Daniel Schmidl : „Lernen zu sein, der ICH bin“

Die Transformation des eigenen religiösen Weltbildes ist mit das tiefgehendste und einschneidendste das einem Menschen widerfahren kann – insbesondere wenn sich dieses komplett auf den Kopf stellt, aber die eigene gläubige und kirchenorthodoxe Grossfamilie weiterhin daran festhält: Daniel Schmidl ist Ex-HLT, Psychologe und Therapeut im Bereich systemische Familientherapie. Hier erzählt er seine Glaubensreise als HLT (Mormone) und erläutert seine veränderte Sichtweise auf die Kirche und die Themen „Wahrheit“, Entscheidungsfreiheit, Schuld und Spiritualität.

Wir erfahren über Daniels Kindheit und Jugend in Österreich als ältestes von acht Kindern in einer treuen HLT-Familie (Mormonen), seine Vollzeitmission in London, England und wie sich die Heimkehr nach Österreich gestaltete. In seinem Psychologie-Studium lernt er seine spätere Frau Astrid kennen, in die er sich schnell verliebt, die aber kein Mitglied der HLT-Kirche ist. Er beschreibt Astrids Bekehrung und herausfordernde Erfahrungen in der Kirche. Wir erfahren, wie sich seine Sicht auf Wahrheit, Glaube, Kirche und Orthodoxie grundlegend verändert. Daniel beginnt zu erläutern, was bei ihm nach einem „Bilderbuch-Mormonenleben“ zum inneren Bruch mit der Kircheninstitution und der Kirchenkultur geführt hat.

Daniel beschreibt im zweiten Teil seiner Gesprächsreihe mit Guido Müller die weitere gedankliche Auseinandersetzung mit seinen Gründen für die Trennung von der Kircheninstitution. Er setzt sich mit Schuld und schädlichen Selbstbildern auseinander und betrachtet das Prinzip der Entscheidungsfreiheit aus einer neuen Perspektive. Das Gespräch mündet letztlich in der Erkenntnis, dass seine neue Perspektive auf Schuld und Entscheidungsfreiheit zu mehr Selbstakzeptanz führt, mehr Verständnis für Andersdenkende – und sogar vermehrter Toleranz für umstrittene und fehlbare religiöse Figuren wie Joseph Smith.

In diesem dritten und vorerst letzten Teil des Glaubensgesprächs geht es darum, wie Daniel nach seiner Abwendung von der HLT-Kirche denkt – und was sich in Bezug auf „Gemeinschaft“ und „Geistigkeit/Spiritualität“ verändert hat. Folgende Punkte werden behandelt:
– Paradigma der „auserwählten Generation“ und damit verbundene Gefahr der Überheblichkeit – Finden neuer „Gemeinschaft“ ohne innere Barrieren und Vorurteile
– Finden einer neuen und intensiven Geistigkeit außerhalb des üblichen kirchlichen Rahmens
– Bücher und Quellen, die Daniel persönlich geholfen haben. (Eckhart Tolle, Secular Buddhism Podcast, etc.)
– Sich mit dem eigenen Inneren verbinden, das „was ist“ vorbehaltlos akzeptieren, tieferliegende Bedürfnisse und Herzenswünsche erkennen
– „Lernen, der zu sein, der ICH bin“ vs. „Versuchen zu werden, wie JEMAND ANDERS ist “
– Erfahrungen mit diesem Erkenntnisprozess in seinem eigenen Leben und in der psychotherapeutischen Praxis
– Was Daniel ganz persönlich nach seiner Glaubenskrise glücklich macht

Interview mit Daniel Schmidl (2019)

Die Fragen dieses Interviews stellten Guido Müller und andere Teilnehmer der openfaith Community.

Wie schon eingangs erwähnt, sind die Schmidl’s bereits in vierter Generation Mitglieder der Kirche – und mit Sicherheit noch in vielen weiteren Generationen – so wie es aussieht! 😊 Konntest Du noch ein wenig mehr über die Ursprünge in Erfahrung bringen?

Danke lieber Guido für die Möglichkeit meine Geschichte zu teilen. Mein Großvater (mütterlicherseits) war etwa 12 Jahre alt (1922) als sein Vater starb – kurz danach klopften Missionare der Kirche in Österreich an die Türe der verbliebenen Familie und er und seine Mutter (also meine Urgroßmutter) wurden getauft. Die Eltern meiner Großmutter (auch mütterlicherseits) stammten aus Polen und fuhren nach Wien auf Hochzeitsreise, wo sie ansässig wurden. Meine Urgroßmutter lernte auch Anfang der 20er-Jahre die Kirche kennen und wollte sich taufen lassen, doch ihr Mann erlaubte es nicht. Sie ging ab diesem Zeitpunkt trotzdem immer zur Kirche und wurde schließlich mit ihren Kinder eines Tages getauft. So lernten sich meine Großeltern mütterlicherseits bereits als Mitglieder in der Kirche kennen, womit ich auf 2 von 4 möglichen Linien ein Mitglied vierter Generation bin.Mein Vater war als ausgelernter Tischler von Kärnten nach Wien gekommen um die Matura nachzuholen und dann zu studieren. Er war voller Wissensdurst und voller Begeisterung über Kunst und Kultur der Hauptstadt als er die Missionare 1960 an einem Dienstag kennen lernte. „Ich bin katholisch und bleibe katholisch“, waren seine ersten Worte – doch nach einer intensiven Beschäftigung mit der Kirche schloss er sich 5 Tage später (am Sonntag) voller Begeisterung der Kirche an, wo er die traditionsreiche Familie meiner Mutter kennen und meine Mutter lieben lernte. Von da an war die Kirche für ihn die uneingeschränkte Quelle allen Heils!

Wie hast du deine Kirchen-Kindheit in Erinnerung? Wie wurdest Du erzogen in Bezug auf den Glauben und die Kirche?

