Zur eigenen Wahrheit stehen

Guido Müller

Bildquelle: Ultimate English Quotes

Ich weiß gar nicht mehr wie oft ich während meiner Zeit als hinterfragender HLT gehört habe, dass es doch unverantwortlich wäre, die ganzen unangenehmen Fakten hervorzukramen bzw. Gläubigen ein vollständiges, realitätsgetreues Bild zu geben.

Damit verletzen wir gläubige Menschen„, war auch hier in den deutschsprachigen Pfählen das immer wieder hervorgebrachte Argument, mit dem sich gefühlt jede und jeder zufrieden gab.

Und man beteuerte:

Wenn meine Oma stirbt, dann werde ich mich mehr öffnen mit dem was ich weiß.“

Wenn meine Mama eines Tages nicht mehr da ist, werde ich den Mut haben, meine Wahrheit auszusprechen.“

Wenn meine Kinder mal groß sind, dann werde ich authentischer in Bezug auf das ganze sein können.“

Doch wann ist dieses „Wenn“ erreicht?

Warum lassen wir es zu?

Oft habe ich mich gefragt, warum wir uns nicht mehr wehren gegen Geschichtsfälschung, Weißwaschen und Verklären? Ich vermute: In einer wirklich herausfordernden Welt schaffen wir uns so einen Ideal-Menschen, einen Fels in der Brandung. Joseph Smith, Jesus, Russell M. Nelson, oh wie sehr sehnen wir uns nach Helden und Idealen! Die uns dann anspornen, ebenfalls besser zu werden.

Dumm nur, dass diese krass überzogene Weißwaschung und Verklärung von religiösen Persönlichkeiten ungefähr so nachhaltig für Dich und Dein soziales Gefüge ist wie …womit soll ich es vergleichen?

So nachhaltig wie Chick-fil-A in den USA, wo wirklich noch jede einzelne Speise, jedes Menü, komplett in Vollplastik serviert wird – egal ob Du dort isst oder Take-Out machst… und das im Jahr 2022!!! (Habe das im April erleben dürfen – und mir wurde richtig schlecht!)

Irgendwann ist das Ökosystem dann halt so belastet, dass es „kracht“. Bis dahin ist es „einfach“, „schnell“, „gibt mir den spirituellen Kick“ und „alle tun es ja, was soll daran so falsch sein“?

Liebe Leute, steht zu Eurer Wahrheit, nicht zu der Variante, die Euch eine Organisation über 40 Jahre Eures Lebens eingeflößt hat. Ihr werdet womöglich Freunde verlieren und auch andere Dinge… Wird es wehtun? Sicherlich! Aber krass die Freunde die Ihr dazugewinnt! Krass das Gefühl, mit sich selbst in Einklang zu leben!

Krass das Gefühl, mutiger zu sein und zu dem zu stehen was man für sich erkannt hat!

Krass das umfassende Wachstum, das entsteht.

Krass, wie cool es ist, die ganzen kurzfristigen „religiösen Highs“ einzutauschen gegen eine dauerhafte innere Zufriedenheit, dass Dinge langsam wirklich besser werden, wenn man zu seiner eigenen Wahrheit gefunden hat und den Mut aufbringt, dazu zu stehen – auch wenn’s mal sauschwer ist… und das wird es durchaus sein.

Gilt nicht nur im Kirchenkontext

Das gilt übrigens genau so für Kritik an dem in vieler Hinsicht ziemlich kranken System, in dem wir leben, egal ob es um unsere Medien, unseren Konsum, unsere politische Diskussionskultur oder sonst was geht. Viele Leute wollen es einfach nicht hören und auch wir müssen richtig Mut aufbringen, uns selbst Fehler und ungesunde Muster einzugestehen.

Ich denke die Kirchenproblematik ist da eigentlich nur ein Beispiel, wie wir Menschen eine Kultur aus Anpassungszwang und Bequemlichkeit nicht mehr hinterfragen. Wir alle wollen dazugehören und unsere schlechten Gewohnheiten verteidigen…so sehr dass wir bereit sind, uns selbst bis zum Limit zu belügen.

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E.B.
E.B.
2 Jahre her

Guido Müller: ich frag mich, ob der Mensch, der sich von Autoritäten dankbar lenken lässt und gerne für einen Moment sein Hirn ausschaltet überhaupt zufrieden wäre mit einer sehr liberalen Atmosphäre. Ich fand die Kirche damals als ich zu ihr konvertierte genau deswegen interessant, weil sie mich klar positioniert hat. Das hat mir Rückhalt gegeben und mir das Gefühl von Orientierungslosigkeit genommen. Das noch mit allen positiven Sachen, die die Kirchengemeinschaft hat, war schon etwas super Heilsames für mich. Natürlich habe ich nach Wahrheit gesucht…. Aber habe ich das wirklich? Ich habe doch bewusst die evangelische Sektenberatung, die mir meine Mutter auf den Hals gehetzt hat, komplett unbeeindruckt links liegen lassen. Ich wollte dass die Kirche genau das ist was sie sagt, das sie sei. Diese Kirche war anders als die anderen. Sie hat mich so komplett aufgefangen. Auf einmal war ich Teil von all diesen Programmen und die zwischenmenschlichen Verbindungen waren wunderschön. Ich war nicht in Watte gepackt. Aber durch die Kirche bin ich immer viel weicher gefallen und wurde liebevoll aufgerichtet. Draußen in der Welt war das anders. Was hätte mir damals „die Wahrheit“ gebracht? Ich glaube die Kirche könnte den Schutz und den Rückhalt mit einem „wischi waschi Netz“ nicht geben. Es wäre eine andere Kirche. Vielleicht gar nicht mal so viel anders als viele andere Kirchen hier auch. Es war immer so ein Fakt, dass die Missionare immer mit psychisch angeknacksten Menschen ankommen. Ja… Vielleicht ist das ja auch deswegen, weil gerade diese Menschen, dieses sichere… Weiterlesen »

Guido Müller
Guido Müller
2 Jahre her
Reply to  E.B.

