Ein Beitrag von Siegfried Herrmann
Wenn ich heute über meine Mitgliedschaft bei den Mormonen nachdenke, erfüllt mich dies mit Unverständnis und Betroffenheit. Ich frage mich, wie ich diese Organisation über so lange Zeit zum Mittelpunkt meines Lebens machen konnte. Heute, nachdem ich im Zug
meiner Nachforschungen dutzende von Büchern und tausende von Seiten gelesen und auch die unerfreulichen Aspekte dort erlebt habe, halte ich diese Organisation nicht nur für unehrlich und unchristlich, sondern für durchweg korrupt und betrügerisch. Ich bereue, dass ich so viel Zeit und Energie in diese Organisation gesteckt habe. Und ja, es reut mich auch das viele Geld, das ich gespendet habe. Erklären kann ich mir das nur mit einer gewissen Blindheit, die dort verordnet wird und die man sich in gewissem Maß auch selbst verordnet. Wer in so einem System aufwächst und erzogen wird, hat es besonders schwer, sich von dieser Blindheit frei zu machen. Alle Sekten machen abhängig, sie wollen und müssen dies um ihre Ziele zu erreichen, auch wenn sie, wie die Mormonenkirche, verbal die Entscheidungsfreiheit propagieren. Sie arbeiten über unser Unterbewusstsein: Schuld und Angst sind ihre wichtigsten Mittel um Gehorsam und Abhängigkeit zu erreichen. Eine Programmierung, von der sich ein Mitglied mit zunehmender Dauer immer schwerer lösen kann.
Sektenzugehörigkeit ist aber auch eigenes Verschulden. Keiner ist gegen seinen Willen dort. Das menschliche Bedürfnis nach Orientierung, Sinn und Geborgenheit wird von Sekten hemmungslos missbraucht. Sie haben scheinbar die Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens und durchaus auch einige attraktive Aspekte und Erklärungen. In Wirklichkeit aber ist dieser seelische Komfort teuer erkauft – mit Abhängigkeit, Ausbeutung und auf lange Sicht mit Entfremdung vom eigenen Selbst. Als ich nach Jahren des Ringens meinen Austritt aus der Mormonenkirche erklärte, war mein erster Eindruck: „Freiheit“. Ich fühlte mich frei von den zahllosen Lasten, die mir die neuzeitlichen Propheten und deren Vertreter aufgebürdet hatten. Das Gefühl, trotz aller Bemühungen nicht gut genug gewesen zu sein, hatte auch ich oft. Davon nun frei zu sein, war ein wundervolles Gefühl. Nicht dass ich jetzt tun konnte oder wollte, was mir gefiel oder dass alle moralische Verpflichtung gewichen wäre, wie die Mormonen das so gerne behaupten. Ganz im Gegenteil, die Verantwortung war jetzt größer – aber nun war ich allein mir selbst und Gott gegenüber verantwortlich für mein Handeln und nicht irgendwelchen Vertretern einer selbsternannten göttlichen Instanz. Es war ein Gefühl tiefen inneren Friedens und großer Genugtuung. Irrtum ist die schlimmste Sklaverei – und Freiheit in ihrem tiefsten Sinn ist diejenige von falschen Ideen.
Kurz nach meinem Austritt wurde ich gefragt, ob ich meine Entscheidung nicht bereue. Nein, das tue ich nicht und habe es nie getan – ganz und gar nicht. Wenn ich heute über die Entscheidung, die Mormonenkirche zu verlassen nachdenke, reut mich dieser Entschluss in keiner Weise – im Gegenteil. Ich denke, dass dies für meine persönliche Entwicklung ein sehr wichtiger Schritt war. Ich empfinde Zufriedenheit darüber, so entschieden zu haben, auch und gerade weil sie mehrere Jahre bis zur letztendlichen Reife benötigt hat und mit Sicherheit alles andere als leicht war. Natürlich waren nicht alle Erfahrungen bei den Mormonen nutzlos oder schlecht. Das würde dieser Gemeinschaft nicht gerecht. Vieles dort ist gut und nützt vielen Menschen. Für viele Mitglieder ist vor allen Dingen die soziale Funktion der Gemeinschaft von großer Bedeutung. Und die zahllosen aufrichtigen, ehrlichen und guten Menschen dort habe ich vermisst. Dennoch muss ein System immer als Ganzes gesehen und beurteilt werden. Schließlich haben alle diktatorischen Systeme auch gute Seiten. Aber eine Organisation, die praktisch vollständig auf Lügen aufgebaut ist, Menschen finanziell und emotional ausnutzt, einen Großteil ihrer Freizeit in Anspruch nimmt, Macht über sie ausübt sie bis in die intimsten Bereiche ihres Leben, abhängig macht, bedingungslosen Gehorsam sowie jedes Opfer erwartet, kann auf keinen Fall als gut bezeichnet werden. Ich schreibe meine Erfahrungen und Erkenntnisse hier, nicht nur um vielleicht den ein oder anderen Mormonen damit zum Nachdenken zu bewegen, sondern auch um Ahnungslose zu warnen. Denn diese waren seit jeher die vorrangigen Opfer dieser und anderer Sekten.
Umbruch und unsichere Lebenssituationen sind der beste Missionar
Soweit mir bekannt ist, wusste in meiner Familie niemand etwas Konkretes über Mormonen, bis zu jenem Freitag im März 1968, als zwei Missionare meinen Vater auf der Straße in Karlsruhe ansprachen. Mein Vater hatte kein wirkliches Interesse an Religion – auch später nie – gab den zwei jungen Männern aber aus irgendeinem Grund unsere Adresse. (Übrigens etwas, das ich nie verstand.) Soweit ich weiß, schlug er ihnen vor, mit meiner Mutter zu reden. Einige Tage später tauchten diese zwei „Geistlichen“ dann bei meiner Mutter auf. Ich war damals drei Jahre alt, mein Bruder acht. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt das ideale „Opfer“ für die Missionspraktiken mormonischer Missionare. Unsere Familie hatte erst wenige Wochen zuvor einen Autounfall, der uns einige Zeit ans Krankenbett fesselte und auch sonst war es eine Zeit des Wandels und der Unsicherheit. Sooft meine Mutter von dieser Zeit erzählte, meinte sie, dass sie das Gefühl hatte, im Leben unserer Familie müsse vieles anders werden. Für Sekten sind dies ideale Voraussetzungen, und zu den Regeln der Missionare zählt es, solche Leute zu suchen. Als die dann bei meiner Mutter auftauchten, hörte sie ihnen bereitwillig zu. Aus der bekannten Märchengeschichte, die sie erzählten schöpfte meine Mutter dann wohl die Hoffnung, dass dies der Wink Gottes sei, der in ihrem Leben die nötige Veränderung herbeiführen sollte. Wie sie später oft erzählte, erhielt sie ein Buch Mormon mit der Aufforderung 100 Seiten darin zu lesen. Was danach geschah? Wenige Tage später kamen die jungen Männer wieder und sie teilte ihnen mit, dass sie getauft werden wolle. Irgendetwas hatte ihr vermittelt, dass das der richtige Weg sei. Die menschliche Psyche kann vieles, wenn sie etwas sucht oder will. In aller Eile wurde dann auch schleunigst ein Taufgottesdienst aus dem Boden gestampft, und eine Woche nach ihrem ersten Kontakt mit den Missionaren war sie ein Mitglied. Belehrt, was sie zu glauben hatte, wurde sie nach der Taufe – schon erschreckend naiv. Sie war absolut begeistert und überzeugt von ihrer Entscheidung – auch all die Jahre bis zu ihrem Tod, selbst wenn ihr vieles in der Kirche im Lauf der Jahre nicht gefiel. Mein Vater ließ sich damals ebenfalls taufen. Warum ist mir nie wirklich klar geworden. Ich denke, dass er das aus einem Gefühl der Familieneinigkeit heraus tat. Ein überzeugter Mormone war er aber nie, im Gegenteil, er bezeichnete die Kirche meist als einen “komischen Verein“.
