Archiv für den Monat: Januar 2023

Das Endowment und der Tempel: Erfahrungen

Community-Gespräch (Moderation: Guido Müller)

Das hier waren meine Worte letztes Jahr in meinem Interview anlässlich meines Kirchenausstiegs…das Interview entstand bereits teilweise im Januar 2022. Seither habe ich bewusst viele mormonische Kanäle und Podcasts deabonniert und war offensichtlich auch nicht mehr im Tempel.

Hat sich aus Eurer Sicht im Tempel noch mehr verändert? Wie steht Ihr zu meiner damaligen Einschätzung? Wo seht Ihr es anders? Wie war Eure Endowment-Experience?
An die bestehenden Mitglieder: Findet Ihr alles am Tempel wunderbar und gesund oder seht Ihr es selbst teilweise kritisch?
Ich treffe schon seit Jahren – auch kürzlich wieder – auf aktive HLT, die bewusst nicht mehr in den Tempel gehen, die aber dennoch Mitglied bleiben.


Hier das Zitat aus meinem Ausstiegsinterview:
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Kommen wir auf den Tempel zu sprechen. Die Mitglieder erhalten ein Empfehlungsschreiben ihres Vorstehers oder Bischofs, das ihnen den Zutritt zum Tempel gewährt. Die mormonischen Tempel haben eine besondere Bedeutung, sie sind Teil der sogenannten «Wiederherstellung des vollständigen Evangeliums».

Mission und Tempel sind eng miteinander verknüpft – und es sind meines Erachtens die beiden sektenhaftesten Erlebnisse, die man in der HLT-Kirche haben kann. Wenn man sich mit Missionaren trifft oder im Buch Mormon liest, so fühlt es sich methodistisch an, eine lebendige Art, den Glauben zu leben. Das hat mit der engen Verbindung von Joseph Smith zu den Methodisten zu tun. Das Buch Mormon greift religiöse Denkweisen und Praktiken des 19. Jahrhunderts auf. Auf Mission oder im Tempel mit den freimaurerhaften Zeremonien erleben viele Mormonen einen ganz anderen Mormonismus, sektenartig und kontrollierend, einen starken Eingriff ins Leben. In einem Erfahrungsbericht zur sogenannten Endowment-Zeremonie sagte ein Betroffener: «Es ist, als ob man den bis dato rücksichtsvollen frischvermählten Ehemann zum ersten Mal kontrollierend erlebt. Bis dahin hat er von einfacher Liebe und Glauben gesprochen, plötzlich wird er immer fordernder, droht Konsequenzen an und zwingt mich, über meine Erfahrung nicht mit Aussenstehenden reden zu dürfen.»

Wie äussert sich das konkret?

Ich kenne wirklich viele Mormonen, die bestürzt oder heulend aus dem Endowment herauskamen. Endowment ist die belehrende Zeremonie beim ersten Tempelbesuch eines erwachsenen Gläubigen. Das war für viele ein Schock. Bis 1990 waren im Endowment Drohbotschaften enthalten, zum Beispiel wenn man die Geheimnisse gegenüber Aussenstehenden preisgibt. Sie sind immer noch da, aber etwas abgeschwächt. Ich vermute, Smith formulierte das anno dazumal wohl so dramatisch, um seine Gefolgschaft an sich zu binden in einer Zeit, in der der Mormonismus noch nicht so etabliert und von Krisen gebeutelt war. Es gab laut meiner Lesart Zeiten, wo der Mormonismus gerade mal ein Dutzend Befürworter:innen hatte. Den Gläubigen, die Probleme mit dem Endowment haben, wird häufig gesagt, es werde besser, wenn man die Zeremonien einige Male wiederholt.

Geht die Kirche nicht ein Risiko ein, dass Mitglieder abspringen, wenn diese Zeremonien nicht angepasst werden?

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Direkt verbinden mit dem Göttlichen: Die verlorene Ursprungsidee des Mormonismus

Guido Müller

Der Ursprung des Mormonismus: ein Junge geht mit offenen Fragen und offenem Geist in den Wald und baut Kontakt mit „dem Göttlichen“ auf. (Nein, ich glaube nicht, dass dort zwei Gestalten aufgetaucht oder erschienen sind, werde aber jetzt nicht ins Detail gehen.)