E.B.: zunächst mal kann ich das total krass nachvollziehen…denn diese Empfindensseite habe ja auch ich selbst…
wir leben eben doch auch in einer Welt, wo wir meinen, Festungen und Schutzwälle haben zu müssen, wenn wir eine wirklich liebevolle, himmlische Gemeinschaft pflegen wollen…die Welt ist zu kalt…sie versteht unsere Liebe, unseren Glauben nicht…wir müssen unsere Version der Wahrheit verteidigen und die Welt mit einem Zaun draußen halten….
nun ja, das ist ja alles irgendwie verständlich, aber immer zu behaupten es gäbe keinen Zaun und so zu tun als wäre man für alle offen, also wie die HLT-Kirche es tut, sowohl modern, offen und liebevoll daher zu kommen aber gleichzeitig hintendrin noch genug Sekte zu sein, das ist leider diese fahrlässige Zweigesichtigkeit, die für mein Leben so toxisch war.
Es kostet mich immer noch Kraft, nur noch ein Gesicht zu zeigen: mein eigenes…und dazu zu stehen. Da habe ich krass schlechte religiöse Vorbilder erlebt im doch so herzlichen und warmen Mormonismus.
Das was man als warm erlebt, kann, wenn ich dann doch mein Gesicht zeige, zur kältesten Gefriertruhe der Welt mit minus 200 Grad werden.
Du, ich respektiere total wie offen Du auch die andere Seite der Kirche zeichnest. Ausserdem ist jede und jeder anders. Ich denke es wäre UNSERE Aufgabe, die guten Dinge mitzunehmen und etwas Besseres zu schaffen. Sauschwer, aber es gibt bereits Ansätze da draußen. (Stichwort: Homodea.com) Das ist für mich das, was dem modernen Ansatz am nächsten kommt im D-sprachigen Raum.

F.K.
F.K.
2 Jahre her

ich glaube, dass die Glaubensstufen nach James Fowler nicht nur für die Entwicklung des Glaubens in der Religion anzuwenden sind, sondern auch für jede anderen Reise in die Mündigket. Religion, Politik… Wir sind von dieser Entfaltung mehr oder weniger stark betroffen, je nachdem wie wir gestrickt sind. In meinem Bekanntenkreis finde ich Menschen, die sich sehr wohl bei dem Gedanken fühlen, auf Antoritäten zu höhren und denen zu folgen, egal ob i Politik, Religion oder im Gartenverein. Ebenso kenne ich viele, die alles, aber auch wirklich alles ständig hinterfragen. Dazwischen dann diejenigen, die herummanövrieren. Ich glaube, für eine wahrhaftige Entfaltung muss man bereit sein. In meinem Umfeld sind Menschen, denen diese „Sicherheit“, die von außen über Institutionen angeboten wird, in ihrem derzeitigen Stadium brauchen. Die letzten Sonntagsschulklassen habe mir mal wieder die Augen etwas geöfnet. Es waren die Sprichwörter, die besprochen wurden. Mich faszinierte der Begriff > Weisheit <. Wann ist man weise, wie sieht weises Handeln aus?…. Darüber denke ich im Moment viel nach. Eines meiner Lieblingsgedichte ist von Rilke: „Ich finde dich in allen diesen Dingen, denen ich gut und wie ein Bruder bin; als Samen sonnst du dich in den geringen und in den großen giebst du groß dich hin. Das ist das wundersame Spiel der Kräfte, daß sie so dienend durch die Dinge gehn: in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.“ Eine schöne Metapher für die Vielfalt der Entwicklungsstufen, auf denen wie uns befinden, und alle haben ihre Berechtigung… Weiterlesen »

Guido Müller
Guido Müller
2 Jahre her
Reply to  F.K.

Danke! ich gebe auch zu, dass mein Beitrag so verstanden werden könnte, dass der einzige Bereich, wo man jetzt mutiger sein solle ist, die kirchengeschichte realitätsgetreu zu erzählen…ehrlich gesagt denke ich, dass das eigentlich der kleinste Teil ist…
Es geht nicht nur um Wahrheit bzgl. Kirche, sondern auch bzgl. uns selbst. Wir haben aber in der kirche irgendwie verlernt zu glauben, dass ein vollständiges Wahrheitsbild wirklich sehr kostbar ist und die Grundlage allen nachhaltigen Wachstums und dass auch die unangenehmen Seiten dazu gehören. Egal, ob es um Wahrheit bzgl. Smith, Gott, etc. geht, oder um uns selbst.

Sven R.
Sven R.
1 Jahr her

Schade: Von „offene Glaubensgespräche“ ist diese Seite im Verlauf zu einer Ansammlung von Anklagen und Beschuldigungen gegen die Kirche geworden. Schade, das ehemals vorhandene Potenzial wurde nicht genutzt.