Gedanken über das Konzept der Segnung: „Alles gut, solange es nicht gefährlich oder absurd wird“

Von Juna Kollmeyer

Wenn ich mich an meine aktive HLT Zeit zurückerinnere, stand für mich bei jedem positiven Ereignis fest, dass dies ganz sicher ein Segen Gottes sei. In der Sonntagsschule wurde uns auch regelmäßig gelehrt, dass Segnungen eine Art Belohnung seien, die wir für unsere guten Taten von Gott quasi zurückbekommen.

Heute frage ich mich, ob das nicht eine merkwürdige Form von Interpretation und Deutung ist.

Segnungen in meinem Leben?

Ich habe im Lauf meines Lebens auch ohne HLT-Mitgliedschaft viele „Segnungen“ erhalten. Ob es meine damalige Wohnung war, die ich unter 80 anderen „Bewerbern“ schließlich für 8 Jahre bewohnen durfte, und die nur 5 Minuten Fußweg von meiner Elektrologin entfernt, in Hannover lag. Zum Verständnis: Bei Transfrauen werden die Haare im Gesicht durch eine Nadel/Elektroepilation dauerhaft entfernt. Bei mir hat der Prozess über 250 Zeitstunden/Termine erfordert, verteilt über mehrere Jahre. Da die Behandlung sehr schmerzhaft ist, kann vorher eine betäubende Creme aufgetragen werden, die jedoch zum einwirken luftdicht „verpackt“ werden muss. Sprich, es wird mit einfacher Klarsichtfolie abgedeckt. Zudem müssen die Haare eine gewisse Länge haben, damit die Wurzeln verödet und gezupft werden können.

Man stelle sich nun vor, ich hätte diese Wohnung nicht bekommen, sondern hätte mit den öffentlichen Verkehrsmitteln als Frau mit Haaren, Creme und Klarsichtfolien im Gesicht 250 mal dahin fahren müssen (und 250 mal wieder zurück mit feuerroter, geschwollener Haut). Eine grauenvolle Vorstellung. Hinzukommt, dass meine Elektrologin 4 Wochen nach meinem letzten Termin in Rente ging, und ihre Nachfolgerin diese Behandlung nicht mehr anbietet.

Ich bin unendlich froh, dass ich „Glück“ hatte und es bei mir anders kam. Oder war das jetzt ein Segen? Warum sollte es das sein, wenn doch Gott laut den Lehren der Kirche meinen doch recht ungewöhnlichen Werdegang ablehnt? Ist eine HLT-Mitgliedschaft nötig, um Segnungen von Gott zu erhalten?

Ob es mein letzter operativer Eingriff 2020 war, zudem ich nach Belgien reisen musste, da es keinen anderen Spezialisten in ganz Europa gibt. Er ist vor ein paar Wochen plötzlich und unerwartet verstorben. Was habe ich ein „Glück“ gehabt, dass ich noch von ihm operiert werden konnte, die Alternative wäre gewesen, kostspielig in die USA oder nach Asien zu fliegen.

Viele Menschen auf dieser Welt haben nicht so viel Glück wie wir – oder werden sie weniger von Gott gesegnet als wir?

Wenn meine Eltern ihr Tischgebet sprechen, danken sie jedes Mal für all ihre Segnungen, die sie bekommen. Sie sehen viele Ereignisse als direkte Belohnung Gottes an. Was ich mit ihnen teile, ist eine gewisse Form von innerer Dankbarkeit und Demut. Viele Menschen auf dieser Welt haben nicht so viel Glück wie wir. Oder werden sie weniger von Gott gesegnet als wir?

