„Ich fühlte mich viel zu oft genau so – wie ein großer Vogel, der unübersehbar zu bunt und exotisch für das Uniforme war“

Community-Beitrag von Gwen

Heute bin ich über diese Meme gestolpert – okay im original stand Baptist und ich hab es ein wenig editiert:

Natürlich habe ich mich oft gefragt, wie ich überhaupt dazu kommen konnte, dass ich mich den Mormonen angeschlossen habe und vor allem, warum ich so lange trotz Zweifeln geblieben bin. Und das wird bestimmt lang, also schnappt euch einen Kaffee oder so. 😉

Ich war damals gerade 19 Jahre jung, hatte mein Abitur in der Tasche und mein Weg, wie es weiter gehen sollte, war eigentlich schon fix. Im Herbst sollte ich mein theologisches Studium, mit dem Ziel Pastorin zu werden, in Erzhausen beginnen. Das wollte ich seit ich 8 Jahre alt war. Dafür habe ich in den vergangenen Jahren hart gearbeitet, mich in meiner Freizeit mit Theologie beschäftigt und meine Energie voll und ganz in dieses Ziel investiert.

Und ich war so überzeugt davon, dass dies auch genau das ist, was Gott für mich wollte.

Trotzdem war ich ziemlich genau heute vor 22 Jahren zum ersten Mal in einer Abendmahlsversammlung der HLT. Trotzdem habe ich mich nicht einmal drei Wochen später taufen lassen, um ein Mitglied dieser Kirche zu werden. Bevor ich mich zum ersten Mal mit den Missionaren traf, hatte ich das Buch Mormon schon gelesen und wusste um die Begebenheiten um Joseph Smith und die Entstehung der Kirche, zumindest soweit es durch die offline Lektüre weichgespült wurde. Ich war das, was man einen „Golden“ nennt.

Wie konnte das passieren?

Die eigene Zerbrochenheit als Ursache

Mit dem heutigen Wissen (und der Weisheit der 42 😉), ist es einfachste Küchenpsychologie. Ich komme aus einem sogenannten ‚broken home‘. Mein Vater ist abgehauen als ich elf Jahre alt war und hat meine Mutter mit 4 Kindern, das jüngste wenige Monate alt, sitzen lassen. Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen, ja selbst die Großeltern dieser Seite haben sich von uns Kindern abgewandt. Bis zu meinem elften Lebensjahr waren wir eine glückliche Familie, jede Woche waren wir bei Oma und Opa zu Besuch. Dass dies nun alles wegbrach, war ein traumatisches Erlebnis. Das habe ich damals nur nicht so wahrgenommen. Wir hätten eigentlich professionelle Hilfe gebraucht. Aber stattdessen war ich als ältestes Kind nun in der Situation, in der ich glaubte Verantwortung übernehmen zu müssen. Denn natürlich war meine Mutter mit all dem genau so überfordert. Plötzlich sahen wir uns mit Armut konfrontiert, denn der Vater sah es auch überhaupt nicht ein, auch nur einen Pfennig Unterhalt zu zahlen. Plötzlich waren wir nicht mehr die Familie eines Dachdeckermeisters mit sehr gutem Einkommen, sondern Sozialhilfeempfänger, die sehr oft ’nicht mehr dazugehörten‘. Keine Musikschule mehr, keine Sportvereine, keine Freizeiten, keine Schwimmbadbesuche, kein Kino, keine neuen Spielsachen und Klamotten – all das war nicht mehr drin.

Das hat etwas in mir gebrochen, zerbrochen. Und die Sehnsucht nach einer gesunden, tollen Familie, einer Bilderbuchfamilie, war tief in mir verwurzelt.

Auch, wenn mir das nicht bewusst war.

Ich entwickelte mich zu einer Persönlichkeit, die perfekt sein wollte, die den Anforderungen genügen wollte, die genug sein wollte – die aber nach eigenem Dafürhalten nie auch nur ansatzweise genug war, um geliebt zu werden, um ihrer selbst willen.