Ich glaube, dass Joseph aber durchaus etwas gespürt hat, das JEDER VON UNS AUCH HEUTE auch so ähnlich spüren kann, wenn man mit offenem, suchenden Geist und einer Bereitschaft zur Verbundenheit in die unberührte Natur geht.

Die tolle ursprüngliche Botschaft des Mormonismus ist nämlich: Du brauchst diese ganzen Zwischeninstanzen nicht. DU kannst ganz für dich DIREKT eine Verbindung haben. Du kannst in den Wald, auf nen Berg oder ans Meer gehen – und Verbindung haben. Du brauchst keine externen Autoritäten. Du brauchst GAR NICHTS. Und es ist egal, wie alt Du bist, wie gebildet Du bist, wie angesehen Du bist, was Du besitzt. Alle sind hier gleich.

DIESE Botschaft ist eigentlich immer noch oder mehr denn je hoch relevant für die Welt und auch für die Mormonen.

Wir haben Smartphones, Tablets, VR-Brillen…wir haben rund um die Uhr Konnektivität. Aber uns fehlt allzu häufig VERBINDUNG. Wir haben hunderttausende Likes und Follower, aber uns fehlt VERBINDUNG. Wir haben Luxushäuser, Luxusautos, Luxusuhren aber uns fehlt VERBINDUNG. Wir haben ZWÖLF APOSTEL, EIN SIEBZIGERKOLLEGIUM, und einen PRÄSIDENTEN. Aber uns fehlt allzu häufig die eigene VERBINDUNG. (Vielleicht auch ihnen?)

Die Autoritäten der Kirche reden heute ständig vom BÜNDNISPFAD und dass ich auf die Autorität, den PROPHETEN, hören muss. Die Botschaft der Ersten Vision und auch der Bibel (Numeri 11:29) ist, jeder kann und soll „Prophet“ sein. Jeder kann und soll Verbindung haben. „Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu PROPHETEN würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte!“ Eine englischspr. Version die ich heute morgen fand, ist da noch stärker: „I wish that all the Lord’s people were PROPHETS and that the Lord would put his Spirit upon them all!“

François Radzik: „Veränderung in meinem Glauben“

Ein Gespräch mit François Radzik

Aufzeichnung des Live-Gesprächs vom Samstag den 21. Januar 2023

François Radzik, Familienvater, vormals Zweigpräsident, Bischof und Pfahlpräsident in der Schweiz sowie Autor diverser Bücher mit mormonischem Hintergrund, hat seine Bereitschaft erklärt, ab Januar 2023 Support Termine für HLT mit zu gestalten, die offen mit Bedenken, Fragen und Zweifeln umgehen wollen. In diesem Zuge führten wir dieses Live-Gespräch. Er beweist einmal mehr, wie bunt die Meinungsvielfalt unter HLTs ist, wenn man einmal wirklich offen und frei seine Meinung äußert. In diesem Video erfahren wir, wo François heute steht in seinem Prozess und was bei ihm zu Veränderung geführt hat.

AUSZUG AUS DEN FRAGEN

  1. Würdest Du uns ein paar Eckdaten zu Dir und Deinem Bezug zur Kirche geben?
    Wie lange bist Du Mitglied? Wie und wo hast Du gedient? Was hast Du in der Kirche geschätzt und tust es noch?
  2. Was waren ein oder zwei bewegende Momente in der Kirche für Dich? Wo Du gesagt hast: Das ist das richtige für mich. Hier bin ich richtig aufgehoben.
  3. Was waren Schlüsselmomente, wo sich Deine Beziehung zur Kirche verändert hat? Was ist da passiert und was hat es in Dir ausgelöst?
  4. Wie sieht heute Deine Überzeugung aus und was hat sich verändert?
  5. Du hast auch mehrere Bücher mit HLT-Bezug geschrieben – was würdest Du in groben Zügen heute anders schreiben?
  6. Warum hast Du Dich vor ein paar Wochen entschlossen, dass Du Menschen innerhalb der Kirche supporten willst, die einen offenen Umgang mit ihren Problemen und Zweifeln pflegen wollen?
  7. Was brauchen Menschen, die in der Kirche Zweifel und Probleme haben, aber doch drin bleiben möchten?
  8. Du hast davon gesprochen, dass Kirchenmitglieder eine Resilienz oder Widerstandsfähigkeit brauchen, und dass sie auch offen mit verstörenden Fakten umgehen können sollten. Wie stellst Du Dir das vor? Was tut man aktuell und wie könnte man es als Organisation womöglich besser machen?