Es fällt mir schwer Kirchenkindheit von der „Restkindheit“ zu trennen, weil Kirche und Familie meinem Empfinden nach in meiner Familie sehr stark verwoben waren und sind. Ich muss grundsätzlich festhalten, dass ich ganz wunderbare Eltern habe, die aus Überzeugung und Begeisterung die Kirche zu einem zentralen Bestandteil der Familie machten. Für mich blieben die Folgen dieser enormen Verwobenheit lange Zeit (ca. 46 Jahre) verborgen. Auffällig ist für mich, wie schwer es mir fällt, mich an Gefühle in Bezug auf die Kirche zu erinnern. Meine Erinnerungen bestehen vor allem aus den Gefühlen, die mir meine Eltern vermittelten: große Begeisterung und Freude über das enorme Glück bei der einzig wahren Kirche zu sein. Das Kirchenumfeld machte gefühlte 95% meiner Kindheit aus. Freundschaften und Aktivitäten schienen sich fast ausschließlich im besagten Umfeld abzuspielen. Traf man sich mit der großen Verwandtschaft, so waren dort ausschließlich Mitglieder der Kirche. Jahrelang führte unser Sommerurlaub vor allem in die Schweiz zum Tempel. Meine Eltern hatten uns in einen Bilderbuchbauernhof in der Nähe des Tempels einquartiert und dort hatten wir natürlich immer eine wunderschöne Zeit – von der Anreise mit Hängematte im VW-Bus bis zu den Welpen der Berner Sennhündin „Senta“ die wir liebten. Kirche war immer von der fröhlichen Stimmung meiner Eltern begleitet und der Ort an dem man seine besten Freunde traf. Die einzige Schattenseite an die ich mich erinnern kann war das lange Warten auf meinen Vater nach der Kirche als Gemeindepräsident oder Bischof – schnell wurden aus der angekündigten Viertelstunde zwei volle Stunden. Ähnlich lange dauerten auch Gebete, Ansprachen und das Heimlehren. Schöne Erinnerungen habe ich an Segnungen, die mein Vater mir gab oder die Freude meiner Eltern an Ansprachen. Die erste „Ansprache“ übrigens als 3-jähriger in Bad Vilbel/Frankfurt. Ich sollte 1. Nephi 3:7 vortragen und sagte dabei lt. Erzählung meiner Eltern statt „Ich will hingehen…“ Folgendes: „Wer möch’ hingehen…“ (eine erste unbewusste Regung einer Erkenntnis, die erst 43 Jahre später an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült wurde??). Pädagogisch waren meine Eltern ihrer Zeit in vieler Hinsicht um Jahrzehnte voraus. Sie bemühten sich um individuelle Entfaltung und möglichst viel Freiheit bei unserer Entwicklung. Priorität hatten für sie vor allem Herzensbildung, bedingungslose Liebe aber auch Verlässlichkeit(=Konsequenzen) bei den Folgen unseres Handelns. Was sie aber aus meiner Sicht völlig übersehen hatten (wie gesagt alles aus Liebe und Wohlwollen heraus), war der enorme Suggestivcharakter ihres Redens und Handelns in Bezug auf die Kirche. Ständig wurde mir gesagt, wie wunderbar sich alles in der Kirche anfühlt. Dies machte es mir aus heutiger Sicht de facto unmöglich in Berührung mit meinen eigenen Gefühlen zu kommen.

Man kann aus Deiner Antwort herauslesen, wie sehr Du Deine Eltern respektierst für Ihre Bemühungen und wie viel Du davon zu schätzen wusstest. Dennoch findest Du aus heutiger Sicht auch eine klare Abgrenzung, was genau Dir nicht gefallen hat, obwohl Deine Eltern es gut meinten. Wir sollten dann evtl. später noch genauer drauf eingehen, wie sich das auswirkte für den weiteren Verlauf Deines Lebens.

Du hast recht. Ich empfinde meine Eltern in sehr vieler Hinsicht als großen „Segen“ (glücklichen Umstand?/segensreiche Fügung) in meinem Leben, weil sie ihr bestes gegeben haben, was meiner Meinung nach für alle Eltern gilt – nur stehen verschiedenen Eltern eben unterschiedliche Fähigkeiten, Erfahrungen um Umstände zur Verfügung.

In der Kirche gibt es die Erwartung, dass man ein Zeugnis erlangt. Hast du damals (im traditionellen Kirchensinn) ein „Zeugnis“ für Dich erhalten? Stichworte: Buch Mormon, Joseph Smith, Wahre Kirche, etc.? Wie genau lief das für Dich ab?

Ich hatte nie eine punktuelle geistige Erfahrung, die ich als Antwort auf meine Gebete einordnen würde. Meine Überzeugung schien sich angeschlichen zu haben. Mit der Zeit (bis zum 15. oder 16. Lebensjahr) verfestigte sich die Überzeugung einfach, dass es wahr ist. So ähnlich wie es Elder Renlund beschreibt, als er als Kind betete, keine punktuelle Antwort erhielt und zu der Einsicht kam, dass er es ohnehin schon längst wüsste. So erklärte ich mir den Mangel an spezifischen geistigen Antworten als Jugendlicher auf meine Gebete bis hin zu meiner Mission. Wie bereits erwähnt waren wir Kinder (habe 7 jüngere Geschwister) einfach permanent der extrem positiven Konnotation aller kirchenbezogenen Aspekte „ausgeliefert“. Mein Vater erzählte beispielsweise Abend für Abend eine Fortsetzungsgeschichte (übrigens enorm talentiert und beeindruckend mehr als 10 Jahre lang), von der wir nicht genug kriegen konnten (meine Mutter musste immer wieder seine Erzählbegeisterung zugunsten unseres Schlafes bremsen). Held der Geschichte war ein besonders kluger und jeglichen Herausforderungen (Kriminelle, Sünder, Ausbildung, Arbeit, Freizeit, Sport) gewachsener junger Mann, den ich mir immer als Mischung aus Joseph Smith und gerade aktueller Prophet zu Jugendzeiten vorstellte. Er meisterte mit Hilfe des Evangeliums sämtliche Probleme. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass sich die übernommenen Gefühle meiner Eltern in einem Umfeld, welches ausschließlich selektiv auf die positiven Effekte der Kirche hinwies, immer wieder selbst bestätigten. Auf Mission, während meiner Ausbildung und besonders deutlich, von meiner Frau beim Kennenlernen, wurde mir immer wieder unterstellt, dass ich wohl nur deswegen ein Zeugnis hätte, weil ich in der Kirche aufgewachsen sei. Dem widersprach ich jedes mal entschieden! Meine Eltern hätten mich zu nichts gezwungen und mir sogar freigestellt, den katholischen Religionsunterreicht zu besuchen (was ich nie tat). Auch sei ich nie gezwungen worden in die Kirche zu gehen. Es sei alles ausschließlich meine selbst entwickelte eigene Überzeugung.