Ich machte meinen Abschluß mit 1,3 – und dies ist so prägend für diese Haltung – ich dachte, ich hätte versagt, habe mich selbst so sehr abgewertet für dieses Scheitern und mich jahrelang, Jahrzehnte lang, genau darüber definiert. Ich war nicht gut genug. Ich hätte besser sein müssen als das.

Die HLT als einziger Halt und Schlupfloch

Mein einziger Halt war eigentlich meine Gemeinde, meine Beziehung zu Gott und plötzlich bekam ich Angst. Angst auch hier nicht genug zu sein, zu versagen, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Also begann ich nach Schlupflöchern zu suchen, mich aus dieser vermeintlichen Verantwortung zu stehlen. Statt diese Ängste offen mit meinem Pastor und Mentor zu thematisieren, denn ein sehr wohlmeinendes „in fünf Jahren bist du Pastorin und Hirtin dieser Gemeinde“ löste in mir nur noch Panik aus.

Genau dieses Schlupfloch hat der Mormonismus mir geboten. Frauen sind nicht dazu berufen zu leiten. Frauen sind keine Priestertumsträger. Frauen sind keine Prophetinnen. Frauen sorgen dafür, dass es eine tolle, heile Familie gibt, die von Pamphleten strahlt. Das ist ihre Aufgabe, das ist ihre Verantwortung. Eine tolle, gesunde, heile Familie.

Dafür habe ich bereitwillig viele Kröten geschluckt.

Meine pfingstlerisch-charismatischen Wurzeln haben es mir sogar sehr leicht gemacht, zu glauben, dass Joseph Smith diese Offenbarungen genau so empfangen haben könnte. Ich wollte es glauben, denn es war für mich der einfachere Weg.

Zu allem Übel kam es in meiner eigentlichen Gemeinde zeitgleich zu meinem Ausflug in die HLT zum Bruch, weil Menschen eben Menschen sind und manchmal eben sehr menscheln. Dieser Bruch auf meine bereits gebrochene Persönlichkeit war dann für mich zu nicht mehr tragbar.

Schöne heile Welt in der HLT

In der HLT hingegen war alles so schön, so geordnet und vermeintlich einfach, perfekt, alle waren glücklich und ich trank bereitwillig das mir hingestellte Kool-aid. Ich war gar nicht mehr in der Lage es zu durchschauen.

Und selbst ohne diese Vorgeschichte wäre es doch sehr viel für eine 19-Jährige gewesen, da die Zusammenhänge zu erkennen.

Das Narrativ der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bediente eine Sehnsucht in mir, die ich seit Jahren in mir trug. Im Grunde war es nicht die Theologie, die mich überzeugte, denn in meinem Herzen war und blieb ich doch immer sehr charismatisch. Sehr ‚anders‘. Und auch das kam mir zu Gute. Ich konnte brennend Zeugnis geben, tolle Ansprachen halten, tief in das Herz Gottes gehen und begeistern. An meiner tiefsten Überzeugung, den fünf Solas, hat sich nie etwas geändert. Und genau das hat, denke ich, eine Sehnsucht in vielen Mitgliedern bedient – eigentlich doch genug zu sein. Aus Gnade und Glauben an Christus allein gerecht zu sein, angenommen zu sein, so wie sie sind. Ein diabolischer Kreislauf – ich zog meine Bestätigung aus dem, was ich an Feedback bekam, war trotzdem nicht gut genug, und viele Mitgliedern hingen an meinen Lippen um genau das zu hören: dass sie genug sind.

Ich, eine bunter Vogel in der HLT

Gepasst habe ich dennoch nie in diese Mormon Mold – ich betete weiterhin so, wie ich es gelernt habe, sah die ‚Big 15‘ nie als letzte und höchste Instanz an und habe alles, was sich in mir sträubte, ignoriert bis hin zur Selbstverleugnung.