Ausgrenzung wegen Sektenzugehörigkeit – für ein Kind eine schwere Bürde
Mein Bruder und ich wuchsen ab diesem Zeitpunkt in der Mormonenkirche auf, was ich heute in sehr negativer Erinnerung habe. Irgendwie waren wir als Mormonen immer anders als die anderen Kinder, taten dies und jenes nicht und gingen Sonntag brav in die Kirche. Der schlechte Ruf der Mormonen war für mich als Kind aber eine sehr schwere Belastung, so dass ich meine Zugehörigkeit oft verschwieg. Die überschwängliche Begeisterung meiner Mutter wurde irgendwann wieder auf den Boden der Tatschen zurückgeholt, auch wenn sie den fanatischen Unsinn, der dort gelehrt wurde, auch weiter willig und mit Begeisterung aufnahm. Ich erinnere mich an die abstrusesten Gerüchte und Phantasien, die in meiner Jugend gelehrt wurden und die man uns gutgläubig rezitierte. Dazu zählte beispielsweise, dass irgendwann alle Mitglieder in die USA zielen würden. Dort würden bereits die Unterkünfte gebaut. Ebenso würde die Zeit kommen, wenn in Deutschland sich die Massen bei den Mormonen zur Taufe anstellen würden, da sie erkennen würden, dass dies die Wahrheit sei. Ohnehin stünde das Ende vor der Tür und bis 1970 würde die Kirche keine Missionare mehr in die Welt schicken. Nichts von alle dem war auch nur im Entferntesten wahr. Überhaupt rekrutierte sich die Mitgliedschaft der Mormonen überwiegend aus der weniger gebildeten Bevölkerungsschicht, die für solche Gerüchte und Märchen eher zugänglich ist. Die Leichtgläubigkeit gegenüber solch absurdem Unsinn macht mich noch heute betroffen. Der Glaube an goldene Platten und eine magische Brille findet dort den besten Boden. Im Übrigen zeichnete sich die Gemeinde in Karlsruhe zu dieser Zeit durch Uneinigkeit und unendliche Streitereien aus.Total begeistert war meine Mutter vom Tempel. Er blieb die Jahrzehnte bis zu ihrem Tod das Größte überhaupt für sie. Damals fuhr unsere gesamte Familie in die Schweiz nach Zollikofen. In irgendeinem Sinn war sie dort glücklich – oder sie glaubte dies zumindest. Ihr Hang zum übersinnlichen fand im Tempel seinen Höhepunkt – und dies über viele Jahre.
Nachdem sie ihr eigenes „Endowment“ erhalten hatte sah sie schon in der zweiten Sitzung die Tote für die sie die Tempelverordnungen durchführen sollte. Sie stand vorn am Schleier und verbeugte sich – dann verschwand sie wieder. Über die Jahre hinweg sah sie viele dieser Personen, für die sie die Arbeit im Tempel durchführte. Sie sprach sehr oft davon, dass dieser Ort ihr geistiges Zuhause sei und dass sie sich Gott dort am nächsten fühlte. Meine eigene Einschätzung des Tempels gebe ich später noch. Wie jemand so eine Zermonie über sich ergehen lassen kann – damals noch mit Androhung der Todesstrafe – ohne dabei irritiert zu sein, ja sich dabei sogar zu freuen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Aber wie gesagt: Die menschliche Psyche … Geprägt war unsere Jugend zu einem erheblichen Maß durch diese Kirche. Am meisten bewusst ist mir heute der Zwang, mit dem alles einherging – Zwang dort hinzugehen und mitzumachen – unabhängig davon ob wir das wollten. Und nach einigen Jahren wollten wir das nicht mehr. Im jugendlichen Alter war das ein besonders unangenehmer Teil unseres Lebens. Wir mussten am Sonntag zu den Gottesdiensten gehen und viele Aktivitäten mitmachen. Lust dazu hatten wir überhaupt keine. Als ich 14 Jahre alt war, weigerte ich mich schlicht weiter mitzumachen. Es gab einfach zu viele Dinge, die für einen Jugendlichen in diesem Alter interessanter sind. Da ich sehr gut in der Schule war, war mir auch das Lernen sehr wichtig. Zwischen meinem 14. und meinem 18. Jahr habe ich die Kirche nur selten von innen gesehen. Schon äußerlich passte ich da mit meinen langen Haaren nicht hin. Ich erinnere mich aber doch einige Male dort gewesen zu sein. So etwa im Seminar für Jugendliche, in dem schon seit frühester Zeit die ungeheuere Schwere sexueller Sünden eingetrichtert wurde. Heute sehe ich das als Methode, die Mitglieder schon von Jugend an abhängig zu machen. Überhaupt waren die Lehren und das Verhalten dort aus einer völlig anderen Welt, als ich sie sonst erlebte. Die Kluft empfand ich noch breiter, je mehr meine Schulzeit dem Ende entgegen ging. Da wohnten in der Tat zwei Seelen in meiner Brust.