Du hast nun von deiner Kindheit erzählt. Wie ging es in Deiner JUGEND weiter? Hast Du Scouts, JM, etc mitgemacht? Wie waren Deine Erfahrungen? Du warst ja auch der große Bruder. Hast du dich auch um das geistige Wohlergehen Deiner kleinen Geschwister mit gekümmert? Was gibt es in unserem Kontext hier erwähnenswertes aus Deiner Teenagerzeit? (Vor Mission)

Wie sich jeder nach meinen vorhergehenden Antworten denken kann war meine Kirchenwelt in jeder Hinsicht nur wunderschön! Ich konnte es kaum erwarten Diakon zu werden, nahm an sämtlichen Aktivitäten teil und freute mich vor allem auf die Aktivitäten auf Pfahlebene. Verstärkt wurde die Intensität meiner Erfahrungen durch meine beiden besten Freunde aus anderen Gemeinden des Pfahles Wien, mit denen wir drei zu unserer Zeit wohl so etwas wie eine intellektuelle Elite bildeten. Zumindest habe ich das Jahre später von etwas jüngeren Zeitgenossen so rückgemeldet bekommen. Wir waren 120% dabei, aber punktuell immer wieder mit einem individuell unterschiedlich ausgeprägten kritischen Geist, der zumindest für mich persönlich niemals auch nur einen Hauch an der tiefen Überzeugung der Kirche rütteln konnte. In unserer leichten Überheblichkeit und Selbstverliebtheit setzten wir uns damals über gewisse Konventionen hinweg, wenn auch nur in sehr sanfter Form. Ich war auch beim Seminarprogramm voll dabei, lernte alle Schriftstellen auswendig und übte eifrig für Schriftstellenjagden. Insgesamt fühlte ich mich als Teil einer Elite (Kirche) und war in jeder Hinsicht stolz ein Mitglied der Kirche zu sein, obwohl ich im Alltag (Schule) als Mitglied alleine auf weiter Flur war. Es war mir weder peinlich noch fühlte ich mich als Außenseiter, ich verkaufte meine Mitgliedschaft als ganz besonderes Asset. Am Ende der Schulzeit sprachen mir viele meiner Klassenkameraden ganz offen ihre Bewunderung für meine Standhaftigkeit (Wort der Weisheit, Keuschheit) aus.Ansonsten kann ich aus meiner Teenagerzeit wenig Aufregendes berichten, als Ältester war ich, bis auf einige vorsichtige gewagte Aktionen mit meinen o.e. Freunden total angepasst und ein total BRAVER BUA, wie wir in Österreich zu sagen pflegen, mit hormonbedingtem Herzklopfen bei jeder gemischtgeschlechtlichen Kirchenaktivität.Mich um das geistige Wohlergehen meiner Geschwister zu kümmern wäre mir nicht im Traum eingefallen. Meine Eltern hatten es sich schon vor meiner Geburt geschworen, das älteste Kind niemals verantwortlich für die jüngeren Geschwister zu machen, denn SIE (meine Eltern) setzten ja ein Kind nach dem anderen in die Welt, nicht ich! Das finde ich heute noch gut.

Wie fiel für Dich der Entschluss, auf Mission zu gehen? Wohin wurdest Du berufen? Was bedeutete Dir die bevorstehende Mission als Jugendlicher?

Seit ich begriffen habe, was Mission ist, war für mich klar, dass ich auf Mission gehe. Wie erwähnt war das wiederhergestellte Evangelium fast ununterbrochen Thema in der Interaktion mit meinem Vater – bei Naturaktivitäten, Unterhaltungen, Geschichten, Spielen,… Somit war, beginnend mit dem Lied „Ich möchte einmal auf Mission gehen“, den Erzählungen meines Vaters von seiner Baumission bis hin zu den häufigen Einladungen der Missionare (Sonntags zum Essen, jedes Jahr zu Weihnachten), für mich immer klar, dass ich auch auf Mission gehen möchte!Ich wurde in die England London Süd Mission berufen und freute mich einfach sehr auf die Erfahrung mich ausschließlich der wichtigsten Sache der Welt widmen zu können.

Erzähl doch mal ein bisschen von Deinem MTC – Aufenthalt und Deiner Mission. An was erinnerst Du Dich?

Es mag unglaubwürdig klingen, aber sowohl mein MTC-Aufenthalt in dem wunderschönen Backsteinbau neben dem London Tempel umgeben von den gepflegten Englischen Gärten, wie auch meine Mission, triggern ausschließlich positive Gefühle in mir, abgesehen von meiner Naivität in Bezug auf diverse Kirchenthemen. Vielleicht liegt es an der Fähigkeit immer nur das Gute zu sehen 😊 meiner rosa Brille), in welcher Kunst ich intensiv durch das Vorbild meiner Eltern sozialisiert wurde?Die wohl schönste Erfahrung, die mich für immer begleiten wird, war die Erfahrung zu spüren, dass ich alle Menschen lieben kann. Ich stellte mir jeden Einzelnen vor, mit all seinen Ängsten, Sehnsüchten, Verletzlichkeiten und Träumen und spürte, wie mich das berührte.Entsprechend mutig ging ich auf die Menschen zu und ich wollte auch keine Zeit verlieren so viele Menschen wie möglich mit dem wahrsten Evangelium der Welt bekannt zu machen. Dies brachte mir den Ruf ein, einer der am härtesten arbeitenden Missionare in unserer Mission (ca. 250 Missionare) zu sein. Entsprechend schnell wurde ich Distriktleiter, Zonenleiter und schließlich AP. Ich hatte die Fähigkeit bei der Erreichung von zahlenmäßigen Zielen gut zu mir selbst zu sein. Das funktionierte auf Mission ganz gut, erwies sich meinem Empfinden nach aber dann im Arbeitsleben ein wenig als Bumerang, denn das Abkürzen und Hinbiegen funktioniert im (echten) Leben nicht so recht.Ich hatte Freude daran mit dem faulsten Missionar unserer Mission zusammengespannt zu werden – ich war gerade Zonenleiter – und wir erlangten gemeinsam die höchste Auszeichnung (the „Even-as-I-am-Award“ ☺). Das motivierte ihn mächtig und ließ ihn sehr stolz auf sich sein.Es gelang mir einmal 3 Tage vor Monatsende die letzte noch ausstehende Taufe (die 100ste) zur Erreichung des Missionszieles für ein Monat zu bewerkstelligen.Das Missionserlebnis, das mich in meiner Mission fast zur Legende werden ließ war die Taufe von 2 betagten und durchaus begüterten Männern, die sich ein Haus teilten. Nach ca. 2 oder 3 Lektionen nahm mich der engagiertere der Beiden zur Seite und erzählte mir, dass er, meiner damaligen Einschätzung nach, einem der 3 Nephiten in den Bergen Bayerns begegnet war. Dieser „alte, weise Mann“ habe ihm vorausgesagt, dass er sich einer Kirche anschließen werde und diese durch einen jungen Mann aus seinem Lieblingsland (tatsächlich Österreich) kennen lernen würde. Diese Geschichte wurde natürlich regelmäßig in unserer Mission erzählt. Sie verblüfft mich noch immer ziemlich, wenngleich ich durchaus meine Vermutungen habe, wie sie zustande kam. Dass die beiden Getauften wohl homosexuell gewesen waren, war mir damals übrigens nicht in den Sinn gekommen.Ansonsten waren da noch so klassische Erlebnisse, die wir als Segen des Herrn einstuften. Unser Missionspräsident erwartete auch von den APs, dass sie trotz viel Arbeit i. Missionsbüro und vielem Reisen jedes Monat zumindest eine Taufe hatten. Uns blieben immer nur wenige Stunden pro Monat um Menschen zu kontaktieren und wir hatten trotzdem jedes Monat einige Taufen (wohlgemerkt in einem Stadtteil Londons mit einem hohen Anteil an Afrikanern).Das für mich unangenehmste Erlebnis war wohl die Taufe eines offensichtlich alkoholisierten Afrikaners zugunsten eines guten Distriktergebnisses.Meine Frau (die Kritische!) und ich lasen mal einige der Briefe, die ich an meine Eltern geschrieben hatte und wir waren erstaunt, dass darin selten Evangeliumsgesülze sondern stattdessen eher differenzierte Beobachtungen von Menschen enthalten waren. Ein kleiner von vielen Hinweisen für mich, weshalb sich meine Haltung zur Kirche schließlich so stark verändert hat.