Ich könnte hier so viele Beispiele nennen, so viele „Segnungen“, oder glückliche Zufälle. Das sind Geschichten, die das Leben schreibt, oftmals die Folge unserer eigenen Entscheidungen. Anders herum gefragt, wenn alles anders gekommen wäre, ich hätte die Wohnung nicht bekommen, der Arzt wäre vorher verstorben etc., würde ich dann weniger dankbar sein? Vermutlich würde ich dann dankbar darüber sein, dass mir auf den 250 Fahrten nichts passiert ist, mich niemand beleidigt, ausgelacht oder angegriffen hat. Hätte ich in die USA fliegen müssen, wäre ich vermutlich dankbar dafür, dass mein Flugzeug nicht abgestürzt ist, oder der Eingriff unkompliziert verlief.

Ich habe nichts gegen diese Art der Deutung, es sei denn, sie nimmt so viel Raum ein, so dass es gefährlich oder absurd wird

Ich würde die Ereignisse somit anders, aber ins positive umdeuten, anstatt es schlichtweg anzunehmen. Das ist ja erstmal nicht verkehrt, allerdings habe ich festgestellt, dass diese Form der positiven Interpretation bei gläubigen Kirchenmitgliedern außergewöhnlich stark verankert ist. Im schlimmsten Fall werden dann sogar negative Ereignisse als „Strafe“ Gottes angesehen, bei dem man sich noch mehr bemühen muss, sich Gott-/Kirchengefällig zu verhalten.

Ich habe aus heutiger Sicht nichts gegen diese Art der Deutung, es sei denn, sie nimmt zu viel Raum ein, sodass es gefährlich oder absurd wird. Wir hatten mal ein Gemeindemitglied, einen jungen Mann, der an Multipler Sklerose erkrankt war. Er erhielt einen Krankensegen des Bischofs, der ihm explizit Heilung versprach. Kurz darauf ist der Mann verstorben. Die Ansicht vieler Mitglieder war, trotz dieses Widerspruchs, „nun ist er von seinem Leiden geheilt worden“. Das ist für mich eine Fehlentwicklung, alles quasi so umzudeuten, dass es in das Schema passt. Über die Verantwortung des Bischofs, der solche Aussagen gegenüber einem unheilbar kranken Menschen abgibt, wurde hingegen nicht gesprochen. Schließlich wären das kritische Fragen, bei denen sich der Geist nicht spüren lässt bzw. die es nötig machen würden, weiter zu blicken (einer der Punkte, die mich immer in der Kirche gestört haben). Vielleicht braucht es eine Art inneres Gleichgewicht. Eine Waage, die darauf aufmerksam macht, dass man einerseits Dankbarkeit empfinden und leben darf, jedoch andererseits nicht alles als solche interpretieren sollte.

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anonym
anonym
2 Jahre her

Ich kann mich noch sehr gut an den jungen Mann erinnern der geheilt werden sollte. Ich habe nie verstanden, wie man so eine Aussage machen kann, mir war jedenfalls damals schon klar, das er nicht mehr lange leben würde.
Mit dem Glück oder Segen ist das auch so eine Sache, ich frage mich manchmal, womit ich das Glück/Segen verdient habe. Ich wußte so manches Mal nicht wie es weitergehen soll und plötzlich kam Hilfe. Ich glaube an Gott. Ich glaube aber auch, das manch ein Mensch der von sich behauptet ein Atheist zu sein ein besserer Mensch ist, als jemand der jede Woche zur Kirche geht und überhaupt nicht christlich ist. Ich muß auch zugeben, das mein Leben wahrscheinlich einen negativen Weg genommen hätte, wenn ich diese Kirche nicht kennen gelernt hätte. Ich war aber noch nie mit allem einverstanden was die Kirche lehrt und das wird sich wahrscheinlich auch nie ändern. Es gibt aber ein paar gute Projekte in meiner Gemeinde, die ich gerne mache und die direkt vor Ort gutes tun und nicht nur Mitgliedern zugute kommen. Manchmal habe ich das Gefühl, es schlagen 2 Selen in meiner Brust.