Glaube: „Im Anfang war das Wort…“
Bis zu meinem 18. Lebensjahr hatte ich mit Religion eigentlich nicht viel im Sinn, zumindest nicht aus eigenem Interesse. Ich denke, um wirklich zu Gott bekehrt zu sein, muss er einem selbst anrühren. So geschah das dann auch mit mir. Ich erinnere mich daran, irgendwann einmal den Wunsch verspürt zu haben, die ‚Bibel selbständig in die Hand zu nehmen und darin zu lesen. Ich wohnte damals mit Freunden in einer Wohngemeinschaft. Das resultierte in meinen Glauben an Jesus als Erlöser, den ich heute noch habe. Mit der Mormonenkirche hatte das aber direkt gar nichts zu tun. Sie war nicht involviert. Irgendwie hatte ich den Wunsch mit Gleichgesinnten – Gläubigen – zusammen zu sein, und da ich es nicht besser wusste und kannte, ging ich in die Mormonenkirche. Schließlich war meine Familie da. Mein neuer Glaube hatte nachhaltige Folgen für mein gesamtes religiöses Leben bis heute. In der Mormonenkirche war er immer der Maßstab, an dem ich meinen persönlichen Handlungen ausrichtete. Ich fühlte immer, dass Jesus für mich der oberste Lehrer war und nicht irgendein irdischer Vertreter. Aus meiner heutigen Sicht war diese Orientierung auch der Grund meiner langsamen Entfernung vom Mormonismus und letztendlich der Grund für meinen Austritt. Eine Zeit lang fühlte ich mich ganz wohl in meiner neuen Rolle und war einfach mit Gott und mir sehr glücklich. Ich besuchte die Versammlungen, arbeitete aktiv in der Kirche mit und alles war in Ordnung. Allzu tiefe Gedanken über den Mormonismus machte ich mir damals auch nicht. Irgendwann hatte ich mich entschlossen, nachdem ich Abitur gemacht hatte, auf Mission zu gehen. Vielleicht wurde ich auch einer Erwartung meiner Familie gerecht. Sicher tat ich es selbst auch gerne – aber aus der Motivation heraus und dem Glauben – damit Gott zu dienen.
Im Tempel – Das Gefühl in der falschen Kirche zu sein
Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Tempelbesuch. Sicher tat ich alles aus dem Glauben heraus, alles sei Gottes Anordnung. Auch weckten die Äußerungen vieler Mitglieder, dort sei alles ganz wunderbar, hohe Erwartungen. Umso enttäuschender war das tatsächliche Erlebnis. Dieses fremdartige Ritual hatte mit dem was ich mir vorgestellt hatte gar nichts zu tun. Ich fühlte mich Gott dort überhaupt nicht nahe und vom Empfinden her hatte der Jesus, den ich erlebt hatte, mit diesem Ritual dort gar nichts zu tun. Der Tempelbesuch war in gewissem Sinne die erste Krise für mich in dieser Kirche. Mein Gefühl wurde Jahre später in einem Gespräch von einer Schwester einmal treffend so ausgedrückt: „Ich hatte das Gefühl, ich bin in der falschen Kirche“, so fasste sie es. Ich hatte so viele Fragen und niemand der Antworten geben konnte oder wollte. So oft wie möglich hingehen, dann wird man es schon verstehen. Aber wieso? Warum kann niemand meine Fragen beantworten, wenn es diese Antworten gibt? Warum dieses seltsame Ritual? Warum die Androhung der Todesstrafe? Die Bibel sagt „Gott ist die Liebe“, würde er so etwas tun? Was bedeutete diese seltsame Kleidung? Ich fühlte im Tempel nicht einen Gott der Liebe, sondern einen, der absolute Unterwerfung verlangt. Warum alles der Kirche weihen und nicht Gott? Das hätte für mich viel mehr Sinn gemacht. Braucht es zur Erlösung wirklich, Handgriffe und Zeichen und auswendig gelernte Sprüche? Nach meinem Endowment fragte mich eine ältere amerikanische Schwester mit einem aufgesetzten Lächeln „Wasn´t it wonderful?“ Nein, es war überhaupt nicht wundervoll, es war mir völlig fremdartig, eigentlich schrecklich, ich war völlig perplex. Ich fühlte mich mehr beunruhigt als sonst irgendetwas, ich hätte weglaufen und schreien können. Heute weiß ich, dass es vielen Mitgliedern bei ihrem ersten Tempelbesuch ähnlich ergeht. Dass niemand seine wirklichen Gefühle ausdrückt liegt am Konformitätszwang, der in der Mormonenkirche so stark ausgeprägt ist und der einen so viele Kröten schlucken lässt. Wenn alle, die man als gute Mitglieder kennt, diesen seltsamen Ritus mitmachen, wird es schon recht sein. Und vielleicht liegt es ja nur an mir – so denken sicher viele und so funktioniert denn auch das.
Akzeptieren dieses obskuren Rituals, das ich heute betrachte als eine Mischung aus Freimauererei und Okkultismus. Aufgrund meiner Nachforschungen weiß ich heute, dass viele Elemente des Tempelrituals mit okkulten oder gar satanischen Riten absolut ähnlich sind. (z.B. das Tragen einer Schürze, Gebetskreise, Belehrung in Form einer Darstellung, das Schwören von Eiden, Androhung von Strafe bei Verrat, ein bedeckter Altar etc.) Das Gleiche gilt für die Lehre, dass Menschen Götter werden können – es ist die zentrale Lehre des Satanismus seit jeher. Aber das wäre ein Thema für sich.
Anstrengend und gewöhnungsbedürftig: Die Mission
An den ersten Tag meiner Mission erinnere ich mich noch heute sehr gut. Meine Berufung lautete nach England – wohin ich mir gewünscht hatte zu gehen. Ich erinnere mich noch an die laute und unbequeme Wellblech-Propellermaschine von London nach Birmingham – es war abenteuerlich. Ich kam mir vor wie in einem Flugzeug im Weltkrieg. Sehr schnell stellte ich fest, dass mein Englisch aus der Schule doch nicht so weit reichte wie ich dachte. Was mir anfangs sehr schwer fiel, war der fast unmenschliche Drill, der vorherrschte. Die ersten Wochen dachte ich: „Das packst du nicht, hier hast du kein bisschen Recht oder auch nur Zeit für dich selbst“. Als ich ankam lief gerade eines dieser Programme, bei denen den Missionaren aufgedrückt wurde noch größere Opfer zu bringen und praktisch 12 Stunden am Tag draußen zu arbeiten. Ich erinnere mich an eine Woche bei der wir fast 70 Stunden an Türen geklopft hatten. Heute sehe ich das als eine Methode, aus den Missionaren alles rauszuholen, was rauszuholen ist ohne Rücksicht auf Verluste. Die Taufziele der Mission oder der Zone waren immer so hoch angesetzt, dass sie nie erreicht wurden. Irgendwann nach einigen Wochen fing mir meine Mission aber an zu gefallen. Ich kann sagen, dass ich trotz all des Druckes gerne Missionar war. Zweifellos habe ich in der Zeit eine Menge gelernt und mich erheblich weiterentwickelt. Das sehe ich heute noch als positiv. Was Arbeitsorganisation, Ziele, Disziplin und die Fähigkeiten im Umgang mit Menschen angeht, bin ich heute noch der Ansicht, dass mir die Mission sehr gut getan hat. Seltsamerweise kam ich auf Mission auch zum ersten Mal in Kontakt mit sogenannter „Anti-Literatur“. Ich glaube, es war uns verboten, solche Bücher zu lesen. Wir fanden „The Case against Mormonism“ von Jerald und Sandra Tanner in der Bücherei einer kleinen Stadt und liehen sie aus.