Auf Mission werden ja die meisten Missionare direkt dazu angehalten, möglichst schnell nach Der Rückkehr zu heiraten und Familie zu gründen. War das bei Dir auch so?Du hattest vorher schon erzählt, dass Du bei Aktivitäten mit Mädels in der Kirche ein wenig schüchtern warst. Konntest Du die Schüchternheit dann ablegen? Wie gestaltete sich die Partnersuche im HLT-Universum für Dich?Die Frage ist natürlich auch vor dem Hintergrund relevant, da wir ja schon wissen, dass Du Dich am Ende für Astrid entschieden hast, die Nichtmitglied war.

Wie sollte es anders sein, erinnere ich mich auch kaum an Dinge, die ich als unangenehm empfand in der Kirche. Ich bin überzeugt, dass das Heiraten am Ende der Mission Thema war, aber ich hätte es als übergriffig empfunden, wenn mir jemand diesen Auftrag erteilt hätte und daher habe ich es vermutlich gleich wieder vergessen. Wohl durch dieselbe Erinnerungsbrille gesehen, hatte ich tatsächlich einen sehr netten Missionspräsidenten, „obwohl“ er Militärpilot in der Airforce gewesen war – liebevoll und verständnisvoll. Ich wurde mal als AP von einem Missionar angerufen, der erzählte dass sein Mitarbeiter rauchte. Mein MP schickte ihn NICHT nach Hause!Ich war am Ende meiner Mission total froh heimzugehen – ich hatte wirklich ALLES gegeben und wollte mich wieder dem normalen Leben hingeben – der Diavortrag unmittelbar nach meiner Ankunft zu Hause wurde zu einer ziemlich absurden und sehr lustigen Veranstaltung, ganz ohne das bereits oben erwähnte Evangeliumsgesülze – ich war wieder voll daheim!Eines kann ich sagen, meine Schüchternheit hatte ich nach der Mission vollends abgelegt, denn zwischen August 1990 und März 1992 (18 Monate) hatte ich ca. 15 „Freundinnen“. Meine beiden engsten Freunde scherzten immer, ich sei das Covermodel für die fiktive RM (returned missionary)-Zeitschrift „Der Schwiegersohn“. Es kam tatsächlich vor, dass Eltern mich zu sich nach Hause einluden, damit ich in Kontakt mit ihrer Tochter käme. Das dürfte der „Schmidl-Clan“-Bonus in Österreich gewesen sein, und meine o.e. „Bravheit“.Grund für die vielen Freundinnen war keineswegs die Idee möglichst schnell zu heiraten, sondern einfach die Freude am Verlieben. Nach einiger Zeit machte ich mir dann ernsthaft Sorgen, weil ich befürchtete mich nicht dauerhaft in eine Frau verlieben zu können (zumindest nicht in MitgliederInnen der Kirche).Aber dann traf ich Astrid an der Uni Wien! Am ersten Tag blödelten wir während einer Vorlesung, am 3. Tag wachten wir beide mit Schmetterlingen im Bauch auf und verliebten uns heftig. Mit Astrids Erlaubnis darf ich teilen, dass sie am Tag vor unserer Begegnung als quasi-Agnostikerin etwas verloren in der Karlskirche in Wien so etwas wie ein Gebet, eine Frage, nach dem „wie-geht’s-weiter?“ gesprochen hatte. Am nächsten Tag begegneten wir uns 3x! Ist also die Katholische Agnostikerin die wahre Gläubige??Ziemlich zu Beginn erzählte ich ihr von meinem Glauben, von J.S., den goldenen Platten etc. – ihre Reaktion: „…die haben dir doch ins Hirn geschixxx…!“ Interessanterweise machten mir Astrids Entgegnungen, was die Kirche betraf überhaupt nichts aus. Im Nachhinein betrachtet denke ich es war so etwas wie eine unbewusste Delegation meinerseits an Astrid. Ich hatte nie in meine Leben so richtig gezweifelt oder rebelliert. All das übernahm nun Astrid. In den fast 2,5 Jahren vor unserer Hochzeit stritten wir oft heftig und sehr laut über die Kirche. Astrid ging aber immer öfter mit zur Kirche, weil sie die Leute gerne mochte. Interessanterweise fiel es mir leicht auf Astrid absolut keinen Druck bezüglich Kirchenbesuch auszuüben. Unter Umständen deshalb, weil ich immer gesagt hatte, dass ich mich als Nichtmitglied niemals dieser Kirche angeschlossen hätte. Meine Eltern verhielten sich Astrid gegenüber großartig und schlossen sie sofort ins Herz. Mein Vater fragte mich von Zeit zu Zeit ob ich denn „eh“ vor hätte im Tempel zu heiraten? Ich bejahte dies natürlich. Nachdem wir etwas mehr als 1 Jahr „zusammen“ waren, fragte mich der Pfahlpräsident (jung gebliebener und unkonventioneller Typ), weshalb wir nicht heirateten. Ich entgegnete, dass ich warten wolle, bis sich Astrid der Kirche anschließt, damit wir dann im Tempel heiraten können. Er meinte darauf: „Frag lieber den Herrn.“ Daraufhin setzte ich mir das Ziel in einem Jahr wissen zu wollen, ob ich Astrid heiraten soll. In diesem Jahr betete ich täglich um eine Antwort. Ich plante am Ende dieses 1-Jahreszeitraums eine Fahrt (mit meinen Eltern!) zum Tempel, während Astrid darauf wartete, was das „Orakel“ ausspuckt! (Für Astrid eine Zumutung!) Ich muss dazu sagen, dass Astrid schon wenige Tage nach Beginn unserer Beziehung spürte, dass ich der Mann war, den sie heiraten würde. Soviel zum Thema spirituelle Feinfühligkeit im Kirchenkontext – ich, der ein Leben lang im Heiligen Geist spüren geschult worden war, brauchte fast 2,5 Jahre! Die „Antwort“, die ich dann erhielt war so intensiv, so überwältigend und eindeutig positiv. Nichts auf dieser Welt war so klar, wie die Tatsache, dass ich Astrid heiraten sollte. Es war für mich die einzige und klarste spirituelle Erfahrung die ich je hatte. Klarerweise war ich zu Beginn unserer Beziehung überzeugt, dass Astrid durch mich die einzig wahre Kirche kennen lernen sollte. Und doch war es unglaublich, dass ein Schmidl ein Nichtmitglied geheiratet hatte!