Genug, gut genug oder würdig war ich aus meiner Sicht eh nie. Auch wenn ich es doch so sehr sein wollte. So sehr immer noch an diesem Bild festgehalten habe, selbst als es sich schon sehr bald in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Das gebrochene Kind in mir wollte, dass es doch irgendwie wahr sein muss, dass es doch diese heile Welt geben kann.

Auch wenn ich schon früh aus erster Hand wusste, dass es alles nur eine Fassade ist. Schmerzlich erfahren musste, dass die heile Welt gar nicht existierte. Nicht einmal bei denen, die eine Bilderbuchfamilie waren und immer glücklich selig heile Welt spielten.

Ich fühlte mich viel zu oft genau so – wie ein großer Vogel, der unübersehbar nicht hinein passte. Der viel zu bunt und exotisch für das Uniforme war. Wenn ich mein Gefühl nicht ignoriert hätte, als ich zum ersten Mal in einem HLT Gottesdienst war, wäre ich kein zweites Mal erschienen. Das, was man als andächtig verstand war für mich eine Qual. Niemand war begeistert, niemand sang, tanzte oder klatschte. Zur Musik, die mich an eine Beerdigung erinnerte, wäre das auch nicht möglich gewesen. Mein geliebter Lobpreis existierte nicht. Die Ansprachen waren lahm und ohne Feuer. Mein Gefühl sagte mir eigentlich: Lauf! Immer und immer wieder. Es schrie mir ins Gesicht, als mein Zweigpräsident mich kurz nach meiner Taufe in sein Büro bat, um mir einen Vortrag darüber zu halten, dass ich unbedingt eine andere Bibel bräuchte – dieser große bunte Fisch darauf sei ein Symbol der falschen Lehre. Ich solle doch nicht mehr damit in die Kirche und schon gar nicht aufs Podium kommen. Es rang verzweifelt nach Luft um noch lauter zu schreien, als meine Art zu beten zum offenen Diskussionsthema einer Klasse wurde und man mir eigentlich meine Andächtigkeit und Ernsthaftigkeit absprach. „So machen wir das nicht, dass ist nicht, wie Gott es will, lass das bitte. Gott erhört solche Gebete nicht!“

Ich habe es immer und immer wieder zum Schweigen gebracht, sei es im Tempel als ich erkannte, dass dies nichts mit Gott zu tun hatte, als der Patriarch mich mit seinen Worten verletzte, als der Mann mit dem ich Dinge tat, die nicht in Ordnung waren, zum Bischof berufen wurde. Als Unrecht getan wurde, als selbsternannte Propheten im Namen Gottes Menschen mit Füßen traten, als diejenigen, die sich doch damit rühmen lassen, dass sie Nächstenliebe leben, einfach nichts taten.

Heute bin ich hoffentlich weiser, habe viel verstanden und habe vieles überwinden können, was mich damals zur leichten Beute werden ließ. Und dennoch bleibt ein Stück Schmerz in mir, dass ich so verführbar war. Aber ich bin froh und dankbar, dass ich den Weg zurück gefunden habe in meinen bunten Vogelschwarm, in dem ich doch immer genug war, in dem ich mich nicht zurecht biegen muss, um irgendwie reinzupassen, der mich sieht in allem was nicht perfekt ist und trotzdem mit mir gemeinsam „fliegen“ will.

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R.B.
R.B.
1 Jahr her

Liebe Gwen, statt eines Kaffees reichten bei mir auch 2 Muffins während ich Deinen Beitrag las. Danke für Deine Offenheit und Deinen – trotz dramatischer Erlebnisse – herrlichen Sinn für Komik und Ausdruck. Ich finde, Du bist ein klasse bunter Vogel und Du bist genau richtig, so wie Du bist. Es ist so befreiend, wenn man den kleinen, gehorsamen Perfektionisten mal ablegen kann und *sein Selbst* sein kann.
Bei der Musik musste ich schmunzeln. Haben oft so träge und wehklagend gesungen. Immer zu langsamcomment image hab manchmal versucht, n Tick schneller zu singen in der Hoffnung, dass es abfärbt. Ein bisschen mehr Phil Wickham hätte gut getancomment image