Das meiste habe ich wohl auch gelesen und zum ersten Mal erfahren, dass Joseph Smith seine Offenbarungen erheblich verändert hatte und dass das Buch Abraham als Übersetzung ägyptischer Papyri nicht haltbar war. Das hat mich sehr verwirrt und ich habe meinen Missionspräsidenten danach gefragt. Der mochte diese Fragen nicht besonders gerne und behauptete einfach, das Gegenteil. Die Übersetzungen würden stimmen und die Offenbarungen wären von Gott ganz gleich wie sie zustande gekommen seien. Irgendwie nahm ich das einfach so hin. Ich hätte wohl damals auch nicht das Wissen und den Mut besessen, ihm zu widersprechen oder gar meine Mission abzubrechen. Obwohl ich selbst gerne Missionar war, sah ich viele Missionare, die große Schwierigkeiten hatten. Einer meiner Mitarbeiter ging nach Hause – Mission war einfach nicht sein Ding. Dabei war er ein humorvoller und netter Mensch, ich mochte ihn sehr. Wie unvorstellbar schwierig es ist, vorzeitig von Mission nach Hause zu gehen, weiß keiner, der das nicht erlebt hat. Dreimal packte er alle seine Sachen und fuhr zum Missionsbüro. Jedes Mal schickte ihn der Missionspräsident wieder zurück. Er musste mit seinen Eltern, seinem Bischof, seinem Pfahlpräsidenten und einer Generalautorität reden. Und erst nachdem er allen Überredungsversuchen zu bleiben gegenüber standhaft blieb, konnte er gehen. Eigentlich ein Verstoß gegen das grundlegende Menschenrecht der Selbstbestimmung. Aber Diktaturen kennen eben keine Menschenrechte.
Der wahnsinnige Druck und das übergroße Interesse an Zahlen hat mich sehr genervt. Streckenweise mussten wir jeden Abend bei unserem Zonenleiter anrufen und Zahlen berichten. Solche Dinge habe ich gehasst.
Studium und erste ernste Ungereimtheiten
Nach meiner Mission wurde ich sofort zum Präsidenten des Ältestenkollegiums in Karlsruhe berufen. Da ich kurz danach aber um zu studieren nach Heidelberg zog, trat ich das Amt nie an.
Dafür wurde ich dann in meiner neuen Gemeinde zum gleichen Amt berufen. Die ersten drei Jahre meines Studiums war ich ein glaubenstreues und handbuchgerechtes Mitglied. Irgendwann wurde ich zum Gemeindemissionsleiter berufen und später zum Hohen Rat. Das ging alles immer mit der Überzeugung einher, dass die Kirche wahr ist und ihre Lehren göttlichen Ursprunges sind. Bis dato hat mir die Arbeit in der Kirche auch Freude gemacht, zumindest überwiegend. Eine Erfahrung ganz besonderer Art war die Einladung des Theologischen Seminars der Uni Heidelberg an die Mormonen ihre Lehren in einer ihrer Lehrveranstaltungen vorzutragen und einer Gruppe von ca. 60 Studenten gegenüber zu verteidigen. Neben zwei Pfahlpräsidenten nahmen fünf Studenten teil, ich war einer davon. Viele Mitglieder können wohl nachempfinden, wie unwohl man sich bei solchen Gelegenheiten fühlt. Heute denke ich, dass ich immer wohl auch im tiefsten Inneren einen erheblichen Zweifel an der „Wahrheit“ der Mormonen hatte, und denke, dass das bei den meisten Mitgliedern genauso ist – trotz der ständigen Zeugnisgeberei. Denn wer sich seiner Sache absolut sicher ist, braucht nichts zu fürchten. Das Unwohlsein war allen Teilnehmern der Gruppe anzumerken. Mein damaliger Pfahlpräsident sah dies als eine gute Möglichkeit an zu missionieren. Wie ich damals schon vermutete, eine völlige Fehleinschätzung der Situation. Und obwohl keine wirklich scharfen Attacken gefahren wurden – wir wurden nur nach den Lehren befragt – war ganz klar zu erkennen, welchem Zweck die Veranstaltung diente. Wir wurden vorgeführt als eine obskure Sekte, die irgendwelche seltsamen Märchen glaubte und mit Christentum nichts zu tun hatte. Die Veranstaltung hatte, was keiner von uns vorher wusste, den Titel „Sektenkunde“. Mein Pfahlpräsident war – ich kann es nicht anders sagen – ein Buch-Mormon-Fanatiker und hat das Buch auch entsprechend in der Veranstaltung angepriesen. Heute schäme ich mich, bei so etwas dabei gewesen zu sein und mich für diesen Unsinn hergegeben zu haben, oder eben auch dafür missbraucht worden zu sein. Schon direkt nach der Veranstaltung kam ich zu dem Schluss, so etwas nie wieder mitzumachen.
Im Laufe der Zeit kamen mir immer mehr Punkte, an denen ich Zweifel am christlichen Charakter der Kirche hegte. So war ich in meiner Studienzeit in einer Gruppe aktiv, die sich um Obdachlose kümmerte. Eine Reihe christlicher Gemeinden hatte ein Obdachlosenfrühstück eingerichtet, das wöchentlich in unterschiedlichen Gemeindehäusern stattfand. Ich regte in unserem Gemeinderat an, dass wir uns beteiligen. Nach einiger Überlegung wurde der Vorschlag abgelehnt. Begründung: Die Obdachlosen könnten Alkohol mit ins Gemeindehaus bringen. Wie sagte doch Jesus: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt…“ Später fiel mir an vielen Stellen auf, dass die Regeln und Interessen der Organisation praktisch immer wichtiger sind, als die Menschen und dass die Menschen für die Kirche da zu sein haben, nicht die Kirche für die Menschen. Und das steht absolut im Gegensatz zu dem, was Jesus gelehrt und getan hat.
