Spiritualität, Beziehungen und kirchliche Botschaften

Von Guido Müller

Bildquelle: pixabay.com

Menschen, die Probleme mit der Kirche haben oder sich von der Kirche distanzieren, wurden in verschiedenen Ansprachen der Generalautoritäten direkt oder indirekt als „Lazy Learner“, „verwirrt“, „unrechtschaffen“, „weniger vertrauenswürdig“ und „weniger geistig“ dargestellt, wenn es nett formuliert wird. Diese Denkweise schwappt leider auch auf sehr viele Mitglieder über, die vertrauen, dass die Botschaften ihrer Führer in jeder Hinsicht gut und gesund sind.

Weniger nett formuliert wird auch in Konferenzansprachen der letzten Jahre noch die Formulierung von Joseph Smith genommen, der das Wort „Gefäße des Bösen“ prägte. Manchmal werden die Betroffenen auch indirekt mit den Jüngern in Verbindung gebracht, die Jesus nicht mehr nachfolgten (Judas comes to mind…ganz aktuell in der Konferenz drin gewesen).

Wie beeinflussen Konferenzbotschaften Beziehungen in gemischt-gläubigen Familien?

Ich könnte wahrscheinlich nicht nur zehn, sondern mindestens hundert Ansprachen der letzten zehn Jahre finden, wo derartige verurteilende Messages gestreut werden. Die kommen übrigens immer wieder neu…man kann während Konferenzansprachen fast die Uhr danach stellen. Daher kaufe ich auch nicht die Botschaft, dass die Konferenz neuerdings so friedfertig wäre. Sie schafft es, nach außen für viele friedfertig zu wirken…dem stimme ich zu, allerdings ist die Konferenz für mich erst friedfertig, wenn man die Urteile und Angstbotschaften unterlässt – und nicht einfach in Zuckerwatte verpackt. Bis dahin haben wir es mit klassischen „Doppelbotschaften“ zu tun.

Aktive HLTs wundern sich aber auch immer wieder, warum hinterfragende oder distanzierte Mitglieder die Konferenz kritisieren. Zahlreiche Kinder werden von ihren Eltern angehalten, um nicht zu sagen indirekt „gezwungen“ oder „unter Druck gesetzt“, die gesamte Konferenz zu schauen und das was sie dort sehen und die Art und Weise wie diese Botschaften verarbeitet werden, beeinflussen ganz ganz sicher meine Beziehung zu hinterfragenden Familienmitgliedern. Davon habe ich ein festes „Zeugnis“!

Das nächste mal wenn Dich jemand fragt, warum Du die Konferenz kritisierst oder Dich damit nicht wohl fühlst, kannst Du womöglich sagen: „Family is everything.“ Doch das ist leider nicht alles. Es betrifft ja auch uns individuell. Die Botschaft, die man wie oben angedeutet häufig in Konferenzen liest: Diskutierst Du Probleme und Zweifel in Bezug auf die Organisation bist Du ein weniger geistiger Mensch, weniger vertrauenswürdig, etc..
Leider beobachte ich, dass manche hinterfragende HLT wirklich anfangen zu glauben, dass sie ohne die Organisation keine Geistigkeit mehr haben können. Die o.g. Verurteilungen scheinen in ihnen wie eine Self-Fulfilling Prophecy zu wirken. Vielleicht auch, weil sie die Programmierung gar nie bemerkt haben oder keine Chance hatten, sie zu hinterfragen?

Wie werden wir in der Kirche angehalten, die eigene Geistigkeit zu messen?

In meiner Beobachtung spielen sehr häufig folgende Fragen eine Rolle:

Habe ich in den Schriften gelesen?
Habe ich gebetet?
Wie oft gehe ich in den Tempel?
Habe ich Missionsarbeit gemacht?
Habe ich eine Vollzeitmission erfüllt?
Halte ich mich an das Wort der Weisheit?
Halte ich mich an das Gesetz der Keuschheit?
Erfülle ich meine Kirchenberufung?
Habe ich die Versammlungen besucht?
Besitze ich einen Tempelschein?
Wie aktiv bin ich in der Kirche?
Lese ich freigegebene Materialien von der Kirche, oder lasse ich mich auf externe Informationen ein?
Sind meine Kinder in der Kirche aktiv?
Gehen meine Kinder auf Mission?
Etc.

Geistigkeit muss gesünder definiert werden

Ich bin der Meinung, dass diese Art von „Geistigkeit“, wenn auch nicht alle Punkte schlecht sind, insgesamt doch sehr stark auf die Bedürfnisse der Institution zugeschnitten ist, und in vielen Aspekten an den Bedürfnissen der Individuen vorbei geht. Auch ist der Druck immens, der durch diese vorherrschende Definition von Geistigkeit geschaffen wird. Ja mehr noch: Es wird sooo viel Energie in diese Übungen hinein investiert, die eigentlich anderswo viel besser gebraucht werden könnte, zu unserem eigenen Wohl und dem unserer Liebsten und weiterer Mitmenschen oder Menschen in Not. Wir vergessen dann, dass es womöglich Wege gäbe, Geistigkeit viel gesünder zu definieren.

