welche Umstände es ermöglichen, dass Du nicht die Sorgfalt in der Beurteilung walten lässt, die doch in anderen Lebensbereichen so selbstverständlich ist. Deine aufgezählten Punkte sind alle richtig und wie du selbst erwähnst erheben sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn es gibt noch viele mehr. Betrachte Dich bitte nicht einfach als „Dummkopf“, sondern als Opfer eines bestbekannten Systems. Nachfolgend einige organisatorische Voraussetzungen für die Verblendung von Mitgliedern für diejenigen, die selbst so ein Geschäftsmodell aufziehen wollen 😜 . Bitte beachtet aber, dass es sich für Joseph Smith schlussendlich nicht ausbezahlt hat. Struktur der Organisation: Gruppe mit straff hierarchischer und doktrinärer Struktur Autoritäre Führung: Führergestalt mit prophetischen oder guruhafter Ansprüchen Offenheit der Gruppe: Isolation und starke Abgrenzung der Gruppe nach aussen Finanzierung: Behauptung Gott benötige Geld von den Mitgliedern. Welt- und Menschenbild: Einteilung der Welt in Gut und Böse, Schwarz-Weiss-Denken Absolutheitsanspruch: ausschliessender Glaube an die absolute Wahrheit des eigenen Systems, der eigenen Lehre, des eigenen Weges, der eigenen Methoden Erlösungs- oder Heilsversprechen: «Universalrezepte» für sämtliche Probleme sowie irreale Machbarkeitsvorstellungen Elitebewusstsein: Die Mitglieder der Gruppe verstehen sich als auserwählt, als spirituell weiterentwickelte Elite der Menschheit, als „Speerspitze“ des Wissens. Endzeiterwartung: Gruppe erwartet Endzeit, Weltuntergang Informationspolitik nach Aussen: keine offene Informationspolitik, irreführende Propaganda Informationspolitik nach Innen: Selektion von Information bis hin zu bewusster Desinformation innerhalb der Gruppe Umgang mit Kritik: Kritikverbot innerhalb der Gruppe; Bekämpfung von KritikerInnen ausserhalb Milieukontrolle: Kontrolle und Überwachung aller Lebensbereiche Rücksichtlose Methoden: getarnte oder irreführende Anwerbung, Indoktrination, Einsatz von bewusstseinsverändernden Methoden Gedanken- und Gefühlskontrolle: durch… Weiterlesen »