„Mit derartigen Fragen fühlt man sich in der Kirche einfach absolut alleine“
Im Laufe meines Germanistik-Studiums lernte ich irgendwann, wie Texte vor der Erfindung des Buchdruckes handschriftlich überliefert wurden, welche Fehler dabei auftraten und wie man nach den Methoden der heutigen Textkritik die ursprünglichen Texte zu rekonstruieren versucht. Als ich diese Erkenntnisse auf den Jesaja-Text im Buch Mormon anwandte, stieß ich zum ersten Mal durch eigene Nachforschungen auf ein Problem, das die Authentizität des Buches Mormon in Frage stellt. Obwohl das in der Kürze nicht ganz leicht zu erklären ist, versuche ich es hier dennoch: Generell ist bei handgeschriebenen Texten – was alle Texte bis ins 15. Jhd. waren – eine Kopie dem Original umso ähnlicher, je älter sie ist. Je mehr Abschriften von Abschriften, desto mehr Fehler treten auf – verständlicherweise. Nun lebte Jesaja ca. 700 v. Chr., unsere älteste Kopie dieses Buches stammte für lange Zeit aus dem 10. Jhd. n. Chr. Da Lehi Jerusalem 600 v. Chr. verlies, musste sein Jesaja-Text auf dem Messingplatten der orginalgetreueste sein, vermutlich hat damals das Original sogar noch existiert. Das könnte erklären, wie die vielen Veränderungen im Jesaja des BM gegenüber der Bibel zustande kamen: der Text wurde in über eineinhalb Jahrtausenden so stark abgeändert, dass vieles einen völlig anderen Sinn erhielt. Soweit so gut. Die Sache wird aber problematisch, wenn man nun die Schriftrollen vom Toten Meer in Betracht zieht. Die nämlich enthielten eine vollständige Jesaja-Rolle – datiert auf das 1. Jhd. v. Chr. Nach allen Regeln der Textüberlieferung müsste dieser Text vom Toten Meer am meisten mit dem Text des BM übereinstimmen. Tut er aber nicht – ganz im Gegenteil. Von den vielen Änderungen im BM gegenüber der Bibel enthält der Jesaja-Text vom Qumran nicht eine einzige! Dagegen stimmen Bibel-Jesaja und Tote-Meer-Jesaja zu 99,9 Prozent überein. Und was das Ganze noch problematischer macht: An einigen wenigen Stellen konnte der Text der Bibel durch die Jesaja-Rolle vom Toten Meer verbessert werden – eben Überlieferungsfehler. Diese Fehler wiederum sind im BM alle vorhanden – ausnahmslos. Aufgrund dieser Fakten drängen sich einige schwerwiegende Fragen auf:
- Woher hat Joseph Smith die vielen Änderungen des Jesaja Textes im BM, zumal
diese in keiner anderen überlieferten Quelle mit auch nur einem Wort zu finden sind? - Wenn die Änderungen von Gott offenbart sein sollen, warum hat Gott dann nicht die
darin enthaltenen überlieferten Fehler korrigiert und den ursprünglich an Jesaja
offenbarten Text korrekt wieder hergestellt? - Für wie glaubwürdig kann überhaupt ein angeblich antiker Text gelten, für den es
keinerlei einsehbare Quelle gibt?
Was bedeutet das nun? Einzig mögliche Konsequenz nach den Erkenntnissen der Literaturwissenschaft: Joseph Smith hat seinen Jesaja Text im BM nicht von antiken Platten übersetzt, sondern einfach aus der Bibel abgeschrieben (mit allen Überlieferungsfehlern, die zwischen dem 1. Jhd. v. Chr. und dem 9. Jhd. n.Chr. entstanden waren) und nach eigenem Ermessen selbst verändert. Keine andere Erklärung ist nach den Regeln der Literaturüberlieferung möglich. Da sich in der Kirche natürlich niemand mit solchen Fragen auskennt, habe ich auch niemanden gefunden, der auch nur das Problem verstanden hätte – geschweige denn eine plausible Antwort wusste. Mit derartigen Fragen fühlt man sich in der Kirche einfach absolut alleine. Und wenn man fragt, wird einem das Gefühl vermittelt, man täte etwas Unrechtes, und es wäre gefährlich und sündig, die Heiligen Schriften oder Joseph Smith in Frage zu stellen.
Mein Pfahlpräsident wird laut
Immanuel Kant hat einmal geschrieben „Eine Religion, die der Vernunft den Krieg erklärt, wird diesen Krieg auf lange Sicht immer verlieren“ (Zitat frei). Wie recht er doch hat. Zweifel, der einmal aufgekommen ist, verschwindet nicht einfach wieder – er verlangt nach plausiblen Erklärungen. Und wo die fehlen, geht der Glaube an das betreffende System verloren. Ich war skeptisch geworden. Die Entdeckung des Jesaja-Problems war für mich Anlass, einmal gründlicher nachzuforschen, wie es um die übrigen Behauptungen der Mormonenkirche aussieht. Ich bestellte mir drei Bücher aus den USA: „Mormonism – Shadow or Reality“ von den Tanners, David Witmers „An Adress to all believers in Christ“ und das „Book of Commandments“ von 1833. In letzterem konnte ich mich selbst vergewissern, dass Joseph Smith´s Offenbarungen erheblich verändert worden waren. Ich war offen gesagt schockiert. Ich las David Whitmers Buch. Er beschreibt die Kirche und ihre Lehren als Konstruktion Joseph Smiths und Sidney Rigdons und behandelt die vielen Veränderungen, die stattfanden. Ich war fassungslos.