Du hast berichtet: Ihr habt Auseinandersetzungen in Bezug auf das Evangelium während der Kennenlernzeit gehabt. Falls es ok zu fragen ist und dem Verständnis dient: Was waren dabei die Kernpunkte?

Astrid fand es z.B. bezeichnend, dass die goldenen Platten nicht mehr vorhanden sind, dass im Buch Mormon keine der typischen Mormonenlehren enthalten sind (Tempel, Wort der Weisheit, ewige Familie,…); sie fand es schockierend, dass wir ca. 7-8x/Tag beteten. Immer wieder forderte sie mich mit der Frage heraus, was denn die Profeten schon Großartiges prophezeit hätten usw.Astrid ging meist wegen der netten Menschen mit zur Kirche, fand aber über Jahre keinen Zugang zur Kirche. Sie hat viele Missionare „verschlissen“ (u.a. Dich, Guido ☺). Als unser Sohn 2 Jahre alt war (wir 12 Jahre verheiratet), ließ Astrid sich 2006, für mich völlig überraschend, unter Ausschluss der Öffentlichkeit taufen. Sie wollte einfach versuchen, ob sie der Sache näher kommen könnte, wenn sie das ganze von Innen betrachtet. Doch trotz aktiver Mitarbeit in der Kirche (Berufungen) und vieler Jahre Kirchenbesuches konnte Astrid nie das empfinden, wovon alle Mitglieder ständig redeten. Im Gegenteil sie war immer wieder schockiert über die Dinge die gesagt wurden und fühlte sich überfordert von den Dingen die sie fühlen sollte.Ich hingegen war immer die Dampflok, die die Familie durch die Regelmäßigkeiten des Mormonenlebens (Familienabend, Gebet, Schriftstudium, Kirchenbesuch,…) zog.

Es ist dann glaube ich an der Zeit, auch mal die unvermeidbare Frage zu stellen:Bisher war ja für dich das meiste super in der Kirche. Wie um alles in der Welt konnte es passieren, dass Du dich doch davon abgewendet hast?

Mein großes Anliegen war es,…1. …unabhängig von den Zurufen Anderer oder Interessen von außen für mich persönlich Klarheit zu bekommen, zu spüren ob dies für mich die Wahrheit ist.2. …dies ausschließlich mit geistigen Mitteln zu tun.3. …offen zu sein für jede Antwort; mein Wunsch war es mein geistiges Fundament zu stärken, aber ich war bereit sowohl ein JA wie auch ein NEIN zu akzeptieren (wie ein Untersucher, der für sich entscheidet, ob dies der richtige Weg für ihn ist)Ich las und studierte, betete und fastete – ging oftmals fastend zur Kirche, schlug mein Tagebuch auf und schrieb meine Gefühle nieder, achtete genau auf meine Empfindungen während der Versammlungen und Klassen. Niemand wusste von meiner Auseinandersetzung. Es war ausschließlich meine persönliche Sache. Und es passierte über Monate und schließlich Jahre….genau gar nichts – nichts!Ich erinnere mich als ich in der Köstlichen Perle die Joseph Smith Lebensgeschichte las. Als er beschreibt wie sich in ihm die Frage nach der wahren Kirche formte hatte ich so etwas wie eine Eingebung die mir sagte: „das ist nicht die richtige Frage!“Während ich so einen Blick auf das warf, was um mich herum in der Kirche geschah entstand in mir immer deutlicher der Eindruck, dass es sich um ein geschlossenes System handelte, in welchem es vor allem darum geht, dass alle dabei bleiben. Dies wurde besonders deutlich, als eine Schwester der Kirchen-JD-Präsidentschaft sagte, wie wichtig es ist, dass alle Jugendlichen für sich persönlich herausfinden…..und ich dachte in dem Moment, OB es wahr ist…sie sagte aber, DASS es wahr ist!
Das klang nicht nach Entscheidungsfreiheit für mich! Die Beiträge im Liahona und Ansprachen der Generalkonferenz verstärkten diesen Eindruck massiv. Nach ca. 3-4 Monaten wurde mir klar, dass meine Suche in eine völlig unerwartete Richtung ging. Sie führte mich eher auf Distanz zur Kirche. Ich sprach daraufhin mit meinem Bischof, der fragte, ob ich meine Aufgabe als erster Ratgeber noch erfüllen könne, was ich damals bejahte.Im Februar 2015 hielt ich dann meine letzte Ansprache bei deren Vorbereitung mir die Vielfalt der Wege bzw. Wahrheiten (im Gegensatz zu der einzig wahren Kirche) so richtig klar wurde. Für verschiedene Menschen sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Dinge richtig und wahr! Diese Erkenntnis berührte und beflügelte mich.
Mir war klar, dass der Anspruch der Kirche für mich nicht stimmte.Erst kurz nach dieser Ansprache, also ca. 6 Monaten nach Beginn meiner Suche nach Wahrheit, sprach ich zum ersten Mal über meine Erfahrung und meine Gefühle mit Astrid. Sie konnte es absolut nicht fassen und hatte die ganze Zeit über nichts mitbekommen. Für sie war es natürlich eine positive Nachricht.Während dieses ersten Jahres wurde mir immer klarer, dass der Glaube an die Kirche nicht mein eigener war und einer Überprüfung nicht standhielt. Durch diese akribische Selbstüberprüfung wurde mir immer klarer, dass die Kirche für mich nicht das ist, wofür ich sie gehalten hatte. Ich fand heraus, dass die Kirche an die ich geglaubt hatte, nicht existiert!

