Religiöses Trauma: Was Dir in der Kirche niemand sagt

Von Claudine Foudray

Du hast den Begriff „religiöses Trauma“ vielleicht noch nie gehört, aber vielleicht hast Du es erlebt. Oder kennst jemanden, der es erlebt hat. Ich bin durch meinen ältesten Sohn zum ersten Mal mit religiösem Trauma in Berührung gekommen.

In seiner Jugend hatte er sich darauf gefreut, auf eine Mission zu gehen. Als er das Missionsalter erreichte und nicht mehr in die Kirche gehen wollte, war ich verwirrt.

Als ich erfuhr, dass er 20 Stunden am Tag schlief, wusste ich, dass etwas wirklich nicht stimmte. Er war ein junger Mann, der weit weg von zu Hause lebte, aber er hatte nicht genug Energie, um für sich selbst zu sorgen. In meiner Verzweiflung, herauszufinden, was los war, bat ich ihn, wieder bei seinem Vater und mir einzuziehen, damit wir ihn versorgen konnten.

Er wollte nicht über die Kirche reden

Es dauerte Monate, bis er körperlich und seelisch stabil war; während dieser Zeit verstummte er jedes Mal, wenn ich die Kirche erwähnte. Er hatte Schmerzen, und ich wusste, dass es nicht daran lag, dass er Buße tun musste. Ich hatte lange genug gelebt, um emotionale Traumata zu erkennen. Ich konnte es in seinem Gesicht sehen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was passiert war.

Schließlich erfuhr ich, dass mein Sohn den CES-Brief und andere Informationen gelesen hatte, die ihn davon überzeugten, dass die Kirche nicht wahr sein kann. Er war verletzt und wütend und wusste nicht, wie er ausdrücken sollte, wie sehr er sich von seiner Religion betrogen fühlte und wie verloren er sich ohne sie fühlte.

Wie kann ein junger Mann die Religion seiner Herkunft ablehnen, ohne seine Familie zu verletzen? Wie löst er den Schmerz, den er über sein Leben in der Kirche empfindet, ohne sich auch mit der Tatsache zu konfrontieren, dass seine Eltern (die er liebt) dafür verantwortlich waren, dass er in der Kirche erzogen wurde? Wie findet er nun, da er nicht mehr an den Heilsplan glaubt, einen neuen Sinn im Leben?

Mein Herz schmerzt immer noch, wenn ich an die enormen Schmerzen denke, die er allein erlitt. Kein Wunder, dass er nicht aus dem Bett kam!

Unsere Beziehung wurde zu meiner ersten Priorität

Mit Hilfe von Medikamenten, Vitaminen und Sonnenschein kehrte seine körperliche Kraft allmählich zurück. Aber er hatte immer noch Angst, mit mir über sein Kirchentrauma zu sprechen.

Der Wendepunkt in unserer Beziehung kam eines Tages, als wir einen Spaziergang machten. Er begann, sich negativ über die Kirche zu äußern, machte aber sofort einen Rückzieher. Ich flehte ihn an, mit mir zu reden. Ich sagte ihm, dass ich mich um ihn und unsere Beziehung sorge und dass es mir lieber wäre, wenn er sich negativ über die Kirche äußern würde, als dass er allein im Stillen leiden müsste. Er wollte mir glauben, aber er war sich nicht sicher.

Was ich aufgeben musste

Nicht lange nach unserem Spaziergang hatte ich ein starkes „spirituelles“ Erlebnis. Wie bei allen solchen Erfahrungen ist es schwierig, sie in Worte zu fassen. Aber etwas in mir wusste, dass ich meinen Wunsch, er möge jemals wieder in die Kirche zurückkehren, aufgeben musste, damit mein Sohn geheilt werden konnte.

Mein Glaube, ich wisse, was für ihn richtig sei, war eine Barriere zwischen uns. Ich spürte, dass er sich nicht sicher fühlen würde, solange er nicht wusste, dass mir seine Heilung wichtiger war als alles andere.

Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich den Wunsch verlieren könnte, dass er als Mormone aktiv bleibt. Aber als ich seinen Schmerz miterlebte, begann sich etwas in mir zu verändern.

Als ich aufhörte, ihn ändern zu wollen, und mich der Möglichkeit öffnete, dass er mich ändern könnte, spürte er es. Zum ersten Mal fühlten wir uns sicher miteinander.