Den letzten Rest von Zeugnis zerstörte schließlich das Buch der Tanners. Es behandelt den Mormonismus sehr umfassend und ist sehr gut recherchiert. Daraus wurde mir klar, dass keine der Heiligen Schriften Joseph Smiths bei genauerem Hinsehen haltbar ist. Das Buch Abraham ist eine offensichtliche Fälschung. Ich erfuhr, dass Joseph Smith Schatzsucher war, hochverschuldet aus Kirtland floh, mehrfach von Gerichten verurteilt wurde, mit glücklich verheirateten Frauen seine polygamen Ehen schloss und, und, und… Ich erinnere mich noch gut an den Eindruck, der mich damals beschlich: Es war die Frage: „Gibt es denn überhaupt etwas, das gelehrt oder behauptet wird und auch stimmt?“ Langsam wurde mir klar, dass ich über Jahrzehnte und von Grund auf belogen wurde. Und es ging mir, wie es wohl jedem in dieser Situation geht: ich wollte das alles gar nicht glauben: „Bitte sagt mir jemand, dass das alles nicht wahr ist“, hatte ich mir damals gewünscht. Aber ich las weiter. Ich las über die vielen Vergehen, denen sich Joseph Smith schuldig gemacht hatte und musste feststellen, dass er gar nicht der großartige Prophet war, der den Mitgliedern immer vorgehalten wird. Das Gleiche galt für Brigham Young und andere frühe Kirchenführer. Mein Gefühl war eines aus Schmerz, Traurigkeit und Verärgerung. Ich fühlte mich von Grund auf belogen, hintergangen, betrogen, und ausgenutzt. Die Organisation, der ich am meisten vertraut hatte, hat mich am schwersten hintergangen. Diese Erkenntnis hat sehr weh getan. Es war, als hätte ich herausgefunden, dass meine Frau mich vom ersten Tag unserer Ehe an betrogen hat, obwohl ich sie von ganzem Herzen geliebt habe und sie mir oft erklärte, dass sie mich liebt. Und jetzt muss ich herausfinden, dass sie mich einfach kaltblütig belogen hat. Die intellektuelle Erkenntnis ist eine Sache, die emotionale und psychische Verarbeitung dieser Sache eine ganz andere. Es hat Monate gedauert, bis ich das akzeptieren konnte. Einige Zeit nach diesem Studium bat ich um ein Gespräch mit meinem Pfahlpräsidenten, dem Buch-Mormon-Fanatiker. Es hatte einen gelinde gesagt überraschenden Verlauf. Sobald ich Ihn mit meinen Erkenntnissen zum Buch Abraham und Buch Mormon konfrontierte, wurde er ungehalten und laut, er schrie mich an, was mir einfiele den Propheten Joseph Smith, das Buch Mormon und die Kirche zu denunzieren. Er warf mir vor, ich hätte übertreten und das wäre der Grund für meinen „verwirrten geistigen Zustand“. Eine sachliche Auseinandersetzung mit meinen Fragen oder gar Antworten darauf hatte er nicht. Die Konsequenz aus diesem Gespräch war meine Entlassung als Hoher Rat. Wer von der Wahrheit der Kirche nicht mehr überzeugt ist, der fühlt sich auch nicht mehr an die Regeln gebunden. So ging es mir auch. Irgendwann später hatte mein Pfahlpräsident ein Disziplinarverfahren gegen mich einberufen, da ich begonnen hatte mit meiner Freundin zusammen zu leben. Ich erinnere mich, irgendwann in dieser Zeit eine Austrittserklärung geschrieben zu haben – abgeschickt habe ich sie aber nie. Heute denke ich, dass die innere Trennung vom Mormonismus doch noch einige Jahre benötigt hat.
Die letzte Runde
Seit dieser Zeit war meine Einstellung zur Kirche niemals wieder auch nur annähernd so wie zuvor. Ich verspürte eine große Distanz zur Kirche auch wenn ich noch Mitglied war. Ich war viel kritischer und aufmerksamer und sah die Kirche mit allen Aspekten, die sie hatte – die meisten nicht besonders gut. Warum bin ich überhaupt noch in der Kirche geblieben? Nach langer Überlegung meiner letzten Erfahrungen in Heidelberg, kam ich zu dem Schluss, dass mein Glaube an die Wahrheit der Mormonenkirche zwar ausgelöscht war, dennoch war mein Glaube an die Bibel und die dort enthaltenen Lehren noch vorhanden. Ich sagte mir, dass keine Kirche perfekt ist und dass in hier genauso meinen Glauben leben könne, wie in jeder anderen Kirche. Und dazu hatte ich viele Freunde in der Kirche und meine Familie war ebenfalls noch dort. In den 90er Jahren zog ich dann für eine neue Arbeitsstelle von Heidelberg nach Düsseldorf.
Die Gemeinde ist viel größer als sie in Heidelberg war und auch das Bildungsniveau ist höher. Das hat mich damals sicherlich angesprochen. Die nächsten Jahre waren von einer erheblichen Distanz geprägt, obwohl ich in meiner neuen Gemeinde nur selten meine Erkenntnisse auch nur angedeutet habe. Mit Freunden, die selbst kritisch dachten, wagte ich es offener zu reden, als mit den übrigen Mitgliedern. Rund ein halbes Jahr nach meiner Ankunft in Düsseldorf wurde ich zum Lehrer der Evangeliumslehreklasse in der Sonntagschule berufen. Einige Zeit musste ich für mich durchdenken, ob dies überhaupt für mich noch machbar wäre. Mir der Tatsache bewusst, dass ich als Lehrer bestimmen konnte, was ich lehre, nahm ich an. Und für mich war klar, nur das zu lehren, was mit meinem Glauben an die Bibel übereinstimmen würde. Meine ganze Lehrtätigkeit war für mormonische Verhältniisse ein Unikum. In den vier Jahren meiner Berufung ist niemals jemandem aufgefallen, dass ich alle mormonenspezifischen Lehren ausgelassen habe. Ich habe ganze Themen ausgelassen, neu eingefügt oder umstrukturiert, bis sie meinen Überzeugungen entsprachen. Mein Ziel war es einfache, christliche Lehren zu verbreiten und ich hörte im Laufe der Zeit viel positive Resonanz. Vielleicht tat es den Mitgliedern ja auch gut, eine Zeit nicht den mormonischen Abklatsch, sondern das echte Evangelium zu hören. Ich denke, irgendwo hatte ich dort eine Aufgabe zu erledigen. „Anti-Literatur“ las ich in dieser Zeit kaum. Die ganzen Erkenntnisse gerieten im Lauf der Zeit irgendwie in den Hintergrund – aber auf eine andere Weise waren sie auch immer da. Man kann diese Erkenntnisse nicht einfach wegschieben. Im Laufe der Jahre sammelte sich eine Menge an Erfahrungen und Erkenntnissen, die mir klar machten, dass meine Motivation zum Verbleib – als Christ in dieser Kirche zu leben und den Rest zu ignorieren – doch schwieriger war, als zuerst gedacht. Ich stellte so viele unchristliche Verhaltensweisen, Dogmen und Lehren fest, dass es mir immer schwerer fiel, mich mit meinem Glauben und meiner Einstellung mit der Mormonenkirche zur arrangieren. Es wurde mir immer mehr bewusst, dass die Kirche, das Buch Mormon, Joseph Smith und der lebende Prophet eine Rolle bei den Mormonen beanspruchen, die nach meinem Verständnis nur Gott selbst haben darf. Die Ablehnung des Kreuzes, das Wasserabendmahl und die feindliche Einstellung gegenüber allen Andersgläubigen, machten es mir zunehmend schwerer dort zu verbleiben.
