Interview über meinen Kirchenaustritt

Guido Müller

Vor wenigen Tagen ist ein Interview mit mir erschienen, in dem ich der Psychologin Susanne Schaaf von Infosekta Zürich meinen Werdegang als HLT-Mitglied und meinen kürzlichen Ausstieg begründe. Habe es mir gestern mal gründlich durchgelesen und stehe zu 100 % zu dem Gesagten, weshalb ich den Link weitergeben möchte.

Noch ein paar Worte dazu

Jeder von uns freut sich, Schmerz und Verlust hinter sich zu lassen und auf etwas Neues zu blicken.

Diese Phase ist nun auch bei mir nach meinem Kirchenaustritt gekommen. Eine Entscheidung, für die ich mir immerhin 6 Jahre Zeit genommen habe. Ich sehe es so: Aus unseren Erfahrungen entsteht „Verantwortung“…sowohl aus den guten, aber auch aus schmerzvollen.

Ich bin auch vor Jahren noch als Mitglied nie der Meinung gewesen, dass ein Totschweigen meiner Erfahrungen irgendjemandem dient. Selbst der Kirche und ihrer Community an aktiven Mitgliedern, die ich immer noch respektiere und schätze, ist damit nicht gedient, auch wenn sich diese Meinung dort wohl nicht sehr schnell durchsetzen wird. Besonders solange ihre „Propheten und Apostel“ lehren dass eine authentische Erzählung die kritische Punkte nicht ausspart, gänzlich unerwünscht und moralisch verwerflich sei.

In diesem Geiste dürft Ihr mein kürzliches Interview mit Susanne Schaaf von Infosekta Zürich als Versuch verstehen, mich von ungesundem Druck zu lösen und auf breiterer Bühne meine Story zu erzählen, und zwar weil ich eindeutig das Gefühl hatte, dies sei das Richtige. Nicht weil jede Erfahrung gleich ist und ich erwarte dass andere meine Erfahrungen machen müssen, sondern eben genau weil Erfahrungen sehr gemischt sind und eben die Mitglieder selbst nicht immer zu 100 % die Schuld daran tragen, wenn’s schief läuft, wie das innerhalb der Organisation häufig erzählt wird. Ich beobachte: Sehr häufig ist das genaue Gegenteil der Fall.

Viele werden das nun veröffentlichte Gespräch dennoch einfach als „Angriff“ auf ihre Kirche oder „Dampf ablassen“ verstehen…wenn Du das tust, vielleicht sagt Dir Deine Intuition ja doch noch eimal, etwas genauer hinzusehen…wenn nicht: Ich kann damit leben.

Hab‘ mich auf jeden Fall darum bemüht, sehr fair und vorsichtig zu sein. Aber nicht um den heißen Brei drum herum zu reden.

Ein Auszug aus dem Gespräch

Es folgt nun ein kurzer Auszug aus dem Interview:


Guido Müller: Die kirchenaktiven Mormonen, auch wenn sie das wohl nie zugeben würden, leben eine Art Parallelgesellschaft mit akzeptierten Lebensweisen, Meinungen und Haltungen. Sie selbst sind überzeugt, ihre Kultur sei in jeder Hinsicht offen und in alle Richtungen tolerant. Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass sich Mormonen doch auch stark abgrenzen. Da das funktionierende Gemeinschaftsgefühl auf dem Kontrast zur «Welt» beruht, müssen diese Unterschiede aufrechterhalten werden – das funktioniert nie ohne aktive Abgrenzung. Abgrenzende Parallelgesellschaften bieten vielen Menschen Identität, Orientierung und Halt, bis der notwendige «Stacheldrahtzaun» auch mal innerhalb der eigenen Seele verläuft, innerhalb des eigenen Freundeskreises oder der eigenen Familie.

„Durchmischung“ schafft natürlich gewisse Probleme und Auseinandersetzungen. Allerdings kann man in so einer Umgebung viel besser für das echte Leben lernen. Es ist ein grosser Irrtum und manchmal auch eine Selbsttäuschung, dass jede HLT-Familie oder auch sonstige Familien völlig homogen seien. Wenn Familien so übertrieben einig in Bezug auf alle Kirchenaspekte erscheinen, ist meiner Meinung nach häufig ein gehöriges Stück Fassade dabei. Eine gemischte Community hilft, offen und verletzlich das Leben und Unterschiede anzugehen. Sie hilft auch von Familienangehörigen zu lernen, dass Glaubensunterschiede und sonstige Unterschiede nicht unbedingt in unüberwindbaren Gräben münden müssen.

S. Schaaf: Wenn Sie einen Appell an Ihre Glaubensgeschwister richten könnten, wie würde dieser lauten?

Als ehemaliges HLT-Mitglied, das sich von der Kirche distanziert und so viele autoritäre Denkrichtlinien und Appelle erfahren hat, verspüre ich eine gewisse Hemmschwelle, einen Appell an alle zu richten. Aber vielleicht kann ich es so sagen: Der Mensch möchte sein bestes Selbst werden. In der Religion wird den Menschen viel vorgeschrieben, was dieses «beste Selbst» sein solle – und das muss nicht immer mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen, insbesondere weil es auch um so viele Äusserlichkeiten geht. Das zu ignorieren, kann im sanften Fall zu Unzufriedenheit, im harten Fall leider zu Sinnkrisen, tiefen Identitätskrisen, Depression, Selbsthass und Schlimmerem führen. Man sollte ruhig gute Ansätze in den Religionen mitnehmen, so wie man auch die weitergetragenen Weisheiten von Mama und Papa beachtet. Allerdings sollte man vor allem auch zunehmend auf seine innere Stimme hören, sich selbst und der eigenen Güte vertrauen, unabhängiger von externen Meinungen werden, auch wenn das in der eigenen Glaubensgemeinschaft mit einem Moralverfall gleichgesetzt wird. Was mir Angst macht, ist – auch gerade in der Zeit des Ukrainekriegs –, wie unfassbar gut Meinungskontrolle funktioniert. Man kann sogar eine völkerrechtswidrige Invasion dem eigenen Volk als «Friedensmission» verkaufen.

Wir alle sollten angesichts solcher Dinge lernen, uns selbst mehr zu vertrauen, uns weniger um das Wohlbefinden der «Organisation» kümmern, sondern auch selbstbewusst um das eigene Wohlbefinden und das der eigenen Liebsten, Grenzen setzen lernen, vulnerabel und authentisch sein, aber dabei versuchen, Respekt und Nächstenliebe zu wahren. Das sind Dinge, die leichter gesagt sind als getan. Mir persönlich haben sie geholfen.

S. Schaaf: Ich danke Ihnen für das interessante Gespräch.


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4 Comments
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D.G.
D.G.
1 Jahr her

Ich gebe dir vollkommen recht mit deiner Aussage.

A.S.
A.S.
1 Jahr her

dazu braucht es viel Mut, Klarheit und Schmerzresistenz – es ist kein leichter Weg! Hab Riesenrespekt davor, Guido Müller

J.M.J.
J.M.J.
1 Jahr her

Hi! Thanks for your courage! I was excimmunicated 8 years ago. Stay strong.
I am a religious studies researcher now on Charles university. Would it be able to have an interview with you too?

Guido Müller
Guido Müller
1 Jahr her
Reply to  J.M.J.

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