Erst als mir diese Einsicht auf geistigem Weg klar geworden war, begann ich mich mit der Geschichte der Kirche zu befassen und erlebte tausendfache Bestätigungen für meine Erkenntnis. Und ich begann Mormon Stories zu hören und war überwältigt und berührt von Geschichten die mich an meine eigene erinnerten. Und ich brauchte diese Unterstützung, denn die Selbst-Infragestellung war gewaltig. Angeblich kann ein Mensch pro Tag ca. 40.000 Gedanken denken – zu Beginn muss ich mich und meine Empfindungen und Erkenntnisse etwa 30.000 mal pro Tag in Frage gestellt haben, was ich auf meine „Programmierung“ zurückführe. Von meiner TBM-Umgebung wurde dies natürlich ganz anders interpretiert. Für mich einer der eindruckvollsten Hinweise auf das Merkmal eines Kults: er lässt seine Mitglieder nicht gehen ohne ihnen die Würde zu nehmen („mit DIR ist etwas nicht in Ordnung“).In den darauffolgenden Jahren fand ich noch viele Hinweise, weshalb diese intensive Auseinandersetzung mit der Kirche für mich unausweichlich war:

– Die laufende, gut gemeinte, aber massive Beeinflussung durch meine Eltern während meines gesamten Lebens. Wie sie mir meine Gefühle suggerierten und selektiv ausschließlich das Positive in der Kirche in den Vordergrund rückten; und mir den Eindruck gaben, es wäre alles „Meines“.

– Ich hatte nie ein eigenes Zeugnis erhalten. Am ehesten fühlte ich mich meist so, wie Elder Renlund es vor kurzem ausdrückte, weil er auf seine Gebete als Kind keine deutlich fühlbare Antwort erhielt: „…ich weiß es ja eigentlich ohnehin schon…“, oder „es ist einfach für mich fast unmerklich gewachsen und zur Gewissheit geworden.“

– Als ich meine Frau, ein Nichtmitglied kennen und lieben lernte, störte mich weder ihre harsche Kritik an der Kirche noch ihre „Nichtmitgliedschaft“, als ob ich unbewusst all meine Bedenken an sie delegiert hatte und mich so nicht selbst damit auseinandersetzen musste.

– Das intensivste und deutlichste geistige Erlebnis, dass ich je hatte folgte auf die Frage, ob ich meine Frau Astrid heiraten sollte. Es war, als wäre ich mit einer Weisheit in Kontakt gekommen, die ich in dieser Intensität noch nie wahrgenommen hatte, und sie betraf einen Menschen, der kein Mitglied er Kirche war!

– Mit der Zeit wurde mir als Mitglied klar, dass die Tempelehe für eine andauernde Beziehung zwischen Astrid und mir nicht notwendig ist

– Bevor wir (vor etwa 10 Jahren) in die Nähe meiner Eltern zogen spürte ich das Bedürfnis, NICHT in der gleichen Gemeinde mit meinen Eltern zu sein; so als ob ich innerlich spürte, dass ich meinen eigenen Raum brauchen würde, oder ihnen den Schmerz der Trennung von der Kirche ersparen wollte; es löste auch großes Unbehagen in mir aus von ihnen in meiner Rolle als Mitglied der Bischofschaft angesprochen zu werden.

– Ich hatte rund um diese Zeit ein starkes Bedürfnis mich mit anderen Religionen etwas intensiver zu befassen· Kurz davor erlitt ich einen doppelten Bandscheibenvorfall. Als die Physiotherapeutin meine unausgeprägten Wirbelsäulenmuskeln ansprach musste ich im Nachhinein an das wortwörtliche „mangelnde Rückrat“ als Allegorie zu meiner fehlenden eigenen Überzeugung denken.

– Mit fiel auf, wie lose stets meine Beziehung zum Buch Mormon gewesen war – es fiel mir immer wieder schwer geistige Nahrung daraus zu ziehen

– Schon Jahre zuvor hatte ich immer wieder versucht zu verstehen, weshalb im Buch Mormon, aber auch von Jesus immer wieder von den Schlechten, den bösen Menschen die Rede war. Ich kannte solche bösen Menschen nicht! Nicht einmal in meiner Arbeit als Psychotherapeut und Klinischer Psychologe mit Suchtkranken, und z.T. Gefängnisinsassen hatte ich je einen bösen oder schlechten Menschen kennen gelernt!· Ebenso stelle ich das Konzept der Sünde in Frage. Meiner Erfahrung nach hatten die Menschen IMMER GUTE GRÜNDE für Dinge, die sie getan hatten!

– Präs. Uchtdorf hatte in einer Generalkonferenzansprache die Mitglieder aufgefordert sich die Frage zu stellen, ob das Evangelium ihnen tatsächlich Freude bringt, ob das Verhältnis von Input und Output stimmt?

– Meine Frau Astrid war mehr als 20 Jahre regelmäßig zur Kirche gegangen, doch konnte sie nie jene Zufriedenheit, Freude oder Klarheit finden, die ihr versprochen worden war, worauf man immer ihr die Schuld dafür gab (du musst mehr beten, fasten, Schriften lesen!) – 20 Jahre war ihr die Schuld gegeben worden!!

– Nach den Sonntagsversammlungen fühlte sich meine Frau immer ausgelaugt und kraftlos!· Auch mein Sohn ging gar nicht gerne zur Kirche

– Meine Rigidität beim Beten und täglichen Schriftenlesen war für meine Familie sehr anstrengend geworden und war schließlich einer der Auslöser für eine schwere Ehekrise

– Die sonntäglichen Gespräche beim Mittagstisch bei meinen Eltern mit Geschwistern waren über Jahre hinweg unbefriedigend gewesen, weil es nicht möglich war sich über längere Zeit hinweg kontrovers über Kirchenthemen zu unterhalten. Oft wurden nach kurzer Zeit (vor allem von meinem Vater) die Diskussion unter dem Hinweis auf die Unfehlbarkeit der Kirche beendet.

– Wie konnte eine Kirche, deren Mitglieder nur einen Bruchteil der Menschheit ausmachen das Reich Gottes auf Erden konstituieren? Auch wenn man das Erlösungswerk für Verstorbene dazu nimmt, die Prinzipien des wiederhergestellten Evangeliums sollten ja den jetzt Lebenden zugute kommen und unter den Lebenden von Nutzen sein! Weshalb würd ein liebender Gott ca. 99,9% der Menschheit die wunderbaren Lehren vorenthalten?

– 2012 erfasste mich eine große Sehnsucht mit Freunden offen über das Leben zu diskutieren; ich war voller Ungeduld und Übereifer akribisch bemüht keine Sekunde der wertvollen Zeit ungenutzt zu lassen um unsere Themen zu diskutieren; diese Ungeduld wich erst, als ich Klarheit in Bezug auf die Bedeutung der Kirche gefunden hatte. So kam ich schließlich zu der Erkenntnis, dass Joseph Smith und das Buch Mormon für mich keine spirituelle Relevanz haben, und, dass das, was ich ein Leben lang für die göttliche Bestätigung meines religiös-spirituellen Weges verstanden hatte, sich als nicht-replizierbares Familien-Wohlgefühl herausstellte.