Wer nichts mehr leistet, ist nicht mehr gefragt
Fanatismus, Sektierertum, Engstirnigkeit, Elitedenken, Geheimnisse und der Anspruch allein die Wahrheit zu besitzen, stehen meinem Denken sowie meinem Verständnis von christlichem Leben diametral entgegen. Es wurde mir immer klarer, dass das, was im Neuen Testament gelehrt wird und das, was die Mormonenkriche lehrt, absolut nicht zusammenpasst, auch wenn dies immer behauptet wird. Hinzu kam die Erfahrung, dass Menschen in dieser Kirche nichts gelten, die Bedürfnisse der Organisation stehen über allem. Als meine Mutter älter wurde und damit hilfsbedürftiger, musste ich frustriert feststellen, dass ihr von der Kirche keinerlei Hilfe zuteil wurde – auch nicht in der geringsten Weise. Alle zwei bis drei Monate kamen die Heimlehrer und redeten mit ihr, halfen ihr aber nicht auch nur einen Löffel wegzuräumen. Das hat mich besonders deshalb enttäuscht, weil sie über vier Jahrzehnte praktisch alle Kraft und Zeit in diese Kirche gesteckt hatte, unendlich viele Stunden in der genealogischen Bibliothek – ganz abgesehen von dem vielen Geld. Vor vielen Jahren schon erklärte mir ein frustrierte Schwester einmal: „Wer in der Kirche nichts mehr leisten kann, ist nicht mehr gefragt“. Diese bittere Erkenntnis musste ich jetzt auch bei meiner Mutter bestätigen. Die FHV-Leiterin der Gemeinde sagte mir einmal, niemand hätte Zeit irgendetwas für meine Mutter zu tun. Wie auch, bei den vielen Stunden, die die Mitglieder in der oder für die Kirche zubringen. Da bleibt nichts mehr für Bedürftige. An den Früchten erkennt man den Baum. Vor einiger Zeit bekam ich mit, wie eine alte alleinstehende Schwester in Düsseldorf hilfsbedürftig wurde. Für finanzielle Hilfe – so der Usus – sieht der Bischof zuerst in seinem Zehntenberichtsbuch nach, ob der- oder diejenige den Zehnten zahlt. Ist dies nicht der Fall, gibt es auch keine Hilfe. Als ich nachfragte, was für die Schwester getan würde, erhielt ich die Auskunft, für Zahlungen habe die Kirche kein Geld, der Schwester würde aber geholfen, einen Sozialhilfeantrag zu stellen. Das Geld wurde wohl gerade für das neue Konferenzcenter in Salt Lake City gebraucht, das 1,4 Mrd. Dollar kostete. Für die Selbstdarstellung ist eben kein Betrag zu hoch. Daraufhin hatte ich einmal überschlagen, dass die Schwester, hätte sie ihren Zehnten über vier Jahrzehnte angespart, jetzt ein gutes Polster zum Leben gehabt hätte. So blieb ihr nur der Weg zum Sozialamt. Soviel zum Segen für das Zehntenzahlen. Nach außen stellt sich die Kirche immer in einem besonders guten Licht da und prahlt gerne mit Zahlen, Statistiken und ihren Leistungen. Wer diese Kirche aber kennt, der weiß, dass das eine Fassade ist, hinter der es ganz anders aussieht. Keines der wichtigen Programme, funktioniert wirklich gut, die meisten Programme können nur mit Mühe überhaupt am Leben gehalten werden. Das Heim- und Besuchslehrprogramm habe ich nirgendwo so erlebt, dass dies als gut bezeichnet werden konnte. Das Mitglieder-Missions-Programm funktioniert praktisch gar nicht, die Mormonen teilen ihren Glauben nicht gerne mit anderen. Tempelbesuche liegen weit hinter den Vorgaben zurück, überhaupt ist die Motivation, irgendetwas zu tun sehr gering. Nur durch Berufung oder auf Geheiß werden die Mitglieder aktiv. Das ist im Übrigen ein typisches Phänomen in strikt hierarchischen Organisationen. Ohne Anordnung von „oben“ geschieht gar nichts. Der Eindruck einer lebendigen, aktiven und engagierten Kirche ist falsch, das Gegenteil ist der Fall.
Ernüchterung und kein Ende
Im Laufe der Zeit sorgten solche und viele andere Erlebnisse für eine immer tiefere Kluft zwischen mir und der „einzig wahren Kirche“. Irgendwann stellte ich fest, dass es mir Unzufriedenheit und Frust beschert dorthin zu gehen. Ich war regelrecht unglücklich. Mir kam zu Bewusstsein, dass ich ganze Sonntage nichts über Jesus Christus dort gehört hatte, dafür umso mehr über Joseph Smith, das Buch Mormon und wie großartig diese Kirche doch sei. Oft hatte ich ein Gefühl innerer Leere, und die Erkenntnis, dass ich das, was ich brauchte und wollte, dort nicht bekam. Die Idee, in der Mormonenkirche als Christ zu leben, schien nicht aufzugehen. Was mich immer noch hielt, waren einige Freunde, die ich schätzte und gerne traf. Meiner Frau ging es ebenso. Als ich Sie kennenlernte, war sie kein Mitglied, lies sich aber taufen. In den Tempel zu gehen, lehnte Sie jedoch rundweg ab. Im Frühjahr 2002 war meine aktive Mitgliedschaft dann zu Ende. Ich besuchte die Kirche seit dieser Zeit nur noch sehr selten und fühlte mich immer fremder mit dem, was dort geschah. Klar war mir, das war nicht meine spirituelle Heimat. Der letztendliche Anstoß zur Inaktivität kam aber durch ein neues Buch. Es war Michael D. Quinns „Early Mormonism and the Magic World View“, auf das ich 2001 im Internet gestoßen war. Ich bestellte mir das Buch las es regelrecht begierig durch. Schon als ich die Ankündigung im Internet las, es handelt über die magischen und okkulten Wurzeln der Joseph Smith Familie, war mir klar, dass dies der letztendliche Tropfen sein könnte, der das Fass zum überlaufen – sprich mich zum Austritt bringen kann. Denn: Wäre Joseph Smith wirklich Magier und Zauberer gewesen, so würde sich dies in keiner Weise mit meinem christlichen Glauben vereinbaren lassen, im Gegenteil, die Bibel spricht sich strickt gegen solche Praktiken aus.
Ich las den größten Teil dieses 600-Seiten Buches und schon sehr bald war mir klar, dass
die beschriebenen Praktiken mein vollständiger Bruch mit der Mormonenkirche bedeutete.
Michael Quinn – ein ehemaliger BYU-Professor – hat seine Bücher sehr sorgfältig und
aufwändig recherchiert, so dass wenig Raum für andersartige Interpretationen bleibt.
