Phasen einer HLT-Krise: Mein Weg zum Austritt

Von Guido Müller

+++TRIGGER WARNING: ABSTIEG IN MEINEN KANINCHENBAU+++

Bildquelle: Guido Müller / whyy.org


Dies ist ein Rückblick auf die Phasen, die ich während meiner offenen Beschäftigung in den letzten sechs Jahren, nach Beginn meiner „HLT-Reality-Crisis,“ durchlebt habe:

Phase 1: „OMG, da ist noch mehr da draußen!“

…wo ich auf Empfehlung eines Mitbewohners anfing, Mormon Stories zu hören, und realisierte, die hören sich nicht nach „Anti-Mormonen“ an und John Dehlin nicht nach einem Sohn des Verderbens, sondern authentisch, und es machte mehr Sinn als das was ich kirchlich vermittelt bekam, war emotional intelligent und glaubwürdig.

Phase 2: „Au backe!“

….als ich den „Brief an einen CES-Direktor“ las und ergänzende Literatur wie Bushman, die mir zeigte, dass sehr viel darin auch anderswo bestätigt wird und als ich die Background-Story von LuB 132 besser verstand und die Art und Weise WIE die Polygamie durchgezogen wurde, wie Joseph Smith wirklich starb und was für ein kuscheliger Typ sein Bodyguard gewesen sein muss.

Phase 3: „Oh shit, now I’m the bad guy“

…als ich hier und da auch mal andere Freunde aus der Gemeinde darauf ansprach und merkte, dass einige denken ich sei komplett durchgeknallt….und als eine HLT-Freundin daraufhin direkt nicht mehr zu meiner Geburtstagsfeier kam, ohne Absage, ohne alles…nur hintenrum erfuhr ich, dass sie mich nun als „Gefahr“ sieht… achso, und als ich anfing immer wieder auch selber zu denken, dass ich nun ein ‚bad guy‘ bin.

Phase 4: „Die Kirche mag in vielem falsch liegen, aber zum Glück kann ich mich ja auf das Neue Testament verlassen, an Gott glauben und Christ bleiben“

…als ich feststellte, dass gefühlt 70-80 % derjenigen, die eine HLT-Glaubenskrise haben, Atheisten und Agnostiker werden.

Phase 5: „Oh nein, nicht auch das noch“

…als ich darüber las, wie das Neue Testament entstanden war und wie wir die Liturgie der Juden/Frühchristen in unserer heutigen Zeit schnell mit Tatsachenberichten verwechseln… und dass ich nicht vertrauen kann, dass diese Dinge den tatsächlichen Ereignissen entsprechen.

Phase 6: „Shit, it’s really a cu**!“

…als ich nach langer Zeit, in der ich noch dachte die HLT-Kirche sei eine „High Demand Kirche,“ nochmal tiefer begann, Mermale von Ku**** mit den Mechanismen und Schriften der Kirche zu vergleichen, und merkte, dass leider sogar die HLT-Schriften, dummerweise sogar die Bibel, PV-Lieder, etc. so unglaublich viele dieser Dinge enthalten und in welcher Tiefe wir in ein gewagtes Brainwashing einsteigen, das später bei manchen dieser Kinder in die gleiche Krise führen wird, die ich selbst erlebt habe. Als ich merkte, wie viel gefährlichen „Stacheldrahtzaun“ wir verwenden, um den ‚Mormon Dream‘ zu schützen. Und wie viele Seelen daran kaputt gehen.

Jeder Weg ist einzigartig

Wären die letzten beiden Phasen nicht passiert, hätte ich Openfaith weiter betreiben können, aber nun sieht es so aus, dass ich das irgendwann abschließen muss. Irgendwann will man weiter gehen, auch für die eigene mentale Gesundheit und viele von Euch haben das schon getan.