Daniel, diese Aussage von Dir hatte mich schon auf unserem gemeinsamen Wochenende bei uns am Bodensee nachhaltig beschäftigt. Nun hast Du sie dankbarerweise nochmal wiederholt:+++Schon Jahre zuvor hatte ich immer wieder versucht zu verstehen, weshalb im Buch Mormon, aber auch von Jesus immer wieder von den Schlechten, den bösen Menschen die Rede war. Ich kannte solche bösen Menschen nicht! Nicht einmal in meiner Arbeit als Psychotherapeut und Klinischer Psychologe mit Suchtkranken, und z.T. Gefängnisinsassen hatte ich je einen bösen oder schlechten Menschen kennen gelernt!+++Kannst Du vielleicht ein, zwei Beispiele geben, wie Du selbst bei Gefängnisinsassen, die dann ja sicher schlimme Straftaten begangen haben, darauf kommst, dass diese keine „bösen Menschen“ seien?Und dann noch die Anschluss-Frage:Ein christlich strenggläubiger Mensch würde Dir vielleicht antworten: „Das ist schädlicher Relativismus. Dann ist ja egal, wie man sich verhält. Wenn ich dann vor Gott und den Menschen trotzdem als ‚gute Seele‘ davonkommen kann.“Was würdest Du darauf antworten?

Daniel, nicht einmal in deiner Arbeit als Psychotherapeut und Klinischer Psychologe mit Suchtkranken, und z.T. Gefängnisinsassen hast Du nach eigener Aussage je einen bösen oder schlechten Menschen kennen gelernt! Kannst Du vielleicht ein, zwei Beispiele geben, wie Du selbst bei Gefängnisinsassen, die dann ja sicher schlimme Straftaten begangen haben, darauf kommst, dass diese keine „bösen Menschen“ seien?
Ein christlich strenggläubiger Mensch würde dazu sagen: „Das ist schädlicher Relativismus. Dann ist ja egal, wie man sich verhält. Wenn ich dann vor Gott und den Menschen trotzdem als ‚gute Seele‘ davonkommen kann.“ Was würdest Du darauf antworten?

Zwei meiner Klienten war wegen schwerer Körperverletzung, Raub und Drogenhandel infhaftiert, ein anderer hatte jemanden mit Benzin übergossen und angezündet, um hier 3 Beispiele zu nennen. Ich hatte das Privileg Einblick in die Seelen dieser Menschen zu bekommen und kann sagen, dass sie alle nach dem Guten streben (Liebe, Familie, Frieden, Sicherheit, Hilfsbereitschaft). Ihr Inneres hat mich oft zu Tränen gerührt.Aufgrund von- oft für andere nicht sichtbare schwierige Erfahrungen (Missachtung oder Missbrauch durch Angehörige, Mangel an Anerkennung und Liebe, schwierige finanzielle Lage, Mobbing etc.),- übernommener Überzeugungen (ich bin nichts wert, es ist eh alles egal,…)- und vieler vieler anderer Umstände und Einflussfaktoren (schlechter Selbstwert, schlechte Bindung, wahrgenommene Bedrohung, psychische Erkrankungen,…)kommt es jedoch zu Situationen, in denen es für den Betroffenen so aussieht, als ob die einzige Möglichkeit das GUTE (siehe oben) zu erreichen darin besteht die o.g. Taten zu begehen. Es ist eine Notsituation!Ich persönlich (das mögen viele anders sehen) habe nicht den Eindruck, dass jemand der Versuchung des Satans nachgegeben hat, sondern, dass es sich um eine durchaus nachvollziehbare Lebenskonstellation handelt, die zu dieser Tat geführt hat.Das sieht jetzt für viele vermutlich so aus, als ob alles determiniert wäre! Und ja zum Teil halte ich die Entscheidungsfreiheit in manchen Situationen für eine Illusion! Daraus ergibt sich jedoch die Chance, das eigene Verhalten, ev. mit Unterstützung, zu reflektieren und nach und nach zu erkennen, was an dem falschen Verhalten (=Fehler; ≠Sünde) beteiligt war. Man lernt sich somit immer besser kennen und stärkt das „SELBST“-Bewusstsein (sich seiner selbst bewusst werden: Bedürfnisse, Sehnsüchte, Grenzen,…; und den Selbstwert stärken) um in Zukunft nicht nur das konkrete Verhalten zu meiden, sondern sich schon im Vorfeld bewusst zu werden, wie man alternativ und bewusst besser für sich sorgt um dann nicht in die Not zu geraten.Aufgrund meiner Erfahrungen bin ich, wie auch der Dalei Lama in seinem Buch schrieb, der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Ich glaube auch, dass Menschen durch negative Konsequenzen ihres Handelns oder Hinweise aus der Umgebung oder ganz einfach spüren, dass etwas ein Fehler war. Dieses natürliche innere Streben nach Mitgefühl, Dienst am Mitmenschen, Respekt, Liebe etc. ist oft von Konzepten, Überzeugungen, Erfahrungen etc. überlagert, wie aus der folgenden Geschichte hervorgeht: Ein Dorf hatte eine schöne Buddha-Statue aus reinem Gold. Als die Feinde im Anzug waren wurde die Statue mit Lehm beschmiert, sodass sie unansehnlich aussah. Tatsächlich erkannten die Feinde den Wert der Statue nicht und nahmen sie nicht mit. Aber die Statue geriet in Vergessenheit. Erst viele Jahre später, als wieder Menschen in dem Dorf wohnten, staubte jemand die „Lehmstatue“ ab als ein Stück Lehm herausbrach und das Gold (Allegorie für unser Innerstes) sichtbar wurde.„Wenn es keinen Gott gibt“, schrieb Dostojewskij, „dann ist alles erlaubt.“ Dieser Haltung bin ich unter gläubigen Menschen oft begegnet, doch ich halte sie für die Folge des mangelnden Zugang zu ihrem wahren Inneren; der oberflächlichen Vermutung, dass wir nur unseren ersten Impulsen folgen würden (stehlen, Freunde verraten, promiskuitiv sein, ungesund essen,…).Aber auch die Moral, die Aufklärung und die Menschlichkeit stützen moralisches Handeln. Kant sagt, dass „die Moral autonom ist, oder sie ist nicht. Wenn einer sich das Morden nur aus Furcht vor einer göttlichen Strafe versagt, ist sein Verhalten moralisch wertlos.“Es gibt also auch viele andere Gründe um Gutes zu tun und zu erkennen, dass Fehlhandlungen ein „zu-sich-kommen“ erfordern um es zu korrigieren.Wie gesagt, ich bin überzeugt, dass es unterschiedliche Wege gibt um ein moralisch gutes Leben zu führen und möchte hier nicht vermitteln, dies wäre die einzig wahre Ansicht – sie hat sich nur für mich persönlich als besonders hilfreich und wirksam erwiesen.