Aus dem Buch wurden mir erschreckende neue Erkenntnisse vor Augen klar: Joseph Smith und seine ganze Familie waren tief in Volksmagie, Zauberei und den okkulten Gebräuchen verwurzelt und vielen, was in die Lehren und Praktiken der Mormonenkirche überging, stammt aus diesen Wurzeln. Er zeigt eine Reihe von Gegenständen, Astrologische Karten, JS´s magischen Talisman, Sehersteine, einen Dolch für rituelle Opfer etc, die er vor allen Dingen bei seinen Aktivitäten als Schatzsucher und auch als Prophet gebraucht hat. Weiter haben zahlreiche Zeugen berichtet, das JS Geister angerufen hat und ihnen Opfer darbrachte. Ein regelrechter Schock war es, zu lesen, dass Lehren wie die Lehre von den drei Herrlichkeiten, der Vielzahl von Göttern im Himmel, dass Menschen Götter werden können, dass Gott ein Mensch war oder der drei Grade im Himmel schon zum Teil Jahrhunderte vorher in okkulten Schriften aufgeschrieben waren. Als ich dann noch herausfand, dass Joseph Smith im Nauvoo-Tempel zahlreiche okkulte Symbole verwendet hat – darunter eine Reihe inverser Pentagramme, das seit Jahrhunderten als das Symbol für Satan gilt – war für mich endgültig Schluss. Mit so einer Organisation wollte ich keinerlei Verbindung mehr unterhalten.
Ahnungslose und hilflose Priestertumsführer – mein Austritt
In den folgenden Monaten las ich noch einmal alles, was ich an Neuem in die Finger bekommen konnte. Besonders interessierte mich, was Joseph Smith für ein Mensch war, was er so alles im Geheimen getan hat und was die Kirche den Mitgliedern verschweigt. Am hilfreichsten dabei waren die Bücher „No man knows my History“ von Fawn Brodie und „Mormon Portraits – Joseph Smith, his Familiy and his friends“ von W. Whyl. Letzteres beinhaltet zahlreiche Aussagen von Zeitzeugen, bis hin zu seinem Ratgeber William Law. Es berichtet über zahlreiche kriminellen Handlungen, die der „Prophet“ begangen oder in Auftrag gegeben hat sowie über seine zahllosen Betrügereien und viele andere seiner geheimen Aktivitäten. Wie er seine zahlreichen polygamen Beziehungen geheim hielt – oder dies versuchte – und wie er alle Spuren zu vertuschen meinte. Insgesamt las ich ungefähr 30 Bücher und zahllose Artikel.
Damit wusste ich genug und es war genug. Dann lud ich den Bischof zu mir ein. Ich wollte mich nicht so einfach so aus der Kirche davonschleichen, das ist weder meine Art, und gerade hier hielt ich das für besonders unangebracht. Er sollte offen und klar erfahren, was Sache ist – ist schließlich sein Job. Ich wollte, dass er zu mir kommt – Heimspiele bieten immer einen Vorteil gegenüber Auswärtsspielen. Ich wollte nicht in seinem Büro sitzen, sondern er in meinem! Nach fast einem Jahr Inaktivität waren auch die Nachfragen wo ich den bliebe und warum ich nicht mehr käme immer drängender geworden. Er kam dann am Abend des am 18. Oktober 2002 in mein Büro – dort sollten wir Ruhe haben um ein ausführliches Gespräch zu führen. Hier legte ich ihm die wichtigsten Gründe, warum ich nicht mehr zur Kirche kam, sachlich und ausführlich dar und zeigte ihm die Beweise. Es war mir wichtig, dass er weiß, wie es um die Kirche, für die er arbeitet, steht. Für jemanden, der auf diesem Gebiet unbedarft ist – und das wer er bis zu unserem Gespräch soweit ich sehen konnte völlig – ist das natürlich ein Schock. So war es auch für ihn und es war deutlich zu spüren. Er redete auch sehr wenig, kannte keines der angesprochenen Probleme und wusste natürlich auch keine Antwort. Er riet mir meine Fragen an die Kirchenführung zu schreiben. Da ich das Interview von Steve Benson mit den Aposteln Maxwell und Oaks zu den wichtigen Problemen der Kirche kannte, war das keine wirkliche Hilfe. Das Gespräch dauerte zweieinhalb Stunden in denen überwiegend ich geredet hatte. Und irgendwann am Schluss kam sein ernüchterndes Resumee: „Wenn das so ist, müssten Sie eigentlich austreten“. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht über Austritt gesprochen, aber der Rat dieses Priestertumsführers war absolut folgerichtig. Ungefähr zur gleichen Zeit versuchten mehrere andere Mitglieder, mich in Gesprächen davon zu überzeugen, dass ich in der Kirche bleiben solle. „Man muss ja nicht gleich austreten“, meinte ein Bruder, der weithin bekannt und respektiert ist und der erstaunlich viele der Probleme kannte.
Man hätte an den Fragen arbeiten können um Antworten zu finden und manches müsse man einfach auf ein Regal stellen und warten bis neue Erkenntnisse vorlägen. Mir erschien das wie spirituelles Roulette. Außerdem sah ich in den Antworten keine Holschuld meinerseits, sondern eine Bringschuld der Kirche. Und die hatte keinerlei befriedigende Antworten parat, auch nicht, wo ich danach gesucht und gefragt hatte. Die Rechtfertigsungsversuche von Hugh Nibley, FARMS und ähnlichen Einrichtungen oder Personen bieten nur wenig wissenschaftlich Substanzielles zu den gravierenden Problemen und überzeugen einen denkenden Menschen in keiner Weise. Fünf Tage später, am 23. Oktober 2002 erklärte ich meinen Austritt aus der Mormonenkirche. Ende November erhielt ich die Bestätigung dort nicht mehr Mitglied zu sein. Irgendwelche Schwierigkeiten gab es dabei nicht. Allerdings hatte ich für den Fall, dass ein Disziplinarverfahren gegen mich angesetzt würde, mit einer Klage wegen Verleumdung und übler Nachrede gedroht. Ich hätte keinen Moment gezögert, sie auch tatsächlich einzureichen. Einige Mitglieder haben mich vor oder nach meinem Austritt gefragt, warum ich nicht mehr zur Kirche komme. Betroffen war ich in diesen Gesprächen aber nicht so sehr davon, dass die Mitglieder nichts über die wahren Hintergründe der Mormonenkirche wissen, sondern dass die meisten dies auch offensichtlich gar nicht wissen wollen. Eine Schwester, mit deren Familie wir uns über Jahre gut verstanden haben, meinte: „Sag mir die Details lieber nicht, ich will es gar nicht wissen“. Einer der Ratgeber, die meine Austrittsbestätigung mit unterschrieben hatten – er war ein guter Freund über Jahre gewesen – erklärte mir auf meine Nachfrage, dass er meine Austrittserklärung, in der ich die wichtigsten Punkte meiner Austrittsentscheidung noch einmal dargelegt hatte, gar nicht gelesen hat.„Nur den Anfang und den Schluss habe ich gelesen, den Rest wollte ich mir nicht ansehen“, sagte er.
David Whitmer, einer der drei Zeugen des Buches Mormon, schrieb in seinem Buch „An Adress to all Believers in Christ“ viele Jahre nach seiner Trennung von der Mormonenkirche:
„Niemand ist so blind wie diejenigen, die nicht sehen wollen“.
Er hat absolut Recht.