„Probleme mit dem Jesaja-Text des Buches Mormon warfen schwerwiegende Fragen für mich auf“

Community-Beitrag von Siegfried Herrmann

Bildquelle: Pressefoto der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Spitzname: Mormonen)

Vor 20 Jahren bin ich aus der Mormonenkirche ausgetreten. Ich möchte hier mit euch teilen, mit welcher Frage alles bei mir angefangen hat:

Ich stieß auf ein Problem, das die Authentizität des Buches Mormon in Frage stellt

Im Laufe meines Germanistik-Studiums lernte ich irgendwann, wie Texte vor der Erfindung des Buchdruckes handschriftlich überliefert wurden, welche Fehler dabei auftraten und wie man nach den Methoden der heutigen Textkritik die ursprünglichen Texte zu rekonstruieren versucht. Als ich diese Erkenntnisse auf den Jesaja-Text im Buch Mormon anwandte, stieß ich zum ersten Mal durch eigene Nachforschungen auf ein Problem, das die Authentizität des Buches Mormon in Frage stellt. Obwohl das in der Kürze nicht ganz leicht zu erklären ist, versuche ich es hier dennoch: Generell ist bei handgeschriebenen Texten – was alle Texte bis ins 15. Jhd. waren – eine Kopie dem Original umso ähnlicher, je älter sie ist. Je mehr Abschriften von Abschriften, desto mehr Fehler treten auf – verständlicherweise.
Nun lebte Jesaja ca. 700 v. Chr., unsere älteste Kopie dieses Buches stammte für lange Zeit aus dem 10. Jhd. n. Chr. Da Lehi Jerusalem 600 v. Chr. verlies, musste sein Jesaja-Text auf dem Messingplatten der orginalgetreueste sein, vermutlich hat damals das Original sogar noch existiert. Das könnte erklären, wie die vielen Veränderungen im Jesaja des BM gegenüber der Bibel zustande kamen: der Text wurde in über eineinhalb Jahrtausenden so stark abgeändert, dass vieles einen völlig anderen Sinn erhielt. Soweit so gut.
Die Sache wird aber problematisch, wenn man nun die Schriftrollen vom Toten Meer in Betracht zieht. Die nämlich enthielten eine vollständige Jesaja-Rolle – datiert auf das 1. Jhd. v. Chr. Nach allen Regeln der Textüberlieferung müsste dieser Text vom Toten Meer am meisten mit dem Text des BM übereinstimmen. Tut er aber nicht – ganz im Gegenteil. Von den vielen Änderungen im BM gegenüber der Bibel enthält der Jesaja-Text vom Qumran nicht eine einzige! Dagegen stimmen Bibel-Jesaja und Tote-Meer-Jesaja zu 99,9 Prozent überein. Und was das Ganze noch problematischer macht: An einigen wenigen Stellen konnte der Text der Bibel durch die Jesaja-Rolle vom Toten Meer verbessert werden – eben Überlieferungsfehler. Diese Fehler wiederum sind im BM alle vorhanden – ausnahmslos.

Es drängen sich einige schwerwiegende Fragen auf

Aufgrund dieser Fakten drängen sich einige schwerwiegende Fragen auf:

  1. Woher hat Joseph Smith die vielen Änderungen des Jesaja Textes im BM, zumal diese in keiner anderen überlieferten Quelle mit auch nur einem Wort zu finden sind?
  2. Wenn die Änderungen von Gott offenbart sein sollen, warum hat Gott dann nicht die darin enthaltenen überlieferten Fehler korrigiert und den ursprünglich an Jesaja offenbarten Text korrekt wieder hergestellt?
  3. Für wie glaubwürdig kann überhaupt ein angeblich antiker Text gelten, für den es keinerlei einsehbare Quelle gibt?

Was bedeutet das nun? Einzig mögliche Konsequenz nach den Erkenntnissen der Literaturwissenschaft: Joseph Smith hat seinen Jesaja Text im BM nicht von antiken Platten übersetzt, sondern einfach aus der Bibel abgeschrieben (mit allen Überlieferungsfehlern, die zwischen dem 1.Jhd. v. Chr. und dem 9. Jhd. n.Chr. entstanden waren) und nach eigenem Ermessen selbst verändert. Keine andere Erklärung ist nach den Regeln der Literaturüberlieferung möglich.

Wenn man fragt, wird einem das Gefühl vermittelt, man täte etwas Unrechtes

Da sich in der Kirche natürlich niemand mit solchen Fragen auskennt, habe ich auch niemanden gefunden, der auch nur das Problem verstanden hätte – geschweige denn eine plausible Antwort wusste. Mit derartigen Fragen fühlt man sich in der Kirche einfach absolut alleine. Und wenn man fragt, wird einem das Gefühl vermittelt, man täte etwas Unrechtes, und es wäre gefährlich und sündig, die Heiligen Schriften oder Joseph Smith in Frage zu stellen.
Immanuel Kant hat einmal geschrieben „Eine Religion, die der Vernunft den Krieg erklärt, wird diesen Krieg auf lange Sicht immer verlieren“(Zitat frei). Wie Recht er doch hat. Begründeter Zweifel, der einmal aufgekommen ist, verschwindet nicht einfach wieder – er verlangt nach plausiblen Erklärungen. Und wo die fehlen, geht der Glaube an das betreffende System verloren.

Tja – und genau so kam es.

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