Ich wusste es damals noch nicht, aber das war der Beginn einer Heilungsreise für uns beide.

(Leider musste ich zuerst mein eigenes Trauma durchleben. Als ich anfing, selbst zu recherchieren, war das, was ich fand, nicht das, was ich erwartet hatte.) 

Was ist ein religiöses Trauma?

Dr. Marlene Winell definiert das religiöse Trauma-Syndrom folgendermaßen:

Das religiöse Trauma Syndrom (RTS) ist eine Folge sowohl des chronischen Missbrauchs einer schädlichen Religion als auch der Auswirkungen des Abbruchs der Verbindung mit dem eigenen Glauben und der eigenen Glaubensgemeinschaft. Es kann mit einer Kombination aus PTBS und komplexer PTBS (C-PTSD) verglichen werden… Den Glauben zu verlieren oder aus der Religion auszutreten bedeutet den Tod des bisherigen Lebens – das Ende der Realität, wie sie verstanden wurde. Das ist ein gewaltiger Schock für das System, der als Trauma erkannt werden muss.

Dr. MaRlene Winell (QUELLE: BABCP.com)

Mit anderen Worten: Du kannst ein religiöses Trauma (auch Kirchentrauma genannt) erleiden, weil Du bei der Ausübung Deiner Religion geschädigt wurdest und/oder durch die psychologischen Folgen des Austritts aus Deiner Religion.

Religiöses Trauma im Mormonentum

Sowohl Danna Hartline (Gründerin von The Mormon Trauma Mama) als auch Lesley Ann Butterfield (Gründerin von Unrighteous Dominion) setzen sich dafür ein, die Menschen über die vielfältigen Formen des religiösen Missbrauchs innerhalb der LDS-Kirche aufzuklären. Leider wird den Opfern von kirchlichem Missbrauch oft nicht geglaubt; manche werden sogar beschuldigt. Dadurch wird das Trauma noch verschlimmert.

Religiöses Trauma beim Verlassen des Mormonentums

Es kann traumatisch sein, das Zeugnis seiner religiösen Überzeugungen zu verlieren, vor allem, wenn man sich von denjenigen verraten fühlt, denen man glaubte , vertrauen zu können. Du fragst Dich vielleicht, ob Du Deinem eigenen Urteil jemals wieder trauen solltest.

Wenn Du die Welt nicht mehr aus der Sicht der Mormonen siehst, hast Du vielleicht das Gefühl, dass Du Deine Identität verlierst. Die Kirche hat Dir eine vorgefertigte Wertestruktur, eine soziale Gemeinschaft und ein Gefühl der Bestimmung gegeben. Außerdem wurdest Du mit Berufungen, Aktivitäten und Versammlungen auf Trab gehalten.

Vielleicht hast Du keine Vorstellung davon, wie das Leben außerhalb der Kirche aussehen würde, und das kann Dir Angst machen. Wenn Du als Mormone aufgewachsen bist, wurde Dir außerdem von klein auf beigebracht, dass Sicherheit und Glück von Gehorsam und Loyalität gegenüber der Kirche abhängen. Dem Propheten zu folgen wird als gleichwertig mit Gott folgen dargestellt. Kinder im Grundschulalter (und auch Erwachsene) werden gewarnt, dass Satan sie täuschen will.

Eine solche Phobie-Indoktrination ist eine Form des geistigen Missbrauchs, weil sie Dich dazu bringt, Deinen Instinkten zu misstrauen, und Dich glauben lässt, dass die Gefühle von außen kommen. Wenn Du aus der Kirche ausgetreten bist, Dir aber weiterhin Sorgen machst, dass Satan Dich beeinflussen kann, erlebst Du die Auswirkungen der Indoktrination, nicht die Realität.

Was sind die Symptome eines religiösen Traumas?

