„Eine innerlich gespaltene Organisation, die sich in einem harten Schutzpanzer versteckt“

Guido Müller

Ganz oft, wenn ich in den letzten Jahren mit der HLT-Kirche in Berührung kam, fühlte sich das an, als ob ich eigentlich mit „zwei Kirchen“ zu tun hatte. Auch in den Diskussionen hier habe ich oft das Gefühl, unterschiedliche Menschen reden über unterschiedliche Kirchen. Kann es sein, dass es nicht zwei Kirchen sind, sondern eine, die tief in sich selbst gespalten ist bzw. zwei völlig unterschiedliche Gesichter zeigt?

Einmal das Gesicht einer recht inklusiven, liebevollen und sogar stellenweise demütig wirkenden Organisation. Dieses Gesicht zeigte sich für mich in zahlreichen Sonntagsgottesdiensten, tollen Mitgliedern mit denen ich in Kontakt kam, an vielen Stellen im Buch Mormon und in zahlreichen sozialen Anlässen, in denen die Kirche Menschen zusammenbringt.

Auf der anderen Seite das Gesicht einer kontrollierenden und autoritären Persönlichkeit, die sich im Tempelendowment, Missionsregeln, Würdigkeitsinterviews und besonders in diversen Stellen des Buches Lehre und Bündnisse zeigt. Bestes Beispiel wäre hier Lehre und Bündnisse 132. Das wirkt so völlig aus dem Rahmen gefallen, dass einem ja beim Lesen die Kinnlade runterfällt.


Die Kirche wirkte also auf mich in den letzten Jahren immer mehr wie eine Person, die IN SICH SELBST gespalten war, aber sich nicht traut dorthin zu schauen. Weil sie Angst vor einer ehrlichen Aufarbeitung hat? Weil sie Angst hat, sich verletzlich zu zeigen? Weil die heilende Wirkung von Authentizität für sie ein Fremdwort ist?
Weil sie ihr hartes, autoritäres und rechthaberisches Gesicht als Schutzstrategie verwendet? Nach außen hin stark wirken will, damit man nicht auf die eigenen Verletzungen schauen muss? Zum Beispiel auch wenn Oaks sagt, dass sich das Prinzip des Sichentschuldigen nicht in den Schriften zu finden sei?

Ich bin seit diesem Monat in einer Ausbildung von Spiegel Beststeller Autorin und Trauma-Expertin Verena König, in der es um die Verarbeitung von Traumata geht. In der heutigen Forschung zu dem Thema gehen zahlreiche Experten den Erklärungsansatz, dass Spaltungen in der eigenen Persönlichkeit durch traumatisierende Erlebnisse entstehen. Und sich auf unheilvolle Weise im späteren Leben manifestieren, wenn diese nicht richtig verarbeitet werden.

Worin könnten die Traumata dieser Organisation begründet sein?
Nun ja, ich würde mal sagen „Haunts Mill“ und die „Extermination Order“….dann auch dieses ständige Gefühl von „Wir wollen Euch hier nicht, zieht weiter!“….“Was redet ihr für’n Quatsch?!“…“Ihr seid seltsam!“….da sehe ich traumatisierendes Potenzial für eine Gruppierung. (Dass Mormonen in der frühen Kirchengeschichte sich selbst nicht optimal verhalten haben und durchaus proviziert haben, sollte wohl niemanden verwundern, aber das ist jetzt nicht Thema.)

Meine Beobachtung: Viele der schönen, inklusiven Teile dieser Glaubensrichtung sind sehr früh entstanden, wo in der Kirche auch noch viel Chaos herrschte, oder es noch gar keine Organisation gab. Die massiv gestörten, obessiv-kompulsiven Anteile sind erst nach diversen grundlegenden „Meteoriteneinschlägen“ für die Kirchenseele entstanden…. das Ende der Ära Smith und besonders die Brigham Youngs Zeit würde ich dafür als Höhepunkt sehen.

Haben wir es mit einer durch unverarbeitete Traumata in sich gespaltenen Organisation zu tun, die sich in ihrer harten, gepanzerten Schale als „einzig wahren Kirche“ mit Autorität und „unerträglichem Kontrollgehabe“ versteckt? Die aber auch immer noch eine andere, inklusive und liebevolle Seite hat?

Mich würde Eure Meinung dazu interessieren.

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E.H.
E.H.
1 Jahr her

Ich sehe das Gegenteil. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist eine starke Einheit. Anders als bei allen anderen christlichen Kirchen beruht eine „Reformierung“ immer auf göttlicher Offenbarung, nicht auf Menschenweisheit.

H.M.M.
H.M.M.
1 Jahr her

Ich finde, Deine Beobachtung einer schizophrenen Kirche ist zutreffend. Was Du beschreibst, sind die zwei Seelen, mit der sich eine Institution wieder findet, die sich ihrer eigenen Reformation und ihrem institutionellen Umkehrprozess entgegenstellt. Die Theologie kennt diesen Begriff der creatio continua, dem fortgesetzten Schöpfungssinn Gottes, der kontinuierlich Leben schenkend durch Umkehrwillen Neues schafft.
In der Auseinandersetzung mit anderen christlichen Kirchen und, ich würde sagen, aus „erster Hand“ ist mir aufgefallen, was dieser Reform- oder Umkehrprozess bewirkt.
In der katholischen Kirche ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts z.B. durch das 2. Vatikanische Konzil und der Öffnung für die Wissenschaft und den Modernismus.
In der Gemeinschaft Christi durch die Abstoßung schädlicher exklusivistischer Lehren bis hin zur neuen Namensfindung. Eine Gruppe, die sich weigert, sich selbst kritisch und grundlegend zu hinterfragen und die nicht bereit ist, sich fortlaufend am sensus fidei, dem inspirierten Glaubenssinn der Christen und an Gott auszurichten, verpasst diese fortlaufende Schöpfung und Belebung. Sie ist, wie ein „Sünder“, der nicht willig ist, sein Leben in Ordnung zu bringen, im kontinuierlichen Streit mit seinen zwei Naturen.

H.S.
H.S.
1 Jahr her

Deiner Perspektive kann ich sehr gut folgen! Ich denke die mormonische Kirche zeigt ein stark ausgeprägtes Komplexverhalten. Sie demonstriert Macht, aber keine Stärke und schon gar kein Selbstbewusstsein (Selbstüberschätzung dafür nicht zu knapp). Großspurig schwelgt man in Superlativen, wähnt sich aber schon bei einfachen kritischen Fragen in der Opferrolle, statt diese schlicht und einfach zu beantworten oder sogar sich kritisch zu hinterfragen. Eine wirklich selbstbewusste Kirche würde den vielen ernsthaften Fragenden schlicht und einfach Antworten geben, statt bereits bei begründeten Fragen gleich das Label Anti-Mormonen (wie sagt man dazu heute, wo Mormonen teuflisch sein sollen?) auszuteilen. Warum geht kein Apostel oder Nelson persönlich zu Mormon Stories und tauscht sich dort aus bzw. erklärt?! Insbesondere in der Anfangsphase von MS wollte man einfach verstehen und war sehr pro LDS, auch wenn man nicht die Augen verschlossen hat. Anders gesagt, ich wünsche mir eine wirklich selbstbewusste Kirche. Dazu muss sie sich aber erstmal über sich bewusst werden und das geht nicht, wenn man beleidigt, verschämt Auseinandersetzung vermeidet – intern wie extern. Für mich legt die LDS mit ihrem Verhalten Zeugnis gegen ihre vorgegebenen Ansprüche ab.