Hast Du heute noch eine Beziehung zu Gott, die Du plflegst und wie machst Du das?

Nachdem ich keinerlei Erfahrungen gemacht habe, die in irgendeiner Form auf Gott oder Jesus hinweisen würden kam ich zu einer Haltung des Nicht-Wissens (für mich ein faszinierende Haltung u.a. im Buddhismus – auch als Psychotherapeut ist das sehr hilfreich). Das war für mich ein riesiger Paradigmenwechsel und setzt sich aus tausenden kleinen Erfahrungen zusammen. Dazu kam die intensive spirituelle und später auch geschichtlich-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den mormonischen Heiligen Schriften. Köstliche Perle, Buch Mormon und zT. Lehre und Bündnisse repräsentieren die zeitgnössische Theologie von Joseph Smith (Campbell, Methodisten etc.). Die JSÜ ist z. Großteil ein Plagiat eines Bibelkommentarwerks, welches JS zugänglich war (siehe BYU-Studie). Das AT und NT sind höchst umstritten (siehe Ehrman, Bokovoy, Sponge,…) und geschichtlich aus meiner Sicht nicht haltbar was die Historizität anlangt…
Das Konzept der Sünde eingebettet in eine Polarität (richtig/falsch, rechtschaffen/sündig, etc.) halte ich weder für wahr noch sinnvoll – somit die Frage wozu ein Erlöser? All das und vieles mehr brachte mich zu dem Schluss, dass alles der Sehnsucht der Menschen entspricht (siehe Harari oder „religion as natural phenomenon“,…) Antworten auf die existentiellen Fragen des Lebens zu finden – und wenn diese Ängst/Fragen bedient werden spürt man das was man elevation emotion nennt (siehe die ähnlichen Rührungen und tränenreiche Zeugnisse zu den verschiedensten Überzeugungen) – oder auch confirmation bias. Ich denke dass die Religionen durch die transportierten Inhalte die oft dichotom (richtig/falsch) sind, leider oft spalten. Ich lerne gerade wunderbare Konzepte kennen die ohne all das auskommen (seeing reality as it ist, der Mensch ist von Natur aus gut, wir sind alle verbunden, wir brauchen unseren wert (illusorisches ego) nicht zu verteidigen, da wir OK sind, compassion, liebevoller Umgang mit sich selbst und allen menschen etc.) – muss leider aufhören, weil wir fahren müssen – mal ein erster Anlauf das ein wenig zu erklären, wie es mir heute geht.

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Folkhard
Folkhard
3 Jahre her

Lieber Daniel, schön, dass Du bei dem Interview mitmachst. Ich finde es spannend. Du berichtest von Engagement Deiner Eltern in Kiche. Ähnliches habe ich erlebt. Mein Vater, als ewiger Bischof hat mit Sicherheit viele Leben berührt. Als er gestorben ist, haben viele Mitglieder meiner Mutter gesagt, was er so alles für sie getan hat. Ihre Antwort gibt mir bis heute zu denken. Sie sagte mir:“ Schön, ich habe aber nicht viel von ihm gehabt.“ Da ich sehr früh von Zuhause weg bin, habe ihn diese Stimmungen nicht mitbekommen. Muss mal meine Geschwister fragen.

Chantal
Chantal
3 Jahre her

Daniel, ich kann sehr gut nachvollziehen was du berichtest. 2015 war auch mein Jahr der Erkenntnis und meine Entscheidung hat mir und meinen Mann eine neue Lebensqualität ermöglicht. Ich kann auch gut verstehen, das du lange nicht hinterfragt hast, weil du aus einer tollen Familie kommst. Schön das du und Astrid eine neue Lebensqualität haben schätzte ich mal.

Udo K.
Udo K.
3 Jahre her

Ich hab jetzt alle drei Podcast mit dir Daniel angehört und möchte dir Daniel sagen, ich bin Stolz, Stolz im positivstem Sinne auf dich. Ich denke von mir sagen zu können, dass ich die Härten und Herausforderungen die deine Entscheidung deinen Lebensweg ohne die Institutionen Kirche HLT und die Gemeinschaft innerhalb der Kirche zu gehen gut kenne, und eine daraus resultierende Leere die durch den Verlust der Gemeinschaft und von Vertrautem entsteht. Ich sehe und spüre bei dir, dass jene leeren, die auch dich kurzfristig einholten, du gefüllt hast mit vielen positiven Handlungen und Gedanken, alternativen Zugängen und mit einer Fülle von gut überlegten und mit dir im Einklang stehenden Handlungen des Tuns. Du hast dich großartig entwickelt. Und es ist großartig wie du trotz unterschiedlicher Auffassung und unterschiedlichen Zugängen über deine Familie und deine geprägte Vergangenheit sprichst und Toleranz wie Akzeptanz lebst. Danke für diese drei Podcast. Danke für die Einfachheit deiner Worte und der Wortwahl. Auch danke dafür, dass du darüber gesprochen hast, dass vieles für dich nicht mehr stimmig war und dein Zweifeln nicht ausschließlich mit der Kirchengeschichte zu tun hatte, sondern mit der Inkongruenz der kirchlichen Lehren/Dogmen und dem praktischen Erfahrungen des Lebens. Für mich beeindrucken, deine persönliche Entwicklung. Für mich auch beeindruckend, dass du trotz Eindrücke aus deiner engeren Verwandtschaft, die die Kirche schon früher verlassen haben, du deinen eigenen Weg gegangen bist und mit eigenen Eindrücken. Es tut auch mir gut, nach du vielen Jahren über den Weg des Podcast von dir wieder gehört… Weiterlesen »

M. H.
M. H.
3 Jahre her

Vielen Dank lieber Daniel für den Einblick. Ich kann Dir gedanklich gut folgen und hätte noch gut und gerne weitergelesen.
Mir gefällt der Gedanke, dass der Mensch von Natur aus gut ist und nicht per se ein „Feind Gottes“, der sich sein Gutsein schwer erarbeiten muss. Das ist der Grund für viel Depression, Trauer und fehlender natürlich verdienter Lebensfreude.
comment image  LG nach OÖ!

Anonym
Anonym
3 Jahre her

Sehr ehrlich !