Meine Nachforschungen zu diesem Thema haben ergeben, dass alle der folgenden Punkte häufige Symptome des emotionalen Traumas sind, das mit dem Verlust des Zeugnisses und/oder dem Verlassen der Religion einhergeht:

  • Angstzustände oder Panikattacken
  • Emotionale Gefühllosigkeit
  • Schuld/Scham
  • Wut
  • Schlaflosigkeit
  • Erschöpfung
  • Veränderung des Appetits
  • Sozialer Rückzug
  • Meidung bestimmter Personen/Orte
  • Alpträume
  • Verwirrung
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Stimmungsschwankungen
  • Gefühle der Hoffnungslosigkeit
  • Gefühle von Trauer/Verlust
  • Das Gefühl, nirgendwo hinzugehören
  • Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung

[Wenn eines der oben genannten Symptome länger andauert oder Dein Leben beeinträchtigt, suche eine professionelle Beratung auf.]

Keines dieser Gefühle ist ein Hinweis darauf, dass der Kirchenaustritt eine falsche Entscheidung war. Diese Gefühle sind Zeichen dafür, dass man ein Mensch ist und einen religiöse Transformation durchmacht.

Gemischte Gefühle sind normal

Natürlich ist der Austritt aus einer Religion nicht ausschließlich mit Trauma verknüpft. Die meisten Menschen empfinden eine enorme Erleichterung, weil sie nicht mehr versuchen müssen, die Teile ihres Glaubenssystems zu verstehen, die nie einen Sinn gemacht haben! Viele Menschen sagen, dass sie sich lebendig fühlen wie nie zuvor.

Mit anderen Worten: Der Austritt aus der Religion ist mit gemischten und intensiven Gefühlen verbunden. Wenn Du aus der Kirche austrittst, hast Du vielleicht das Gefühl, gerade aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein und im Lotto gewonnen zu haben, während Du gleichzeitig noch dabei bist, Dich von einer Scheidung, einem Todesfall oder einer langfristigen Krankheit zu erholen.
Es ist nicht leicht, einen Weg durch ein religiöses Trauma zu finden, aber es ist möglich. Viele andere Menschen haben dies durchstanden und kommen wunderbar ohne die Kirche zurecht.

Wenn Du Dich vom Mormonentum abwendest, habe Geduld mit Dir selbst.
Hier sind 5 Tipps, die dabei helfen:

  1. Informiere Dich 
    In der Vergangenheit hast Du Deine Bereitschaft zum Lesen eingeschränkt. Lass diese Grenzen fallen. Lies über die Geschichte der HLT-Kirche und die Geschichte des Christentums. Lerne etwas über die Evolution. Erfahre mehr über kognitive Dissonanz, Stammespsychologie und logische Irrtümer. Lesen wird Dir ein größeres Bild vermitteln, und Dir helfen, Dein bisheriges Denken zu verstehen und neue Perspektiven eröffnen.
  2. Hole Dir Unterstützung
    Suche einen Therapeuten und/oder einen Life Coach. Trete Online-Selbsthilfegruppen bei. Gehe zu einer Veranstaltung mit ehemaligen HLTs und triff echte Menschen, die die gleiche Veränderung durchmachen.
  3. Verlasse die Bubble 
    Finde Menschen, die nie Mormonen waren, und sprich mit ihnen. Melden Dich für einen Kurs an. Nimm ein neues Hobby an.
  4. Verbringe Zeit in der Natur
    Das klingt nach einer Kleinigkeit, aber die Natur gibt uns Kraft. Ich habe so viel Heilung darin gefunden, Vögel in meiner Nachbarschaft zu beobachten.
  5. Lass Dir Zeit
    Wenn man aus einer Religion austritt, die alle Antworten hatte, kann es unangenehm sein, nicht zu wissen, was als nächstes kommt. Wenn man ein Leben voller Strukturen gelebt hat, die von einer äußeren Quelle geschaffen wurden, weiß man vielleicht nicht, was man mit sich selbst anfangen soll. Es ist in Ordnung, wenn man es nicht weiß. Versuche, den Gedanken zu denken: „Ich finde es heraus, und das ist in Ordnung.“

Wo auch immer Du auf Deiner Reise bist, begegne Dir selbst mit Mitgefühl

Es gibt keinen „richtigen“ Weg, eine Glaubensveränderung zu vollziehen. Es gibt keinen Moment der Ankunft. Das Leben wird uns immer wieder Gelegenheiten bieten, uns selbst zu lieben und andere zu lieben.

Wie mich mein ältester Sohn gelehrt hat, ist Liebe viel wichtiger als alle Antworten zu haben.

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt von https://postmormoncoaching.com/blog/religious-trauma-at-church/

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