Für mich eines der bezeichnendsten Zitate von François:

„Es ist nicht das einzelne Werk, das die Wahrheit birgt, es ist die Fülle von Meinungen, die uns der Wahrheit näherbringen.“

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Polygamie: Geheimhaltung, Verteidigung und Fazit

Von Mike (LDSDiscussions.com)

Emma, Joseph und die Frauenhilfsvereinigung: Auf welche Weise wurde Polygamie geheim gehalten, gerechtfertigt oder dementiert? (Bildquelle: LDS.org Media Library)

Zwischen den ersten beiden Essays zum Thema Polygamie liegen nun weit über 25.000 Wörter über Polygamie, und ich bin mir bewusst, dass ich dieses Thema abschließen und zu anderen Themen der Kirchengeschichte übergehen muss. Bevor wir jedoch weitermachen, möchte ich einige andere allgemeine Probleme mit Joseph Smiths Polygamie behandeln und einige weitere apologetische Antworten aus dem Aufsatz der Kirche betrachten, um darzulegen, warum ich glaube, dass Polygamie nicht nur nicht von Gott ist, sondern dass die apologetischen Antworten der Kirche nicht zu den von mir dargelegten Berichten passen.

Geistliche Ehe vs. Plural-Ehe

Ein Problem, das ich bei der Lektüre des Buches  hatte, war die Art und Weise, wie die Kirche die Idee der „geistlichen Ehe“, die von John C. Bennett und Joseph Smiths Bruder William Smith praktiziert wurde, darstellte. Der Versuch, die beiden zu trennen, wirkt wie ein apologetischer Versuch, Joseph Smith als den rechtschaffensten Menschen zu bewahren, aber die Details lassen für mich keine so große Unterscheidung zu. Aus dem Aufsatz der Kirche:

„Dennoch verbreiteten sich Gerüchte. Einige wenige Männer nutzten diese Gerüchte skrupellos aus, um Frauen zu verführen, sich ihnen in einer nicht genehmigten Praxis anzuschließen, die manchmal als „geistliche Ehefrauenschaft“ bezeichnet wird. Als dies entdeckt wurde, wurden die Männer aus der Kirche ausgeschlossen.“

Wie ich im zweiten Polygamie-Überblick über den Happiness-Brief erwähnt habe, entstand die Idee der „geistigen Ehe“ zur gleichen Zeit, als Joseph Smith die Polygamie ausbaute, und zwar unter denjenigen, die Joseph Smith am nächsten standen.

Tatsächlich hatte nicht nur John C. Bennett, der Joseph Smith in dieser Zeit sehr nahe stand, Sex mit Frauen unter der Idee der „geistigen Ehe“, sondern auch Joseph Smiths eigener Bruder William. Obwohl die Kirche dies als etwas völlig anderes als die „Mehrehe“ hinstellen will, sind sie in Wirklichkeit gar nicht so verschieden, wenn man sie so betrachtet, wie man jede andere Gruppe betrachten würde, die diese Art von Idee praktiziert.

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Polygamie: Joseph Smiths Überzeugungsmethoden und Heiratsanträge

Von Mike (LDSDiscussions.com)

Aus dem historischen Essay der Kirche zur Polygamie:Joseph erzählte seinen Mitarbeitern, dass ihm zwischen 1834 und 1842 dreimal ein Engel erschien und ihm befahl, mit der Mehrehe fortzufahren, als er zögerte, weiterzumachen. Bei der dritten und letzten Erscheinung kam der Engel mit einem gezückten Schwert und drohte Joseph mit der Vernichtung, wenn er nicht weitermachte und das Gebot vollständig befolgte.“ (Bildquelle: Unbekannt)

Im ersten Teil unseres Überblicks über die Polygamie habe ich mich mit den Ursprüngen der Polygamie in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage befasst und die Offenbarung von 1831 betrachtet, nach der man sich unter den „Lamaniten“ Frauen nehmen sollte, um die Nachkommenschaft „weiß, herrlich und gerecht“ zu machen,Joseph Smiths Beziehung zu Fanny Alger, Probleme mit polyandrischen Ehen, die Vision von 1836 im Tempel von Kirtland, die Lehre von 1841, dass „wo kein Ankläger ist, da ist auch keine Sünde“, und die Herstellung und die Probleme mit dem Text von LuB 132.