Das was jetzt folgt sind meine Versuche, Geistigkeit für mich gesünder zu definieren. Falls jemand was daraus ziehen kann, freut mich das. Ansonsten freue ich mich auch über neue Ideen und Kritik. Bitte wertet dies nicht als Versuch, mich selber als „geistig“ zu bezeichnen. Ich habe meinen ganz eigenen Background, meine eigenen Traumata und meine ganz eigenen Bereiche, an denen ich persönlich arbeite. Ich VERSUCHE lediglich, mich in Richtung einer gesünderen Geistigkeit zu entwickeln, nicht mehr und nicht weniger. Es ist gar nicht so einfach, das Hirn nach 30 Jahren HLT-Orthodoxie umzuprogrammieren.

Fragenvorschläge, um zu ergründen, wie es um die eigene „Spiritualität“ bestellt ist

  • Wie ist es es um meine Beziehungen zu den engsten vertrauten Menschen in meinem Leben bestellt? (Ehepartner, Kind, beste Freunde, enge Kollegen, etc.)Wie behandle ich Kranke, Arme, Geflüchtete, Obdachlose und Witwen?
  • Wie behandle ich andere Lebewesen auf dem Planeten?
  • Wie behandle ich meinen eigenen Körper?
  • Wie ist meine Beziehung zu mir selbst? Ist sie von Liebe und Respekt geprägt? Liegt mein Fokus auf Regeln oder doch eher auf Nächstenliebe und Barmherzigkeit?
  • Wie gehe ich mit andersdenkenden Menschen um? Habe ich eine „gewaltfreie“ Form der Kommunikation?

Wenn ich das nächste Mal die Konferenz kritisiere, könnt Ihr für einen Moment darüber nachdenken, ob ich das eventuell auch tue, um selbst zu wachsen, indem ich als jahrelang geprägter HLT versuche, gesündere Ideen zu definieren. Oder auch um die positiven Beziehungen zu meinen Liebsten nicht von außen vergiften zu lassen, weil eine Organisation meint, dass Stacheldrahtzäune ihren eigenen Zwecken dienen.

Vielleicht fällt dem ein oder anderen auf, dass sowohl aktive HLT, als auch ehemalige HLT meine persönliche neuere Definition von Geistigkeit erfüllen können…und tatsächlich treffe ich viele HLTs die das erreichen auf ihrem eigenen Weg. Warum sollte ich mich nicht freuen an der Vielfalt der Wege, das Ziel zu erreichen? Man braucht niemanden verurteilen und kann das Gute anerkennen.

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V.
V.
2 Jahre her

Your first list reminded me of the never ending checklist in the Mosaic Law. Your second list reminded me of Jesus’ list: to love God, our neighbor, and ourself.

H.S.
H.S.
2 Jahre her

Wenn mich jemand so diskriminieren möchte, dann bitte ich einfach darum meine Fragen zu beantworten. Vielleicht bin ich ja zu dumm, habe etwas (also eine ganze Menge!) verpasst etc. Die Frage teile ich mit vielen zweifelnden und vielen Exmitgliedern, die offensichtlich auch zu beschränkt sind. Was ich aber immer klar mache (und das meine ich ehrlich), das ich gerne meine Sichtweise anpasse, wenn es plausible Erklärungen gibt. Ich sage aber auch, dass ich nach bestem Wissen und Gewissen handle und nicht um jemanden zu ärgern. Ich bin auch schon von Neffen und Nichten angesprochen worden, warum ich gegen die Kirche arbeite. Das finde ich erstmal super, auch wenn man indirekt hört was meine noch gläubigen Geschwister, mit denen ich ansonsten ein gutes Verhältnis habe, darüber denken – Mormonen mögen nicht kritisch hinterfragt werden. Es ist aber schwer, denn bei diesen Neffen und Nichten möchte ich unbedingt vermeiden, mir den Vorwurf machen zu lassen sie zu „bearbeiten und manipulieren“. Ich möchte dann aber schon klar stellen, dass ich ihre persönliche Überzeugung achte, auch wenn ich deren Inhalte kritisiere. Umgekehrt mache ich klar, dass ich damit leben kann, dass sie denken ich liege voll daneben etc. Im Prinzip wissen wir doch, dass es so ist – warum also um den heißen Brei reden? Wichtig ist vielmehr, dass man klar macht, dass man die andere Person bedingungslos schätzt und ich immer klar mache, dass ich immer davon ausgehe, dass niemand aus Böswilligkeit eine „falsche“ Überzeugung hat

Anonymus
Anonymus
2 Jahre her

Die Mehrheit heutiger Jugendlicher wird dereinst die Kirche verlassen. Lange danach wird sie die erfahrene Indoktrination, die Ausbeute und die Beraubung ihrer körperlichen und geistigen Freiheit noch beschäftigen.
Die Ausgetretenen denken und fühlen anders als die Verbliebenen. Das Vertrauen in ihre Eltern, die sie nicht geschützt haben ist nachhaltig erschüttert. Der Schaden ist gross.