Hey, jeder Weg ist einzigartig, ich kann damit leben, dass andere nicht so tief in dieses Rabbit Hole wollen oder sogar denken, das sei „unartig“. Ich habe das für mich akzeptiert und dafür Raum in meinem Herzen geschaffen. Wenn Du nicht die gleichen Stufen erlebst, ist das total OK für mich. Wenn Du sauer auf mich bist, auch.

Warum ich trotzdem darüber rede, obwohl es Leute sauer macht?
Weil das sonst immer so weiter gehen wird…
Es wäre gut, wenn noch mehr Leute darüber reden.

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H.S.
H.S.
1 Jahr her

Dann wird es Zeit in Phase 7 zu starten…. Vieles ist entzaubert und kaputt. Die Kirche wird (wahrscheinlich) nie wieder so gesehen werden können wie sie war. Man ist nicht der böse Typ und die Mitglieder sind auch nicht böse – niemand hat aus Böswilligkeit eine Überzeugung. Die Erfahrungen und Erkenntnisse der Mormonen liegen fragmentiert vor einem. Einige Dinge ordnen wir als schlecht ein (Vertuschung, Diskriminierung….), einige Werte sind gut, aber doktrinär vermittelt bzw. auf Grundlage falscher Geschichten begründet und wir haben gute Erfahrungen, eine Gemeinschaft, nette Freunde etc. die wir als gute Erinnerung mitnehmen. Ich habe viel gelernt und auch die schlechten Dinge haben mir gezeigt was ich nicht will bzw. warum ich Dinge heute anders lebe. Das Bewusstsein kann sich (zumindest bei mir) erst entwickeln, wenn man desillusioniert ist und alles in Stücken sieht – dann konnte ich wieder aufbauen. Ich verstehe dich, dass du vielleicht nicht diese Gruppe genauso weiter führen kannst, aber ich denke du wirst hier in anderer Form oder wo anders konstruktiv helfen Dinge aufzubauen. Kritik wird häufig als destruktiv betrachtet – konstruktive Kritik kann aber anderen helfen.

D.I.
D.I.
1 Jahr her

Lieber Guido, ich habe großen Respekt für deine schonungslose und offene Auseinandersetzung mit unserer Herkunftsreligion. Ich kann in allen Punkten total mit dir mitfühlen. Wie ich möglicherweise schon erwähnt habe, hilft mir das Buch „Recovering agency – lifting the veil of Mormon mind control” von Luna Lindsay Corbden, sehr bei der Identifikation und Dekonstruktion jener Prozesse die an der für mich spürbar gewordenen Programmierungserfahrung (mit guten Absichten aber dennoch unbewusst manipulativ) beteiligte waren.

Früher litt ich unter dem Unverständnis gläubiger Familienmitglieder und Freunde für meine Erfahrung. Aus meiner Selbstbeobachtung und den Erfahrungen vieler Anderer habe ich den Eindruck gewonnen, dass zwei Aspekte dabei eine große Rolle spielen:
1. die Kirche wird zu einem Teil der eigenen Identität. Wenn du die Kirche angreifst dann greifst du auch mich an.
2. in dem man überzeugt ist alle existenziellen Fragen (Ängste vor dem Tod, Verlust, etc) in der Kirche geklärt zu haben, stellt es eine existenzielle Bedrohung dar wenn die Kirche als beruhigende und Sicherheit schaffende Grundlage infrage gestellt wird

Guido Müller
Guido Müller
1 Jahr her
Reply to  D.I.

Dass Du auch beobachtet hast, wie sehr eine Religion Mormonismus Teil der eigenen Identität wird finde ich cool. Glaube das erklärt den ganzen Struggle…den man sowohl mit sich selbst als auch anderen erfährt im Zuge einer Distanzierung.

Man distanziert sich ja nicht nur von einer Religion, sondern von Teilen des Selbst…wobei manche davon ja sogar gut sind und andere dafür hoch toxisch. Das ist crazy sh**.

PS: ja das buch habe ich mir ja auf deine empf. hin reingezogen..sehr aufschlussreich

Anonymus
Anonymus
1 Jahr her

Euch zu lesen ist einfach ein Genuss. 👏