Gwen
Gwen
1 Jahr her
Reply to  R.B.

comment image danke für deine lieben Worte. Ja die Musik… Ich bin Musikerin, ich bin Worshipperin – schon immer und ewig. Und dann komme ich (gestures vaguely) in das.comment image Es war immer eine Qual für mich. Phil Wickham, Outbreak Band, Planetshakers, Elevation Worship … Meinetwegen auch Hillsong oder Vinyard… Irgendwas davon, selbst in homöopathischen Dosen hätte dem Ganzen gut getan.comment image

J.F.
J.F.
1 Jahr her

Wow der Bericht geht mir unter die Hautcomment image! Du bist eine tolle Person und zeigst so viel Stärke und Weisheit!
Ich finde es sooooo schlimm immer mehr zu erkennen, dass Mormonen/Religion die „verwundbaren“ Menschen ausnutzen zu ihren Gunsten! Es ist ein echtes Geschwür (sehr Augen öffnendes Buch ist „The God virus“).
Und dann wundern sich Mormonen, warum wir kaum „normale“ Menschen taufen/bekehrencomment image und wir wussten immer, weil sie glücklich sind und nichts in ihrem Leben vermissen/suchen. Aber natürlich in guter Mormonen Tradition schaut man da herab und sagt die sind nicht demütig genug etc … … 🤢😬

Gwen
Gwen
1 Jahr her
Reply to  J.F.

Ja, da bin ich ganz bei dir. Die Kirche (und andere ähnliche Organisationen) zielt ja genau auch auf solche Menschen. Menschen, die verwundet sind, die schwere Zeiten durchmachen. Und dort fällt sie ja immer wieder auf fruchtbaren Boden – Ehe man es sich versieht, ist man tiefer drin als man denkt und es ist nicht leicht, sich dem wieder zu entziehen. Es gibt einem ja doch auch was. Zumindest eine Zeitlang, für gewisse Bedürfnisse.

F.L.
F.L.
1 Jahr her

Deine Geschichte macht mich betroffen, aber gleichzeitig freue ich mich über eine weitere Mit-Dissidentin. Es gibt uns, die Aliens inmitten der Verblendeten.
Die HLT-Kirche/Religion ist etwas, das von Menschen konstruiert wurde. Am bedenklichsten empfinde ich die sklavische Leichtgläubigkeit der Mitglieder.
Du bist mir ein Lichtblick. Mit Deinem Insiderkenntnissen von einer anderen Kirche bist Du in der Lage zu vergleichen und weisst, dass Kirche nicht gleich Kirche ist.
Die in die HLT-Kirche Hineingeborenen und dort Aufgezogenen sind mit einer Denkschule verhaftet, von der sie sich auch lange nach Austritt noch immer nicht trennen können.
Wir beide haben den Vorteil, dass wir Vergleiche ziehen konnten und können, weil wir mindestens zwei Glaubensgemeinschaften profund kennen. Wer nicht vergleichen kann, weil er das andere nur oberflächlich oder aus Informationen der eigenen Kirche kennt, ist immer im Nachteil in seinen Urteilen und seinem Denken.

Gwen
Gwen
1 Jahr her
Reply to  F.L.

Danke. Ja, das ist richtig. Im Nachhinein ist es bei mir aber auch so, dass ich oft denke, OBWOHL du diese Kenntnisse hast, bist du drauf reingefallen. Das ist ziemlich bedenklich und zeigt, wie diese „Psychospielchen“ laufen und wie bedürftig und hungrig der Mensch in seinem Innersten doch auch ist.

J.D.K.
J.D.K.
1 Jahr her

Danke dir für diesen ehrlichen, menschlichen Beitrag