G.M,
G.M,
2 Jahre her

Ich weiß noch wie ich selbst von dieser Denkweise beeinflusst Gott dankbar war, wenn ich eine Zahnbehandlung überstanden hatte, wenn das Flugzeug nicht abstürzte,….mit and. Worten: wenn ich Angstsituationen überstand.
Auch viele Segnungen wurden Gott zugeschrieben. Ich habe steinreiche Verwandte die mir schwören es käme weil sie Zehnten zahlen. Witzigerweise wohnen die aber in der Schweiz, wo das Medianeinkommen 6600 CHF beträgt. Haben die Menschen in armen Regionen der Welt dann Pech weil sie keinen Zehnten zahlen?
Die Denkweise hat bei genauerem Hinsehen ernste Schwächen. Und ist nicht nur förderlich in puncto Mitgefühl und Liebe. Kann auch zu groben Fehleinschätzungen bzgl Ursache und Wirkung führen…die das Leben nicht unbedingt besser machen. Beispiel: evtl helfen regelmäßig Zahnseide und Zähneputzen besser den Zahnarzttermin zu überleben als intensiv Fasten und Beten?

Anonym
Anonym
2 Jahre her

Der Gedanke der Segnung ist ja direkt auf die Bibel zurückzuführen. Gott segnete ja immer nur sein auserwähltes Volk. Wenn man sich nun, wie die HLTs, als auserwähltes Volk sieht dann passt das in deren Gedankengang schon ganz gut. Eine Segnung zu erhalten stimuliert im Kopf das Belohnungszentrum. Dafür ist es nicht relevant ob das tatsächlich passiert oder nicht. Dopamin wird ausgeschüttet und man fühlt sich gut. Somit ist dieses Reden und aufmerksam machen auf „Segnungen“ einfach brainwashing…..leider.

G.M.
G.M.
2 Jahre her
Reply to  Anonym

ich denke wir müssen trennen von der dankbarkeit. wer das leben als geschenk sieht, wer es nicht für gegegeben sieht, ein dach überm kopf zu haben, gesund zu sein, in frieden zu leben und zu essen zu haben, wird sicher glücklicher sein…hier muss man irgendwo ne feine linie ziehen denk ich…
ich sehe diese linie da wo mich mein „segnungen von gott“ denken dann behindert, klare ursachen und wirkungen zu erkennen….
dankbar sein bleibt ne feine sache

Anonym
Anonym
2 Jahre her
Reply to  G.M.

Da bin ich bei Dir. Und ich habe hier in meinem Beitrag nicht generell etwas gegen Dankbarkeit gesagt. Es ging mir nur darum aufzuzeigen wie das Belohnungssystem funktioniert und wie es von der Kirche genutzt wird.

H.S.
H.S.
2 Jahre her

Es fördert die selektive und mormonzentristische Denken bzw. den Confirmation Bias. Jeder kennt diese Geschichten, in denen Segen sich vorne und hinten nicht erfüllen und niemand spricht darüber offen. Das ist doch ein enormer Druck für alle. Ich hatte immer Angst einen Segen zu geben und etwas falsches zu sagen. Und so eindeutig fühlten sich „Eingaben“ nie an. Als Jugendlicher fand ich das ganz furchtbar, als mich mein Vater um einen (nett gemeinten) Segen bat oder ich Einsetzungen mit Segen machen „durfte „. Und ja, Segnungen werden immer wieder an Gehorsam geknüpft, aber das viele Pech wird uminterpretiert, weggelächelt oder verschwiegen – eine Form von Mindcontrol

R D
R D
2 Jahre her

Ich denke die Frage ob gewisse Dinge jetzt nun ein Segen Gottes oder einfach Zufall sind, finde ich sehr wichtig. Ich Persönlich glaube an Segnungen Gottes aber ich kann auch damit umgehen dass einige Dinge die uns Passieren Zufall sein können. Die Beispiele die Du von dir genannt hast, haben meiner Meinung nach mit angewanntem Glauben zu tun. Wenn mann Gott um Hilfe für etwas bestommtes bittet und dann auch was dafür tut, in Deinem Fall nach einer geeigneten Wohnung zu suchen, glaube ich das Gott die beste Lösung für uns schaffen kann, so wie Du das geschildert hast.