Dieser Überblick wird sich mit der Art und Weise befassen, wie Joseph Smith die Polygamie umsetzte, wobei der Schwerpunkt auf einigen der Frauen liegt, denen Joseph Smith einen Heiratsantrag machte, sowie auf den Methoden, die er anwandte, um sie zu überzeugen, mit ihm eine polygame/polyandrische Ehe einzugehen.

In diesen Übersichten werde ich weiterhin den Text von LuB 132 heranziehen, um zu zeigen, wie Joseph Smith gegen seine eigene Offenbarung verstoßen hat, und ich werde mich auf den Aufsatz der Kirche über Polygamie beziehen, um auf die apologetischen Argumente zu antworten, die die Kirche für diese Probleme anführt.

Ich habe dieses Zitat in die erste Übersicht aufgenommen, aber ich denke, es ist unglaublich wichtig, es zu lesen, bevor wir uns mit der Art und Weise beschäftigen, wie Joseph Smith diesen Frauen, die ihn als Propheten Gottes verehrten, einen Antrag machte. Aus einer Präsentation von Jonathan Streeter bei Sunstone über Joseph Smith und den „Happiness Letter“ an Nancy Rigdon:

„Denken Sie daran, dass göttliche Sondergenehmigungen nichts Neues sind… Der selbsternannte Prophet David Koresh und die Davidianer beanspruchten eine besondere göttliche Erlaubnis, sich Kinderbräute zu nehmen, um die 24 Ältesten zu zeugen, die im Buch der Offenbarung vorausgesagt werden. Der selbsternannte Prophet Wayne Bent von der Kirche des Herrn unserer Gerechtigkeit beanspruchte die besondere göttliche Erlaubnis, sexuelle Beziehungen zu Kindern zu haben, sogar zu seiner eigenen Schwiegertochter, um Gottes Strafe zu vermeiden. Der selbsternannte Prophet Julius Shacknow von der als „The Work“ bekannten Sekte beanspruchte das besondere Privileg, im Austausch für Geschlechtsverkehr mit Frauen und Kindern, einschließlich seiner eigenen Stieftochter, Erlösung zu versprechen. Der selbsternannte Prophet Tony Alamo von Alamo Christian Ministries beanspruchte die biblische Sondererlaubnis, illegal mehrere Frauen und Kinder zu heiraten. Der selbsternannte Prophet David Berg von den Children of God beanspruchte eine besondere göttliche Erlaubnis, sexuelle Beziehungen zu Kindern zu normalisieren. Es ist nichts Neues, dass Propheten ihre eigenen Raubzüge mit frommer Sprache und religiösen Gefühlen als göttliche Sondererlaubnis rechtfertigen.“

Wenn wir diesen zweiten Überblick durchgehen, werden Sie sehen, dass viele dieser Elemente auch auf die Art und Weise zutreffen, wie Joseph Smith diesen jungen Frauen vorschlägt und sie unter Druck setzt, etwas zu akzeptieren, von dem er behauptet, es sei ein direktes Gebot von Gott. Ich weiß, dass es fast unmöglich ist, sich von unseren lebenslangen Gefühlen für die Kirche und Joseph Smith zu trennen, um diese Berichte so objektiv zu lesen, wie wir es bei den anderen oben aufgeführten selbsternannten Propheten tun würden, aber um zur Wahrheit zu gelangen, müssen wir diese emotionalen Gefühle für eine Weile beiseite lassen, um zu sehen, was die historischen Aufzeichnungen über Joseph Smith und die Polygamie aussagen.

Bevor ich beginne, möchte ich einige der Gemeinsamkeiten zwischen Joseph Smiths Frauen und seinen Vorschlägen hervorheben.

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